Lenin‎ > ‎1905‎ > ‎

Wladimir I. Lenin 19051107 Kleinbürgerlicher und proletarischer Sozialismus

Wladimir I. Lenin: Kleinbürgerlicher und proletarischer Sozialismus1

[Proletarij", Nr. 24, 25. Oktober/7. November 1905. Nach Sämtliche Werke, Band 8, S. 485-494]

In Europa hat heute unter den verschiedenen Lehren des Sozialismus der Marxismus die unumschränkte Herrschaft erlangt, und der Kampf für die Verwirklichung der sozialistischen Ordnung wird fast gänzlich als Kampf der Arbeiterklasse unter der Leitung der sozialdemokratischen Parteien geführt. Aber die unumschränkte Herrschaft des auf den Lehren des Marxismus begründeten proletarischen Sozialismus hat sich nicht mit einem Male durchgesetzt, sondern erst nach langem Kampfe mit allerhand rückständigen Lehren, mit dem kleinbürgerlichen Sozialismus, mit dem Anarchismus und so weiter. Vor etlichen dreißig Jahren war der Marxismus noch nicht einmal in Deutschland vorherrschend, wo im Grunde genommen noch vermischte eklektische, zwischen dem kleinbürgerlichen und dem proletarischen Sozialismus liegende Anschauungen überwogen. In den romanischen Ländern aber, in Frankreich, Spanien und Belgien, waren die unter den fortgeschritteneren Arbeitern am meisten verbreiteten Lehren der Proudhonismus, der Blanquismus und der Anarchismus, die offensichtlich den Standpunkt des Kleinbürgertums, nicht aber den des Proletariats zum Ausdruck brachten.

Was war nun die Ursache des raschen und vollen Sieges des Marxismus gerade in den letzten Jahrzehnten? Die gesamte Entwicklung der modernen Gesellschaft, die ökonomische wie die politische, die gesamte Erfahrung der revolutionären Bewegung und des Kampfes der unterdrückten Klassen haben mehr und mehr die Richtigkeit der marxistischen Anschauungen bestätigt. Der Verfall des Kleinbürgertums zog früher oder später unvermeidlich das Absterben jeglicher kleinbürgerlicher Vorurteile nach sich, das Wachsen des Kapitalismus und die Verschärfung des Klassenkampfes innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft aber dienten als die beste Agitation für die Ideen des proletarischen Sozialismus.

Die Rückständigkeit Russlands erklärt ganz natürlich die große Dauerhaftigkeit der verschiedenen rückständigeren Lehren des Sozialismus in unserem Lande. Die gesamte Geschichte des russischen revolutionären Gedankens im letzten Viertel des Jahrhunderts ist die Geschichte des Kampfes des Marxismus gegen den kleinbürgerlichen Sozialismus der Narodniki. Und wenn das rasche Anwachsen und die erstaunlichen Erfolge der russischen Arbeiterbewegung dem Marxismus auch in Russland schon den Sieg gebracht haben, so hat anderseits die Entwicklung der unzweifelhaft revolutionären Bauernbewegung – insbesondere nach den berühmten Bauernaufständen in Kleinrussland im Jahre 1902 – eine gewisse Belebung des altersschwachen Narodnikitums zur Folge gehabt. Dieses altväterliche, mit dem modischen europäischen Opportunismus (Revisionismus, Bernsteinianertum, Marx-Kritik) aufgefrischte Narodnikitum bildet das ganze originelle geistige Gepäck der sogenannten Sozialrevolutionäre. Deshalb steht auch die Bauernfrage im Mittelpunkt des Streites der Marxisten sowohl mit den „reinen" Narodniki als auch mit den Sozialrevolutionären.

Das Narodnikitum war bis zu einem gewissen Grade eine in sich geschlossene und konsequente Lehre. Es leugnete die Herrschaft des Kapitalismus in Russland, leugnete die Rolle der Fabrikarbeiter als der führenden Kämpfer des Gesamtproletariats, leugnete die Bedeutung der politischen Revolution und der bürgerlichen politischen Freiheit und predigte unmittelbar den aus der bäuerlichen Dorfgemeinde mit ihrer kleinbäuerlichen Wirtschaft hervorgehenden „sozialistischen Umsturz". Von dieser in sich geschlossenen Lehre sind jetzt nur mehr Brocken übrig; um sich aber im gegenwärtigen Streit zurechtzufinden und ihn nicht in leeres Wortgeplänkel ausarten zu lassen, müssen wir die allgemeinen und im Narodnikitum wurzelnden Grundlagen der Verirrungen unserer Sozialrevolutionäre immer im Auge behalten.

Der Mensch der Zukunft ist in Russland der Bauer, glaubten die Narodniki, und diese Ansicht entsprang unausbleiblich dem Glauben an den sozialistischen Charakter der Dorfgemeinde, dem Nichtglauben an den kapitalistischen Weg. Der Mensch der Zukunft ist in Russland der Arbeiter, dachten die Marxisten, und die Entwicklung des russischen Kapitalismus sowohl in der Landwirtschaft als auch in der Industrie bestätigt ihre Ansichten immer mehr und mehr. Die Arbeiterbewegung in Russland hat sich nunmehr selbst ihre Anerkennung erzwungen, hinsichtlich der Bauernbewegung aber äußert sich der Abgrund zwischen dem Narodnikitum und dem Marxismus auch heute noch in der verschiedenen Auffassung dieser Bewegung. Für den Narodnik wird der Marxismus gerade durch die Bauernbewegung widerlegt, denn diese ist eben eine Bewegung für den unmittelbaren sozialistischen Umsturz; sie erkennt eben keinerlei bürgerliche politische Freiheit an; sie geht eben nicht vom Großbetrieb, sondern von der Kleinwirtschaft aus. Mit einem Wort, für den Narodnik ist die Bauernbewegung auch eine wirkliche, wahrhaft sozialistische und unmittelbar sozialistische Bewegung. Der Glaube der Narodniki an die bäuerliche Dorfgemeinde und der Narodniki-Anarchismus erklären vollkommen die Unvermeidlichkeit solcher Folgerungen.

Für den Marxisten jedoch ist die Bauernbewegung nicht eine sozialistische, sondern eine demokratische Bewegung. Sie erscheint auch in Russland, so wie das in den anderen Ländern der Fall war, als unvermeidlicher Begleiter der demokratischen, ihrem gesellschaftlich-ökonomischen Inhalt nach bürgerlichen Revolution. Sie richtet sich keineswegs gegen die Grundlagen der bürgerlichen Ordnung, gegen die Warenwirtschaft, gegen das Kapital. Hingegen richtet sie sich gegen die alten, feudalen, vorkapitalistischen Verhältnisse im Dorfe und gegen den feudalen Grundbesitz als die Hauptstütze aller Überbleibsel der Leibeigenschaft. Der volle Sieg dieser Bauernbewegung beseitigt also nicht den Kapitalismus, sondern schafft im Gegenteil eine breitere Grundlage für seine Entwicklung, beschleunigt und verschärft die rein kapitalistische Entwicklung. Der volle Sieg des Bauernaufstandes kann bloß die Grundlage für die demokratische bürgerliche Republik schaffen, in der sich auch der Kampf des Proletariats gegen die Bourgeoisie erst in voller Reinheit entfalten wird.

So haben wir also zwei einander entgegengesetzte Anschauungen, über die sich jeder erst klar werden muss, der den prinzipiellen Abgrund, der zwischen Sozialrevolutionären und Sozialdemokraten klafft, untersuchen will. Nach der einen Ansicht ist die Bauernbewegung eine sozialistische, nach der anderen eine demokratisch-bürgerliche Bewegung. Hieraus kann man ersehen, welche Verständnislosigkeit unsere Sozialrevolutionäre beweisen, wenn sie zum hundertsten Male (vergleiche z. B. Nr. 75 der „Rewoluzionnaja Rossija") wiederholen, dass die orthodoxen Marxisten irgendwann einmal die Bauernfrage „ignoriert" haben (von ihr nichts wissen wollen).2 Gegen so grobe Unwissenheit gibt es bloß ein Mittel: das ABC wiederholen, die alten konsequenten Narodniki-Ansichten darlegen, zum hundertsten und tausendsten Male darauf hinweisen, dass der wirkliche Unterschied nicht darin besteht, ob man mit der Bauernfrage rechnet oder nicht mit ihr rechnen will, ob man sie anerkennt oder ignoriert, sondern in der verschiedenen Einschätzung der gegenwärtigen Bauernbewegung und der gegenwärtigen Bauernfrage in Russland. Wer davon spricht, dass die Marxisten die Bauernfrage in Russland „ignorieren", ist erstens ein ausgesprochener Nichtwisser; denn alle wichtigen Werke der russischen Marxisten mit Plechanows „Unsere Meinungsverschiedenheiten" (vor mehr als zwanzig Jahren erschienen) angefangen, hatten vor allem gerade die Fehlerhaftigkeit der Narodniki-Ansichten über die russische Bauernfrage klarzulegen. Und zweitens beweist, wer vom „Ignorieren" der Bauernfrage durch die Marxisten schwätzt, damit nur, dass er sich von der erschöpfenden Beurteilung der wirklichen prinzipiellen Meinungsverschiedenheiten zu drücken sucht: ob die heutige Bauernbewegung eine demokratisch-bürgerliche ist oder nicht; ob sie, ihrer objektiven Bedeutung nach, gegen die Überbleibsel der Leibeigenschaft gerichtet ist oder nicht.

Auf diese Frage haben die Sozialrevolutionäre niemals eine klare bestimmte Antwort gegeben und sie können es auch gar nicht, denn sie verwirren sich hoffnungslos zwischen den alten Anschauungen der Narodniki und denen der heutigen Marxisten über die Bauernfrage in Russland. Eben deshalb erklären die Marxisten, dass die Sozialrevolutionäre auf einem kleinbürgerlichen Standpunkt stehen (als Ideologen des Kleinbürgertums), dass sie sich von den kleinbürgerlichen Illusionen, den Phantasien der Narodniki in der Beurteilung der Bauernbewegung nicht freimachen können.

Und deshalb müssen wir wieder beim ABC anfangen. Wonach strebt denn die gegenwärtige Bauernbewegung in Russland? Nach Land und Freiheit. Welche Bedeutung wird der volle Sieg dieser Bewegung haben? Nach Erlangung der Freiheit wird sie die Herrschaft der Gutsbesitzer und der Bürokratie in der Staatsverwaltung beseitigen. Nachdem sie sich des Landes bemächtigt haben wird, wird sie den Großgrundbesitz den Bauern geben. Werden aber die vollständigste Freiheit und die vollständigste Expropriation der Gutsbesitzer (die Wegnahme des Großgrundbesitzes) die Warenwirtschaft beseitigen? Nein, sie werden sie nicht beseitigen. Werden die vollständigste Freiheit und die vollständigste Expropriation der Gutsbesitzer die Einzelwirtschaft der Bauernhöfe auf dem Boden der Dorfgemeinde oder auf dem „sozialisierten" Grund und Boden beseitigen? Nein, sie werden sie nicht beseitigen. Werden etwa die vollste Freiheit und die vollständigste Expropriation der Gutsbesitzer den tiefen Abgrund zwischen den reichen Bauern mit vielen Pferden und vielen Kühen und dem Landarbeiter, dem Knecht, d. h. zwischen der Dorfbourgeoisie und dem Dorf Proletariat beseitigen? Nein, sie werden ihn nicht beseitigen. Im Gegenteil: je vollständiger die Zerschlagung und Vernichtung der höchsten Schicht (der Gutsbesitzer) sein wird, um so tiefer wird auch der Klassenunterschied zwischen der Bourgeoisie und dem Proletariat sein. Welche objektive Bedeutung wird der vollständige Sieg des Bauernaufstandes haben? Dieser Sieg wird alle Überbleibsel der Leibeigenschaft restlos vernichten, aber er wird ganz und gar nicht die bürgerliche Wirtschaft, nicht den Kapitalismus und auch nicht die Scheidung der Gesellschaft in Klassen, in Reiche und Arme, in Bourgeoisie und Proletariat, aufheben. Warum ist die gegenwärtige Bauernbewegung eine demokratisch-bürgerliche Bewegung? Weil sie durch die Vernichtung der Macht der Bürokratie und der Gutsbesitzer eine demokratische Gesellschaftsordnung schafft, ohne die bürgerlichen Grundlagen dieser demokratischen Gesellschaft zu verändern, ohne die Herrschaft des Kapitals zu vernichten. Wie muss sich der klassenbewusste Arbeiter, der Sozialist zu der gegenwärtigen Bauernbewegung verhalten? Er soll diese Bewegung unterstützen, den Bauern auf das Allerenergischeste helfen, bis zu Ende helfen, sowohl die Macht der Bürokratie als auch die der Gutsbesitzer gänzlich zu beseitigen. Gleichzeitig aber soll er den Bauern klarmachen, dass es noch nicht genügt, wenn man die Macht der Bürokratie und der Gutsbesitzer stürzt. Indem man diese Macht stürzt, muss man sich gleichzeitig auf die Vernichtung der Macht des Kapitals, der Macht der Bourgeoisie vorbereiten; zu diesem Zwecke aber muss man unverzüglich in vollem Umfange die sozialistische, das heißt die marxistische Lehre verkünden und die ländlichen Proletarier zum Kampfe gegen die bäuerliche Bourgeoisie und gegen die gesamte russische Bourgeoisie vereinigen, zusammenschließen und organisieren. Kann denn der klassenbewusste Arbeiter den demokratischen Kampf um des sozialistischen oder den sozialistischen um des demokratischen Kampfes willen vergessen? Nein; der klassenbewusste Arbeiter nennt sich eben deshalb Sozialdemokrat, weil er die Beziehung des einen Kampfes zu dem anderen versteht. Er weiß, dass es keinen anderen Weg zum Sozialismus gibt als den über die Demokratie, über die politische Freiheit. Er trachtet eben deshalb nach vollständiger und konsequenter Verwirklichung der Demokratie, um der Erreichung des Endziels, des Sozialismus willen. Warum sind die Bedingungen des demokratischen Kampfes und die des sozialistischen Kampfes nicht die gleichen? Weil die Arbeiter in dem einen und in dem anderen Kampf immer verschiedene Verbündete haben werden. Den demokratischen Kampf führen die Arbeiter zusammen mit einem Teile der Bourgeoisie, insbesondere mit dem Kleinbürgertum, den sozialistischen Kampf aber werden die Arbeiter gegen die gesamte Bourgeoisie führen. Den Kampf gegen die Bürokratie und die Gutsbesitzer muss und soll man zusammen mit allen Bauern, selbst mit den wohlhabenden und mittleren, führen. Der Kampf gegen die Bourgeoisie aber, das heißt also auch gegen die wohlhabenden Bauern, kann nur zusammen mit dem ländlichen Proletariat aussichtsreich geführt werden.

Wenn wir alle diese elementaren Wahrheiten des Marxismus wieder in Erinnerung bringen, deren Untersuchung sich die Sozialrevolutionäre immer lieber zu entziehen suchen, so wird es uns schon leichter fallen, die folgenden „allerneuesten" Einwendungen der Sozialrevolutionäre gegen den Marxismus entsprechend zu würdigen.

Wozu" – ruft die „Rewoluzionnaja Rossija" (Nr. 75) aus – „war es nötig, zuerst den ,Bauer überhaupt' gegen den Gutsbesitzer und dann (das heißt zu derselben Zeit) das Proletariat gegen den ,Bauer' überhaupt zu unterstützen, anstatt gleich das Proletariat gegen die Großgrundbesitzer zu unterstützen? Worin da der Marxismus besteht, weiß Allah allein."

Das ist der Gesichtspunkt des allerprimitivsten, kindlich-naiven Anarchismus. Von der Vernichtung aller und jeglicher Ausbeutung „mit einem Schlage" träumt die Menschheit schon viele Jahrhunderte, ja Jahrtausende lang. Diese Träume aber blieben Träume, solange die Millionen der Ausgebeuteten sich nicht auf der ganzen Welt zu vereinigen begannen zum konsequenten, beharrlichen, allseitigen Kampf für die Umgestaltung der kapitalistischen Gesellschaft in der Richtung der eigenen Entwicklung dieser Gesellschaft. Die sozialistischen Träume verwandelten sich erst dann in den sozialistischen Kampf von Millionen Menschen, als der wissenschaftliche Sozialismus von Marx die umgestaltenden Tendenzen mit dem Kampf einer bestimmten Klasse verknüpfte. Außerhalb des Klassenkampfes ist der Sozialismus leere Phrase und naive Träumerei. Aber bei uns in Russland haben wir zwei verschiedene Kampfesarten zweier verschiedener sozialer Kräfte vor uns. Überall, wo kapitalistische Produktionsverhältnisse bestehen (und solche gibt es, das sei unsern Sozialrevolutionären zur Kenntnis gebracht, sogar innerhalb der bäuerlichen Dorfgemeinde, also selbst auf diesem vom Gesichtspunkt der Sozialrevolutionäre am allermeisten „sozialisierten" Boden), kämpft das Proletariat gegen die Bourgeoisie. Die Bauernschaft, als Schicht kleiner Grundbesitzer, Kleinbürger, kämpft gegen alle Überbleibsel der Leibeigenschaft, gegen die Bürokratie und gegen die Grundherren. Diese zwei verschiedenen, verschiedenartigen sozialen Kämpfe können nur Leute übersehen, denen die politische Ökonomie und die Geschichte der Revolutionen auf der ganzen Welt etwas ganz Unbekanntes sind. Die Augen vor der Verschiedenartigkeit dieser Kämpfe mit dem Wörtchen „mit einem Schlage" verschließen, heißt den Kopf unter die Flügel stecken und auf jede Analyse der Wirklichkeit verzichten.

Die Sozialrevolutionäre, denen die Geschlossenheit der Anschauungen des alten Narodnikitums verlorengegangen ist, haben auch schon vieles von der Lehre der Narodniki selbst vergessen.

Indem er der Bauernschaft die Gutsbesitzer expropriieren hilft" – schreibt da die „Rewoluzionnaja Rossija" – „unterstützt Herr Lenin unbewusst die Einführung der kleinbürgerlichen Wirtschaft auf den Ruinen der schon mehr oder weniger entwickelten Formen der kapitalistischen Landwirtschaft. Ist das, vom Gesichtspunkt des orthodoxen Marxismus gesehen, nicht ,ein Schritt zurück'?"

Schämt euch, Herrschaften! Ihr vergesst ja ganz euren Herrn W. W.! Schaut doch in seinem „Schicksale des Kapitalismus", in dem „Abriss" des Herrn Nikolai-on und in den übrigen Quellen eurer Weisheit nach! Dann werdet ihr euch erinnern, dass die grundherrliche Wirtschaft in Russland kapitalistische und feudale Züge in sich vereinigt. Ihr werdet dann erfahren, dass das Wirtschaftssystem der „Abarbeit", dieses direkte Überbleibsel des Feudalismus, noch besteht. Wenn ihr dann noch ein Übriges tut und einen Blick in ein so orthodox-marxistisches Buch, wie den III. Band des „Kapital" von Marx, tut, so könnt ihr daraus lernen, dass anders als vermittels der kleinbürgerlich-bäuerlichen Wirtschaft die Entwicklung der feudalen Wirtschaft und ihre Umwandlung in die kapitalistische nirgends vor sich ging und gehen konnte. Um den Marxismus zu widerlegen, geht ihr nach einer schon allzu primitiven, längst entlarvten Methode vor: ihr dichtet dem Marxismus die karikaturhaft-simple Ansicht von einer direkten Ablösung der feudalen Großwirtschaft durch die großkapitalistische Wirtschaft an! Ihr urteilt: die Ernten der Großgrundbesitzer sind größer als die der Bauern, also bedeutet die Expropriierung der Großgrundbesitzer einen Schritt zurück. Das ist eine Überlegung, würdig eines Quartaners. War etwa – denkt einmal nach, Herrschaften! – die Abtrennung des wenig ergiebigen bäuerlichen Ackerbodens von dem hochwertigen des Großgrundbesitzes beim Fall der Leibeigenschaft auch „ein Schritt zurück"?

Die gegenwärtige Grundherrenwirtschaft in Russland vereinigt in sich kapitalistische und feudale Züge. Der heutige Kampf der Bauern gegen die Großgrundbesitzer ist in seiner objektiven Bedeutung ein Kampf gegen die Überbleibsel der Leibeigenschaft. Aber jeden einzelnen Fall aufzählen und abwägen, sozusagen mit der Apothekerwaage nachwiegen wollen, wo genau die Leibeigenschaft aufhört und der reine Kapitalismus beginnt, das heißt denn doch den Marxisten die eigene Pedanterie zuschreiben! Wir können unmöglich ausrechnen, welcher Teil des Preises der bei einem Kleinkrämer eingekauften Lebensmittel auf den Arbeitswert und welcher Teil auf den Wucher entfällt und so weiter. Heißt das aber, Herrschaften, dass man deshalb gleich die Arbeitswerttheorie über Bord werfen soll?

Die gegenwärtige Grundherrenwirtschaft vereinigt in sich kapitalistische und feudale Züge. Nur Pedanten können daraus den Schluss ziehen, dass wir verpflichtet seien, jeden kleinsten Zug in jedem einzelnen Falle nach seinem so oder so gearteten sozialen Charakter abzuwägen, zu berechnen und zu registrieren. Bloß Utopisten können daraus zu dem Schluss kommen, dass wir die zwei verschiedenartigen sozialen Kämpfe „um keinen Preis" voneinander unterscheiden können. In Wirklichkeit ergibt sich daraus der eine und nur der eine Schluss, dass wir sowohl in unserem Programm als auch in unserer Taktik den rein proletarischen Kampf gegen den Kapitalismus mit dem allgemein-demokratischen (und gesamtbäuerlichen) Kampf gegen den Feudalismus vereinigen müssen.

Je stärker die kapitalistischen Züge in der gegenwärtigen halb-leibeigenschaftlichen Grundherrenwirtschaft entwickelt sind, desto nachdrücklicher wird die Notwendigkeit, das Landproletariat schon jetzt selbständig zu organisieren, denn um so rascher wird bei jeder Konfiskation der rein kapitalistische oder rein proletarische Antagonismus zutage treten. Je kräftiger die kapitalistischen Züge in der Grundherrenwirtschaft sind, um so rascher wird die demokratische Konfiskation zum wirklichen Kampf für den Sozialismus drängen; um so gefährlicher ist demnach die falsche Idealisierung des demokratischen Umsturzes mit Hilfe des Wörtchens „Sozialisierung". Das ist die Schlussfolgerung aus der Mischung von Kapitalismus und Leibeigenschaft in der Grundherrenwirtschaft.

Also, Vereinigung des rein proletarischen Kampfes mit dem allgemein-bäuerlichen, ohne jedoch beide zu vermengen. Unterstützung des gesamtdemokratischen und gesamtbäuerlichen Kampfes, ohne sich mit diesem, keinen Klassencharakter tragenden Kampfe zu identifizieren oder ihn durch falsche Bezeichnungen, wie „Sozialisierung", zu idealisieren, ohne auch nur für einen Augenblick die Organisierung sowohl des städtischen als auch des ländlichen Proletariats zu einer vollständig selbständigen Klassenpartei der Sozialdemokratie zu vergessen. Diese Partei wird die entschiedenste Demokratie voll und ganz unterstützen, aber sie wird sich dabei nicht durch reaktionäre Träumereien und Versuche, unter der Herrschaft der Warenwirtschaft eine „Gleichheit" zu begründen, von ihrem revolutionären Wege abbringen lassen. Der Kampf der Bauern gegen die Großgrundbesitzer ist jetzt revolutionär; revolutionär in jeder Beziehung ist auch die Konfiskation des Großgrundbesitzes im gegebenen Moment der ökonomischen und politischen Entwicklung, und wir unterstützen diese revolutionär-demokratische Maßnahme auch. Diese Maßnahme aber als „Sozialisierung" zu bezeichnen, sich selbst und das Volk über die Möglichkeit einer „ausgleichenden" Bodennutzung unter der Herrschaft der Warenwirtschaft zu täuschen, ist schon eine reaktionäre, kleinbürgerliche Utopie, die wir den Sozialreaktionären überlassen.

1 Der Artikel wurde in Nr. 9 der „Nowaja Schisn" vom 10./23. November 1905 abgedruckt. Dabei wurde die folgende Stelle des Artikels weggelassen:

Werden aber die vollständigste Freiheit und die vollständigste Expropriation der Gutsbesitzer (die Wegnahme des Großgrundbesitzes) die Warenwirtschaft beseitigen? Nein, sie werden sie nicht beseitigen."

2 Gemeint ist der Leitartikel „Die orthodoxen Marxisten und die Bauernfrage" in Nr. 75 der Rewoluzionnaja Rossija" vom 15./28. September 1905.

[Anmerkung 49 der „Ausgewählten Werke“, Band 3:] Lenin meint hier den Leitartikel in Nummer 75 des Organs der Sozialrevolutionäre, der „Rewoluzionnaja Rossija“, vom 15./28. November 1905 mit der Überschrift „Die orthodoxen Marxisten und die Bauernfrage“. In dem Artikel hieß es: „Es gab eine Zeit, wo die russischen Sozialdemokraten die Bauernfrage in der gründlichsten Weise ignorierten … der Bauer figurierte in der sozialdemokratischen Klassifikation der sozialen Kräfte nur als eines der zahlreichen reaktionär-kleinbürgerlichen Elemente“.

Kommentare