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Wladimir I. Lenin 19050703 Ein dritter Schritt rückwärts

Wladimir I. Lenin: Ein dritter Schritt rückwärts

[Proletarij" Nr. 6, 20. Juni/3. Juli 1905. Nach Sämtliche Werke, Band 7, 1929, S. 499-510]

Aus den Resolutionen des III. Parteitages der SDAPR ist allen Genossen bekannt, welche prinzipielle und organisatorische Stellung wir zu der sogenannten Minderheit oder zu den Anhängern der neuen „Iskra" einzunehmen haben. Der III. Parteitag hielt, unter Betonung der Notwendigkeit eines ideologischen Kampfes gegen die Überbleibsel des „Ökonomismus", die Zugehörigkeit von Anhängern der Minderheit zu den Parteiorganisationen für möglich, unter der Bedingung, dass sie die Parteitage anerkennen und sich der Parteidisziplin fügen. Wo diese Voraussetzung nicht vorhanden ist, sind alle Gruppen der „Minderheit" als außerhalb der Partei stehend zu betrachten, wobei praktische Vereinbarungen mit ihnen, nach dem Ermessen des ZK und der lokalen Komitees selbstverständlich zulässig sind, auf denselben Grundlagen, wie Vereinbarungen mit dem „Bund" usw.

Gegenwärtig können wir den Genossen nur einige Mitteilungen über den ausländischen Teil der von der Partei abgespaltenen Minderheit machen. Das ZK sandte sofort nach dem Parteitag Briefe sowohl an die „Liga" als auch an die Leiter der Technik und der Parteikasse, in denen jene gebeten wurden, sich über ihre Stellung zum III. Parteitag zu äußern, und diese, das Parteivermögen dem ZK zu übergeben. Auf keinen dieser Briefe erfolgte eine Antwort. Die Anhänger der neuen „Iskra" möchten gern im Namen der Gesamtpartei die Parteidruckerei und das Lager benutzen, Geld von der deutschen Sozialdemokratie und überhaupt vom Auslande bekommen, aber der Partei Rechenschaft über die Verwendung des Parteivermögens und über die Verausgabung der Parteigelder geben, das wollten sie nicht. Ein solches Verhalten zu kommentieren halten wir für überflüssig.

In dem Artikel über den III. Parteitag („Proletarij" Nr. 1) haben wir den Wunsch ausgesprochen, dass der abgespaltene Teil der Partei sich wenigstens bald so geschlossen als möglich für sich organisieren möge: dann wären einzelne Vereinbarungen leichter zu bewerkstelligen und der Weg zur künftigen Einheit klarer. Leider erweist sich auch dieser Wunsch als fast unerfüllbar. Die Resolutionen der „Konferenz" der Minderheit sind jetzt veröffentlicht (siehe die äußerst interessante Broschüre: „Die erste allrussische Konferenz der Parteifunktionäre", Sonderbeilage zu Nr. 100 der „Iskra", sowie Nr. 100 der „Iskra"). Wir empfehlen dringend allen Parteiorganisationen, sich diese Broschüre näher anzusehen, denn besseres Material zum ideologischen Kampf gegen den abgespaltenen Teil der Partei könnten wir uns gar nicht vorstellen. Diese Resolutionen offenbaren die völlige Unfähigkeit der Minderheit, selbst ihre eigenen Anhänger zu organisieren. Sie konnten nicht einmal ihre eigene Konferenz einberufen; ihre Konferenz haben wir, das Büro der Komitees der Mehrheit und das ZK, durch das Ausschreiben des III. Parteitages einberufen. Die Delegierten der Organisationen der Minderheit reisten im Auftrage ihrer Organisationen zum Parteitag und gerieten auf die Konferenz! Die Konferenz beschloss, die Beschlüsse des III. Parteitages nicht anzuerkennen – und das vom II. Parteitag angenommene Parteistatut außer Kraft zu setzen! Die Konferenz konnte sich nicht als Parteitag konstituieren – ihre Beschlüsse sind Beschlüsse einer beratenden Versammlung, die von jeder einzelnen Organisation bestätigt werden müssen. Eine vollständige Liste der Konferenzteilnehmer fehlt, Protokolle sind ebenfalls keine vorhanden. Die Organisationen der Minderheit können also nur auf die Frage, ob sie diese oder jene Resolution anerkennen, mit ja oder nein antworten. Auf diese Weise werden die beschließenden Stimmen abgegeben, ohne dass es möglich ist, die Texte der Resolutionen zu ändern, und ohne dass die Abstimmenden den ganzen Verlauf der Debatten über die Resolutionen vor Augen haben. Wie diese beschließenden Stimmen, die unter Umständen den einen Teil einer Resolution bestätigen und den anderen Teil ablehnen können, zusammengezählt werden sollen, Allah mag's wissen. Wir haben es hier mit dem Prinzip der bonapartistischen Plebiszite zu tun, im Gegensatz zu dem in der internationalen Sozialdemokratie allgemein üblichen Prinzip der demokratischen Vertretung. Bei uns beraten und beschließen die demokratisch gewählten und zur Rechenschaft verpflichteten Vertreter der voll berechtigten Organisatioпеп. Bei ihnen beraten die Vertreter und Gäste und machen Vorschläge, während die stimmberechtigten Organisationen nachträglich ja oder nein sagen. Man kann sich kaum ein System vorstellen, das geeigneter wäre, die Sozialdemokraten zu desorganisieren. In der Praxis artet dieses Plebiszitsystem stets in eine Komödie aus.

Das von der Konferenz angenommene und aus 13 Paragraphen bestehende „Organisationsstatut" ist in seiner Art eine Perle. Es wird ein Parteigebäude errichtet aus sechs Stockwerken, in folgender Ordnung von unten nach oben: 1. Leitendes Kollektiv, 2. Komitee, 3. Gebietsparteitag, 4. Gebietskomitee, 5. Konferenz und 6. Vollzugskommission. Im Allgemeinen wählt die untere Körperschaft die höhere. Die Beziehungen jedoch zwischen dem leitenden Kollektiv und dem Komitee werden nicht durch den Grundsatz der Wahl bestimmt, sondern durch den Grundsatz der „Verständigung", wie die Anhänger der neuen „Iskra" glauben, oder durch den Grundsatz der „Konfusion", wie es uns scheinen will. Einerseits gehört das ganze Komitee zum leitenden Kollektiv, zusammen mit allen Mitgliedern nicht nur der Rayonkomitees, sondern auch der „Gruppen, die unter besonderen Schichten der Bevölkerung arbeiten". Anderseits „gehört zum Rayonkomitee auch ein Vertreter des Komitees"!! Einerseits müssen alle wesentlichen Beschlüsse vom leitenden Kollektiv kommen, anderseits handelt das Komitee in außerordentlichen Fällen selbständig, „vor der Befragung (!) der Rayonkomitees". Dritterseits „ist das Komitee verpflichtet, periodisch den Rayonkomitees Bericht über seine Tätigkeit zu erstatten". Bei einem Misstrauensvotum gegen das Komitee durch die Mehrheit der Mitglieder der Rayonkomitees wird das Komitee reorganisiert „in gegenseitigem Einvernehmen zwischen dem Gebietskomitee und den Rayonkomitees". Die Rechte ebenso wie die Zusammensetzung der anderen Parteiorganisationen (darunter auch des Rayonkomitees) sind überhaupt nicht festgesetzt. Der Begriff der Parteimitgliedschaft, um den die Menschewiki auf dem II. Parteitag grundsätzlich gekämpft haben, ist vollständig über Bord geworfen! Bisher galt das Prinzip der „Verständigung" zwischen Mitgliedern einer und derselben Organisation oder Partei, die über alle wesentlichen Fragen des Programms und der Taktik einig sind, als Prinzip des Anarchismus. Die Sozialdemokraten der ganzen Welt führten und führen in solchen Fällen das Prinzip der Unterordnung der Minderheit unter die Mehrheit durch. Die Anhänger der neuen „Iskra" wollen der Welt ein unvergängliches Beispiel dessen zeigen, wie diese zwei Prinzipien in „poetischer" Unordnung durcheinander gemischt werden können. Vor kurzem fiel uns gelegentlich ein Exemplar einer deutschen Zeitung in die Hände mit dem Wahlspruch: „Weder Autorität noch Majorität". Ein Prinzip, das der „Organisation als Prozess" der neuen „Iskra" verwandt ist. Diese Zeitung ist das Organ der deutschen Anarchisten: „Der Anarchist“.

Bei der Wahl der Zentrale („des Organs, das die ganze Parteiarbeit vereinheitlicht") ziehen die Anhänger der neuen „Iskra" den direkten Wahlen indirekte, durch Wahlmänner, vor. Die Vollzugskommission wird nicht direkt durch Vertreter der leitenden Kollektive gewählt, sondern vermittels einer vierstufigen Wahl! Warum plötzlich die Abneigung gegen die direkte Wahl – Allah weiß es. Manche denken: ob nicht etwa das Beispiel des Herrn Struve, der für das Oberhaus allgemeine, nicht aber direkte Wahlen festsetzen will, die Anhänger der neuen „Iskra" angesteckt hat? Wie diese vierstufigen Wahlen durchgeführt werden sollen – auch das weiß nur Allah, denn im „Statut" ist darüber kein Wort gesagt.

Selbstverständlich wäre es lächerlich, dieses Statut, dessen Reize wir noch lange nicht erschöpft haben, ernst zu nehmen. Es wird nie zur Anwendung kommen. Diese sechsstöckige Kalesche wird, selbst wenn es gelingen sollte, sie aufzubauen, nicht vom Flecke können. Die Bedeutung dieses Statuts ist keine praktische, sondern eine prinzipielle. Es ist eine prächtige, unvergleichliche Illustration der berühmten Theorie von der „Organisation als Prozess“. Nun muss sogar ein Blinder sehen, dass die „Organisation als Prozess" Desorganisation bedeutet. Bis jetzt traten die Menschewiki als Desorganisatoren auf gegenüber ihren Opponenten, gegenüber dem II. Parteitag und den von ihm geschaffenen Organen. Jetzt treten die Menschewiki ihren eigenen Gesinnungsgenossen gegenüber als Desorganisatoren auf. Das heißt schon wirklich die Desorganisation zum Prinzip erheben.

Uns wundert es nicht, dass die Menschewiki mit der Verletzung ihres eigenen Statuts begonnen haben. Eine Einteilung Russlands in Gebiete wurde nicht vorgenommen. Eine Vollzugskommission, selbst eine vorläufige bis zur Bestätigung durch die Komitees und Organisationen, wurde nicht gewählt. Die Konferenz wählte eine im Statut nicht vorgesehene Organisationskommission und gab ihr besondere Aufträge! Jetzt sind sogar provisorische und partielle Vereinbarungen mit den Menschewiki furchtbar erschwert, weil diese Organisationskommission keine offizielle Stellung einnimmt und ihre Schritte keine entscheidende Bedeutung haben können. Wer mit den Menschewiki in Beziehung treten will, muss mit jeder einzelnen Organisation in Verbindung treten und sogar mit jedem einzelnen „Edelmann", der sein „Liberum veto"1 einlegen kann!

Endlich ist es besonders überraschend, dass im „Statut" der Minderheit die Parteiorgane und überhaupt die Parteiliteratur mit völligem Stillschweigen übergangen werden. Die Organe sind da („Iskra", „Sozialdemokrat") und werden da sein, aber das von der Konferenz angenommene „Statut" setzt keine Verbindung zwischen ihnen und der Partei fest. Das ist ungeheuerlich, aber es ist so. Die Literaten sind außerhalb der Partei, stehen über der Partei. Keine Kontrolle, keine Rechenschaft, keine materielle Abhängigkeit. Etwas Ähnliches, wie es in den schlimmsten Zeiten des Opportunismus der französischen Sozialisten war: die Partei für sich und die Literaten wieder für sich. Von diesem Standpunkt dürfte vielleicht der folgende Beschluss der Konferenz, nämlich die Resolution über die Pаrtei(?)-Literatur nicht zufällig sein:

Die Konferenz erachtet es für notwendig: 1. Dass die Organisationskommission Maßnahmen trifft, den Parteiliteraten eine größere Möglichkeit zu verschaffen, in der legalen Presse einen Kampf für die theoretischen Grundsätze der Partei zu führen."

Gewissermaßen ein Vorbild der menschewistischen Organisation: eine Gruppe von unverantwortlichen und „unabhängigen", unersetzlichen und unersetzbaren „Parteiliteraten". Und neben ihnen eine Kommission, die sich um die legale Verlagstätigkeit kümmert!

Es fällt schwer, über diesen Organisationstypus ernsthaft zu sprechen. Je näher die Revolution, je näher die Möglichkeit eines offenen Auftretens der Sozialdemokraten in der „legalen" Presse, um so strenger muss die Partei des Proletariats das Prinzip der unbedingten Verantwortlichkeit der „Parteiliteraten" vor der Partei, ihrer Abhängigkeit von der Partei, wahren.

Was die taktischen Resolutionen der Konferenz anbelangt, so bestätigen sie in bemerkenswerter Weise die Erklärung des III. Parteitages über die Schattierungen der Sozialdemokraten, die „dem Ökonomismus verwandt sind" und über die „Beeinträchtigung des Schwungs der Parteiarbeit". Von der unglaublich nachlässigen Redigierung der Resolutionen, die mehr Umrissen von Gedanken, Aphorismen, Betrachtungen und Fragmenten eines ersten Entwurfs gleichen, wollen wir schon gar nicht sprechen. In dieser Hinsicht kann nur das „Programm des Bundes der Befreiung" mit den Resolutionen der Konferenz konkurrieren. Vor uns sind nicht präzise, klare Direktiven, die von dem obersten Parteiorgan gegeben werden, sondern die Stilübungen einiger Parteiliteraten.

Nehmen wir ihren Inhalt. Über die brennende Frage des Aufstandes wird darin nicht gesagt, dass er „notwendig" geworden ist, dass man nicht nur seine politische Bedeutung, sondern auch seine „praktisch-organisatorische Seite" erklären muss, dass man zu diesem Zweck das „Proletariat organisieren" und „soweit erforderlich, besondere Gruppen schaffen" muss (Resolution des III. Parteitages). Nein. Da wird zuerst gesagt, dass die Möglichkeit, den Aufstand für einen bestimmten Termin festzusetzen und ihn durch konspirative organisatorische Mittel vorzubereiten, „ausgeschlossen" sei, – weiter kann man darin lesen, dass bei Erweiterung der Agitation und Organisation die Verwandlung der spontanen Bewegungen in „planmäßige Aufstände" möglich sei. Und diese Konfusion soll die ideologische Anleitung der Partei des Proletariats sein! Der III. Parteitag der SDAPR wiederholt und bestätigt alle alten Wahrheiten über die Propaganda, die Agitation, die allgemein-demokratische Bewegung usw., aber er fügt dem eine neue Aufgabe hinzu: Organisierung des Proletariats für den Aufstand, Klarlegung der „praktisch-organisatorischen Seite" der neuen Methoden des Kampfes, des entscheidenden Kampfes um die Freiheit. Die Konferenz spricht nur von der „Vorbereitung des Aufstandes" überhaupt, sie wiederholt nur Bekanntes über Agitation und Organisation überhaupt, ohne zu wagen, irgendeine neue Aufgabe selbständig zu stellen, ohne eine leitende Losung zu geben über die Notwendigkeit, einen Schritt vorwärts zu tun, von der Vorbereitung überhaupt, über die wir schon seit dem Jahre 1902 sprechen, zur praktisch-organisatorischen Behandlung der Angelegenheit. Ganz genau, wie die alten Ökonomisten, Als neue Aufgaben des politischen Kampfes auf den Plan traten, begann man sie herabzusetzen, sie in Stadien zu zerlegen, sie den Aufgaben des ökonomischen Kampfes unterzuordnen.

Nicht nur ökonomischen, sondern auch politischen Kampf in den breitesten und kühnsten Formen, sagten die revolutionären Sozialdemokraten. Das beste Mittel zur politischen Agitation sei der ökonomische Kampf, erwiderten die Ökonomisten. Nicht nur Propaganda und Agitation überhaupt, sagen jetzt die revolutionären Sozialdemokraten, nicht nur die Klarlegung der politischen Bedeutung des Aufstandes, sondern auch die Schaffung von besonderen Gruppen, die sofortige Inangriffnahme der praktisch-organisatorischen Arbeit, die „energischsten Maßnahmen zur Bewaffnung des Proletariats". Ein planmäßiger Aufstand sei „ausgeschlossen", antworten die Anhänger der neuen „Iskra", man müsse die Agitation erweitern, die Organisation stärken, die Verwandlung der spontanen Bewegung in eine planmäßige vorbereiten; nur auf dieser Grundlage „kann der Moment des Aufstandes näher gerückt werden", „können die technischen Kampf-Vorbereitungen mehr oder weniger ernste Bedeutung gewinnen".

Für sie ist der Moment des Aufstandes noch nicht „nähergerückt"! Für sie „können" die praktischen Vorbereitungen einmal eine „mehr oder weniger ernste Bedeutung gewinnen"! Ist das nicht Chwostismus reinsten Wassers? Ist es nicht eine Herabsetzung der (nach der Meinung des III. Parteitages) „unaufschiebbaren" Aufgabe, zu deren Erfüllung wir noch so furchtbar wenig getan haben? Gehen diese Leute nicht rückwärts vom Aufstand zur Agitation, ebenso wie die Ökonomisten rückwärts gingen vom politischen Kampf zum ökonomischen Kampf gegen die Unternehmer und die Regierung? Man lese, wie Herr Struve in Nr. 71 des „Oswoboschdjenije" vor der Losung: Bewaffneter Aufstand zurückweicht, wie dieser Wortführer der liberalen Bourgeoisie seine Unvermeidlichkeit bestreitet (S. 340), wie er die Bedeutung der „Revolution im technischen Sinne" herabzusetzen sucht, wie er die Losung des Aufstandes durch den Hinweis auf die „sozial-psychischen Bedingungen" „vertieft", wie er diese Losung durch die Losung der „Durchdringung der Massen mit den Ideen der demokratischen Reform" ersetzt – und man wird begreifen, welchen tief demoralisierenden Einfluss auf das Proletariat der Chwostismus der Anhänger der neuen „Iskra" ausüben muss, wem er in die Hände arbeitet.

Die zweite aktuelle politische Frage ist die der provisorischen revolutionären Regierung. Die Resolution des III. Parteitages stellt sie klar und deutlich. Die Motivierung ist der Kampf um die Republik; ihre Erkämpfung ist nur bei vollem Siege des Aufstandes möglich; die Notwendigkeit der Einberufung einer konstituierenden Versammlung durch die provisorische revolutionäre Regierung, um wirklich freie und ordnungsmäßige Wahlen zu sichern; die Notwendigkeit, sich zum Kampfe gegen die Bourgeoisie vorzubereiten, um die Errungenschaften der Revolution zu schützen. Die Schlussfolgerungen des Parteitages und seine Direktiven sind: man muss dem Proletariat die Notwendigkeit der provisorischen revolutionären Regierung klarmachen. Von dieser Regierung muss das Proletariat genau bestimmte Dinge verlangen, nämlich: die Verwirklichung des ganzen Minimalprogramms. Die Beteiligung der Sozialdemokraten an der Regierung (Aktion „von oben") ist zulässig; der Zweck dieser Beteiligung wird eindeutig angegeben (rücksichtsloser Kampf gegen die Konterrevolution und Verteidigung der selbständigen Interessen der Arbeiterklasse). Die Bedingungen der Beteiligung sind nicht weniger eindeutig angegeben. Die formale Bedingung ist die strenge Kontrolle der Partei; die materielle Bedingung, d. h. die Bedingung für die Zweckmäßigkeit der Beteiligung, ist die unbeirrbare Wahrung der Unabhängigkeit der Sozialdemokratie, die Vorbereitung der Bedingungen für die sozialistische Umwälzung. Diese Aufzählung der Bedingungen für die Beteiligung an der Regierung, der Bedingungen des Druckes von oben, als einer neuen, nur der revolutionären Epoche eigenen Form der Tätigkeit, wird ergänzt durch den Hinweis auf die Formen und das Ziel des ständigen und unter allen Umständen obligatorischen Drucks von unten – des Drucks auf die provisorische revolutionäre Regierung durch das bewaffnete und von der Sozialdemokratie geführte Proletariat. Im Großen und Ganzen haben wir eine vollständige Antwort auf die neue politische Frage vor uns, einen genauen Hinweis auf die Bedeutung der neuen Kampfesformen, auf ihr Ziel, auf das Programm dieses Kampfes und die Bedingungen ihrer Zulässigkeit.

Und in der Resolution der Konferenz? Diese Resolution beginnt mit der schreiend unwahren Behauptung, dass der „entscheidende Sieg der Revolution über den Zarismus" erfolgen könne entweder durch die Errichtung einer provisorischen Regierung „oder durch die revolutionäre Initiative der einen oder der anderen Vertretungskörperschaft, die unter dem unmittelbaren revolutionären Druck des Volkes beschließt, eine konstituierende Nationalversammlung zu organisieren".

Man kann und muss der Partei taktische Direktiven geben. Sowohl für den Fall des Sieges als auch für den Fall der Niederlage des Aufstandes, sowohl für den Fall der Einberufung einer wirklich konstituierenden Versammlung auf revolutionärem Wege als auch für den Fall der Einberufung einer Karikatur auf eine Volksvertretung durch den Zaren. Aber etwas als entscheidenden Sieg zu bezeichnen, dem gerade die entscheidende Bedingung für den Sieg fehlt, heißt Verwirrung in das revolutionäre Bewusstsein hinein tragen und nicht es leiten. Irgendein „Beschluss" irgendeiner Vertretungskörperschaft, eine konstituierende Versammlung zu organisieren, ist noch ebenso weit von dem entscheidenden Sieg entfernt, wie das Wort von der Tat entfernt ist, denn die zaristische Macht hält in ihrer Hand die Gewalt, die imstande ist, das Wort zu verhindern, zur Tat zu werden. Die Resolution der Anhänger der neuen „Iskra" gleicht aufs Haar der Behauptung der alten Ökonomisten, dass ein entscheidender Sieg der Arbeiter sein könne entweder die Eroberung des Achtstundentages oder der von der Regierung geschenkte Zehnstundentag, von dem die Arbeiter zum neunstündigen übergehen würden.

Die Resolution der Konferenz wiederholt über den bürgerlichen Charakter der demokratischen Revolution unzweifelhafte Grundsätze des Marxismus, verleiht ihnen aber eine enge oder unrichtige Deutung. Statt der Kampflosung: Republik, gibt man uns eine Beschreibung des Prozesses der „Liquidierung der monarchischen Ordnung". Statt des Hinweises auf die Bedingungen und die Aufgaben der neuen Kampfmethode „von oben", die beim Gelingen des proletarischen Aufstandes in der Epoche der Revolution möglich und obligatorisch ist, gibt man uns den Grundsatz, eine „Partei der äußersten revolutionären Opposition zu bleiben". Dieser Grundsatz ist sehr gut für den parlamentarischen Kampf, sehr gut für die Aktion von unten, aber gerade für die Zeit des Aufstandes ist er unzulänglich. In einer solchen Zeit besteht die Aufgabe der „Opposition" in dem gewaltsamen Sturz der Regierung, in dieser Frage jedoch vermochte die Konferenz keine leitende Losung zu geben.

Indem die Resolution der Konferenz eine partielle und episodische „Machtergreifung" in einzelnen Städten und Bezirken zulässt, verzichtet sie auf das „Prinzip" der neuen „Iskra", wonach die Beteiligung an der provisorischen revolutionären Regierung zusammen mit der Bourgeoisie Verrat am Proletariat, Millerandismus usw. sei. Ein partieller und episodischer Verrat hört nicht auf, ein Verrat zu sein. Die Beschränkung der Aufgabe auf einzelne Städte oder Bezirke löst jedoch die Aufgabe nicht, sondern zersplittert die Aufmerksamkeit, zerreißt die Frage in Teile und verwirrt sie. Die Losung: „revolutionäre Kommunen" endlich, die in der Resolution der Konferenz aufgestellt ist, kommt infolge ihrer Unklarheit einer bloßen Phrase nahe, im Unterschied zu der Losung: revolutionär-demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft.

Die ganze Resolution der Anhänger der neuen „Iskra" über die provisorische revolutionäre Regierung krankt an demselben Fehler, wie ihre Resolution über den Aufstand: das Unvermögen, die neuen taktischen Aufgaben des Augenblicks zu bestimmen, das Wiederholen von Altbekanntem, statt der Aufforderung, vorwärts zu schreiten, das Fehlen einer leitenden Losung für die vorgeschrittene Klasse in der demokratischen Revolution, die Beeinträchtigung der Aufgaben und des Schwungs der Tätigkeit dieser Klasse, ihres revolutionären Enthusiasmus und ihrer revolutionären Energie. Die politische Tendenz dieser falschen taktischen Linie ist die Annäherung der Richtung der neuen „Iskra" an die des „Oswoboschdjenije", die Überlassung der führenden Rolle in der demokratischen Umwälzung an die liberale Bourgeoisie, die Verwandlung des Proletariats in ihr bloßes Anhängsel.

Der angeführte Grundfehler wirkt sich auch bei den anderen, weniger wichtigen Resolutionen aus. Zum Beispiel, statt der Losung: Durchführung des Achtstundentages auf revolutionärem Wege (Resolution des III. Parteitages) wird lediglich die alte, im gegenwärtigen Augenblick ungenügende Losung der Agitation für die gesetzliche Festlegung des Achtstundentages aufgestellt. Statt der sofortigen Organisierung von revolutionären Bauernkomitees wird lediglich vorgeschlagen, die Forderung ihrer Errichtung an die konstituierende Versammlung zu stellen. Statt der Parole: Kampf gegen die Inkonsequenz, die Beschränktheit und die Unzulänglichkeit der Freiheitsbewegung der Bourgeoisie überall dort, wo diese Eigenschaften in Erscheinung treten (Resolution des III. Parteitags), verfolgt die Resolution der Konferenz, indem sie den Fehler Starowjers wiederholt, eine chimärische Aufgabe: ein „Lackmuspapier" ausfindig zu machen, „Punkte" aufzuzählen, deren Durchführung erlauben würde, den bürgerlichen Demokraten als aufrichtigen Volksfreund zu bezeichnen. Es zeigte sich natürlich sofort, dass die „Punkte" der Resolution der neuen „Iskra" nicht vollständig sind. Es fehlt die Losung der Republik. Es kommt heraus, dass eine demokratische Gruppe, wie der „Russische Befreiungsverein" (Rossijskij Oswoboditelnyj Sojus) [„Proletarij" Nr. 24] diesen „Punkten" entspricht, obwohl in Wirklichkeit keine Garantien gegen die Vorherrschaft der „Oswoboschdjenije"-Leute in dieser Gruppe geboten sind.

Es ist selbstverständlich, dass wir in einem Zeitungsartikel nur in ganz allgemeinen und kurzen Zügen den Grundfehler der ganzen taktischen Linie der neuen „Iskra", wie sie in den Resolutionen der Konferenz zum Ausdruck kam, skizzieren konnten. So unernst ihre „Organisation als Prozess" ist, so ernst und wichtig sind für die Partei die falschen Tendenzen ihrer Taktik. Aus diesem Grunde werden wir diese Tendenzen eingehend behandeln in einer besonderen Broschüre, die bereits im Druck ist und in allernächster Zeit erscheinen wird.

1 „Liberum veto" hieß das Recht jedes polnischen Adligen im polnischen Reichstag oder Landtag, durch Einspruch jeden Beschluss ungültig zu machen. Die Red.

2 Über den „Russischen Befreiungsverein" („Rossijskij Oswoboditelnyj Sojus") brachte der „Proletarij" Nr. 4 einen längeren informierenden Artikel: „Ein neuer revolutionärer Arbeiterverein". Nach Wiedergabe des Inhaltes zweier Aufrufe des „Zentralkomitees des russischen Befreiungsvereins" heißt es in dem Artikel: „Aus diesen Dokumenten ist zu ersehen, dass der RBV keine Partei mit einem bestimmten, nur ihr eigenen Programm ist, er ist vielmehr eine Vereinigung aller derer, die den Übergang der Macht vom Absolutismus in die Hände des Volkes mit Hilfe des bewaffneten Aufstandes durch Einberufung einer konstituierenden Versammlung auf der Grundlage des allgemeinen usw. Wahlrechts erstreben". Sobald dieses Ziel erreicht ist, wolle sich der Verein auflösen. In einem der Aufrufe heißt es: „… Dass Meinungsverschiedenheiten mit der Sozialdemokratie entstehen könnten, ist nicht anzunehmen". Ferner: „Als eine vorzugsweise praktische Organisation geht der Russische Befreiungsverein in seiner Tätigkeit auch mit der Partei der Sozialrevolutionäre insofern nicht auseinander, als uns die Gemeinsamkeit der Mittel – bewaffneter Kampf gegen den Absolutismus – und die Gemeinsamkeit des Ziels – Einberufung einer konstituierenden Versammlung auf demokratischen Grundlagen – eint … Wir haben sogar nichts gegen den ,Bund der Befreiung' (,Sojus Oswoboschdenija'), trotz des fundamentalen Unterschieds unserer politischen Überzeugungen, allerdings nur wenn der ,Bund der Befreiung' von der Erkenntnis der Unvermeidlichkeit des bewaffneten Aufstandes zur Einberufung der konstituierenden Versammlung durchdrungen wird".

Außer den erwähnten zwei Aufrufen wird in dem Artikel noch das aus 43 Paragraphen bestehende „Statut des Arbeitervereins" erwähnt. Als Zweck des Vereins wird im Statut angegeben: „Organisierung von Trupps für den bewaffneten Aufstand und Sammlung der notwendigen Geldmittel zur Bewaffnung und Herausgabe von Literatur streng proletarischen Charakters".

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