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Wladimir I. Lenin 19050800 Vorwort zu der Broschüre: „Arbeiter über die Parteispaltung"

Wladimir I. Lenin: Vorwort zu der Broschüre: „Arbeiter über die Parteispaltung"

[Zum ersten Mal veröffentlicht in einer vom ZK der SDAPR im Jahre 1905 herausgegebenen Broschüre. Nach Sämtliche Werke, Band 8, 1931, S. 184-190]

Als wir in Nr. 8 des „Proletarij" versprachen, den Brief eines Genossen, der sich „Ein Arbeiter von vielen"1 nannte, vollinhaltlich abzudrucken, hatten wir gar keine Ahnung, wer dieser Genosse ist. Wir wissen, dass die von ihm geäußerten Gedanken tatsächlich von vielen Arbeitern geteilt werden, und das genügte uns zu dem Entschluss, seinen Brief herauszugeben. Jetzt erfahren wir aus der Nr. 105 der „Iskra"2, dass sich der Verfasser des Briefes „früher zur Minderheit zählte", dass er ein „ehemaliger heftiger Gegner der sogenannten Mehrheit" ist. Um so besser. Um so wertvoller ist für uns das Geständnis dieses ehemaligen Menschewiken, dass sich die frommen Wünsche in Bezug auf die „proletarische Selbsttätigkeit" als „schöne Worte" herausstellen. Um so wertvoller ist seine entschiedene Verurteilung der Intellektuellen-„Manilowiade". Es ist dies ein untrügliches Anzeichen, dass die Demagogie der Menschewiki, ihr Versprechen von allerlei schönen Dingen nach rechts und links: Autonomie, Selbsttätigkeit, Demokratismus usf. beginnen, wie zu erwarten war, den klassenbewussten Arbeitern überdrüssig zu werden und bei ihnen ein natürliches Misstrauen und Kritik hervorzurufen.

Äußerst charakteristisch ist auch die Tatsache, die zweifellos noch eine ganze Reihe menschewistischer Arbeiter zu „ehemaligen Menschewiki" machen wird – die Tatsache, dass die „Iskra" in diesem Briefe eines Arbeiters die „schwielige Faust" erblickt. Darüber verlohnt es sich, ernstlich nachzudenken.

Was hat das in Wirklichkeit mit der „schwieligen Faust" zu tun? Soll dieses von den Menschewiki allzu sehr abgedroschene „schreckliche Wort" bekannte bestimmte organisatorische Begriffe oder soll es bloß die Verdrießlichkeit der Intellektuellen, ihren Widerwillen gegen jedwede feste, die Launen der Intellektuellen unterbindende Organisation zum Ausdruck bringen?

Was will der Verfasser des Briefes? Das Ende der Spaltung. Sympathisiert die „Iskra" mit diesem Ziel? Ja, sie erklärt das direkt. Hält sie die Erreichung dieses Zieles jetzt für möglich? Ja, denn sie sagt: „Die (taktischen) Meinungsverschiedenheiten sind nicht so groß, um die Spaltung zu rechtfertigen."

Wenn dem so ist, warum zerrt dann die „Iskra" in der Antwort an den Arbeiter die taktischen Unstimmigkeiten neuerdings hervor und erwähnt sogar den „Plan der Semstwo-Kampagne", der doch in den „nur für Parteimitglieder" veröffentlichten Blättern der „Iskra" und in der „konspirativen" Broschüre Plechanows3 begraben wurde? Wozu das? Weder bestreitet der Arbeiter die Notwendigkeit der Polemiken und Auseinandersetzungen, noch bestreiten das die Bolschewiki! Das vom 3. Parteitag angenommene Statut stellt doch genau das Recht eines jeden Komitees auf Herausgabe von Literatur fest! Es handelt sich doch darum, wie man's machen soll, dass die taktischen Unstimmigkeiten nicht zur Spaltung, d.h. zur Störung der organisatorischen Verbindung führen. Warum weicht denn die „Iskra" dieser klar gestellten Frage mit Hilfe nicht zur Sache gehörender Betrachtungen über taktische Meinungsverschiedenheiten aus? Besteht nicht etwa die „Faust" des Arbeiters darin, dass er kein Geschwätz zulässt, das nicht zur Sache gehört?

Um der Spaltung ein Ende zu machen, genügt es nicht, das zu wünschen. Man muss wissen, wie es zu machen ist. Die Spaltung beenden, heißt zu einer Organisation verschmelzen. Und wer wirklich das Ende der Spaltung herbeiführen will, darf sich nicht auf Klagen, Vorwürfe, Anwürfe, Interjektionen und Deklamationen über die Spaltung beschränken (wie das der Arbeiter macht und wie es z.B. auch Plechanow tut, seit er im Sumpfe steckt) – der muss sofort an die Ausarbeitung eines Typus dieser allgemeinen, einheitlichen Organisation schreiten.

Die Schwäche der Zuschrift des Arbeiters liegt gerade darin, dass der Verfasser die Spaltung nur beweint und keine direkten Vorschläge zu ihrer Beendigung durch die Annahme bestimmter Organisationsnormen macht. Statt diesen Mangel zu beheben, verstärkt ihn die „Iskra", indem sie schon wegen des von dem Arbeiter geäußerten bloßen Gedankens der unbedingten Anerkennung allgemeiner Organisationsnormen in „panischer Angst" über die „Faust" schreit!! Die Spaltung wird durch die Meinungsverschiedenheiten nicht gerechtfertigt, sagt der Arbeiter. Richtig! stimmt die „Iskra" zu. Also muss man jetzt einen solchen festen Strick drehen (Oh weh, wie grob mechanisch ich mich da ausdrücke! Welche „Faust"-Idee! Einen Augenblick Geduld, Genossen von der „Iskra", beeilt euch nicht, wegen der „Todesschleife" und ähnlicher Schrecklichkeiten in Ohnmacht zu fallen!), der beide Teile fest binden und sie trotz taktischer Meinungsverschiedenheiten gebunden halten würde – fährt der Arbeiter fort.

Als Antwort darauf bekommt die „Iskra" wieder einen hysterischen Anfall und schreit: Die Faust!

Und wir antworten darauf: Richtig, Genosse Arbeiter, Sie urteilen vernünftig! Man braucht einen neuen, festen Strick. Aber gehen Sie auch weiter, machen Sie den weiteren Schritt: beginnen Sie, darüber nachzudenken, wie eigentlich dieser Strick, welcher Art namentlich die allgemeine, für beide Teile verbindliche (zu Hilfe! Wieder die Faust) Organisation sein soll.

Der Genosse Arbeiter ist in der Bestimmtheit seiner organisatorischen Vorschläge nicht weit genug gegangen (denn die Frage der Beendigung der Spaltung ist eine rein organisatorische Frage, wenn beide Teile anerkennen, dass die taktischen Meinungsverschiedenheiten die Spaltung nicht rechtfertigen!) – die „Iskra" aber findet, dass er zu weit gegangen sei, so weit, dass sie wieder den Schrei von der Faust vernehmen ließ!!

Wir fragen den Leser wiederum: Was bedeutet diese berüchtigte Faust, die die neue „Iskra" sozusagen bis zu Krampfanfällen erschreckt? Bringt diese Faust bestimmte Organisationsideen oder einfach die blinde und lächerliche Angst der Intellektuellen vor jeglichen „Bindungen" jedweder für alle Parteimitglieder verbindlichen Organisation zum Ausdruck?

Überlassen wir es den klassenbewussten Arbeitern, diese Frage zu entscheiden, und gehen wir selbst weiter.

Die wirkliche Schwierigkeit der Verschmelzung besteht – vorausgesetzt, dass beide Teile sie aufrichtig wünschen – in Folgendem: erstens muss man Organisationsnormen schaffen, ein Parteistatut, das für alle unbedingt verbindlich ist; zweitens muss man alle parallelen, miteinander konkurrierenden lokalen und zentralen Organisationen und Parteikörperschaften miteinander verschmelzen.

Die erste Aufgabe versuchte bis jetzt nur der 3. Parteitag der SDAPR zu lösen, indem er ein Statut schuf, das jeder Minderheit konstitutionelle Garantien ihrer Rechte gibt. Der 3. Parteitag sorgte dafür, dass jede Parteiminderheit, die das Programm, die Taktik und die organisatorische Disziplin anerkennt, sozusagen ihr Plätzchen in der Partei finde. Die Bolschewiki sorgten für einen bestimmten Platz für die Menschewiki in der einheitlichen Partei. Bei den Menschewiki sehen wir das nicht: ihr Statut gibt keinerlei konstitutionelle Rechtsgarantien für irgendeine Parteiminderheit.

Es ist selbstverständlich, dass kein Bolschewik das auf dem 3. Parteitag angenommene Statut für ideal und unfehlbar betrachtet. Wer es für unumgänglich hält, dieses Statut zu ändern, der muss mit einem Entwurf genau bestimmter Änderungen hervortreten. Das wird ein tatsächlicher Schritt zur Beendigung der Spaltung, das wird etwas mehr sein als Klagen und Vorwürfe.

Man wird uns vielleicht sagen: Warum macht ihr nicht gegenüber dem Statut der „Konferenz" einen Anfang mit einem solchen Schritt? Wir werden darauf antworten, dass wir damit schon begonnen haben; siehe „Proletarij", Nr. 6: „Ein dritter Schritt zurück." Wir sind bereit, die fundamentalen organisatorischen Vorbedingungen, die unseres Erachtens zur Verschmelzung notwendig sind, noch einmal zu wiederholen: 1. die Unterordnung der Minderheit unter die Mehrheit (nicht zu verwechseln mit der Minderheit und Mehrheit in Anführungszeichen!4 Die Rede ist vom Organisationsprinzip der Partei im Allgemeinen und nicht von der Verschmelzung der „Minderheit" und der „Mehrheit", wovon später die Rede sein wird. Man kann sich, abstrakt gesprochen, die Verschmelzung in einer solchen Form denken, dass „Menschewiki" und „Bolschewiki" gleich stark sein werden, aber auch eine solche Verschmelzung ist unmöglich ohne Anerkennung des Prinzips und der Pflicht der Unterordnung der Minderheit unter die Mehrheit). 2. Das oberste Organ der Partei muss der Parteitag, d.h. die Versammlung der gewählten Vertreter aller voll berechtigten Organisationen sein, wobei der Beschluss dieser Vertreter als endgültig gelten muss. (Das ist das Prinzip der demokratischen Vertretung im Gegensatz zu dem Prinzip der beratenden Konferenzen und der Abstimmung über ihre Beschlüsse in den Organisationen, also des Plebiszits). 3. Die Wahlen der Zentralleitung der Partei (oder ihrer zentralen Instanzen) müssen direkt sein und auf den Parteitagen vorgenommen werden. Wahlen, die nicht auf dem Parteitag durchgeführt werden, zweistufige Wahlen usw., sind nicht zulässig. 4. Die ganze Parteiliteratur, die lokale wie die zentrale, muss unbedingt sowohl dem Parteitag als auch der entsprechenden zentralen oder lokalen Parteiorganisation unterstehen. Das Vorhandensein von mit der Partei organisatorisch nicht verbundener Parteiliteratur ist nicht zulässig. 5. Der Begriff der Parteizugehörigkeit muss ganz genau bestimmt werden. 6. Die Rechte jeder Parteiminderheit müssen in gleicher Weise im Parteistatut genau festgesetzt sein.

So müssen unseres Erachtens die unbedingt verbindlichen organisatorischen Prinzipien lauten, ohne deren Anerkennung eine Verschmelzung unmöglich ist. Darüber möchten wir die Meinung des Genossen, der sich „Ein Arbeiter von vielen" nennt, und überhaupt aller Anhänger der Verschmelzung hören.

Und die Frage der Beziehungen der Komitees zur Peripherie? Das Wahlprinzip? So wird man uns fragen. Wir antworten, dass hier in dieser Frage keine grundlegenden organisatorischen Prinzipien zu erblicken sind, sofern nicht die unbedingte Durchführung des Wahlprinzips aufgeworfen wird. Und die haben die Menschewiki nicht aufgeworfen. Bei politischer Freiheit wird das Wahlprinzip unerlässlich sein, jetzt aber führt es das Statut der „Konferenz" für die Komitees nicht ein. Diese oder eine andere Festsetzung der Rechte und Vollmachten für die Peripherie ist keine Prinzipienfrage (versteht sich: dann wenn das, wovon man spricht, konkret verwirklicht wird und man sich nicht mit Demagogie beschäftigt und nicht nur „schöne Worte" macht). Der 3. Parteitag der SDAPR versuchte die Begriffe des Komitees und der Peripherie genau festzulegen und die Beziehungen zwischen ihnen zu bestimmen. Alle Vorschläge bestimmter Änderungen, Ergänzungen, Kürzungen würde jeder Bolschewik in aller Ruhe erwägen. In unserer Mitte sind, soviel ich weiß, in Bezug auf diesen oder jenen Punkt keine „Unversöhnlichen" vorhanden und die Protokolle des 3. Parteitages werden diese Behauptung bestätigen.

Die weitere und wohl nicht weniger schwierige Frage ist die: Wie verschmelzt man denn alle parallelen Organisationen? Bei politischer Freiheit wäre das leicht, denn da gäbe es offene Parteiorganisationen mit einer bestimmten Zahl von genau bekannten Mitgliedern. Anders ist es bei geheimen Organisationen. Die Bestimmung der Mitgliedschaft ist um so schwieriger, je leichtsinniger man diese Mitgliedschaft zuweilen auffasst, je öfter man zur Demagogie, zur fiktiven Eintragung unaufgeklärter Elemente in die Partei greift. Wir denken, dass die entscheidende Stimme in der Frage der Mittel zur Überwindung dieser Schwierigkeiten den Genossen in den einzelnen Orten, die mit der Sachlage vertraut sind, zufallen muss. Die zeitweilige Ausschaltung von Organisationsmitgliedern durch „Kommandierung" ins Gefängnis, in die Verbannung, ins Ausland ist auch ein erschwerender Umstand, den man berücksichtigen muss. Sodann bildet natürlich die Verschmelzung der Zentralinstitutionen keine geringe Schwierigkeit. Ohne ein einheitliches führendes Zentrum, ohne ein einheitliches Zentralorgan ist eine wirkliche Parteieinheit unmöglich. Die Frage steht hier so: entweder wird es den klassenbewussten Arbeitern (ohne dass sie sich von irgendwelchem Geschrei über die „Faust" verwirren lassen) gelingen, diejenigen, die tatsächlich die Parteiminderheit sind, zu zwingen, ihre Ansichten in den Organen der Lokalkomitees, auf den Konferenzen, Parteitagen, Versammlungen usw. vorzubringen, ohne dabei die Parteiarbeit zu desorganisieren. Oder aber die klassenbewussten sozialdemokratischen Arbeiter bewältigen diese Aufgabe jetzt nicht (allgemein gesprochen, werden sie sie unbedingt und auf jeden Fall bewältigen; dafür bürgt die ganze Arbeiterbewegung in Russland) – dann aber werden zwischen den konkurrierenden Zentralstellen und zwischen den konkurrierenden Organen nur Vereinbarungen, aber keine Verschmelzung möglich sein.

Zum Schluss wollen wir noch einmal wiederholen: der Genosse Arbeiter und seine Gesinnungsgenossen dürfen ihr Ziel nicht durch Klagen und Anschuldigungen und nicht auf dem Wege der Bildung neuer dritter Parteien oder Gruppen, Zirkel usw. (in der Art wie jetzt Plechanow einen solchen in der Gestalt seines neuen Parteiverlags5 außerhalb der Partei gegründet hat) zu erreichen trachten. Die Bildung einer dritten Partei oder neuer Gruppen wird die Sache nur komplizieren und verwirren. Man muss mit der Ausarbeitung von konkreten Bedingungen zur Verschmelzung beginnen. Wenn alle Gruppen und Organisationen der Partei, alle klassenbewussten Arbeiter an diese Aufgabe herantreten, dann werden sie unbedingt und zweifellos imstande sein, vernünftige Bedingungen auszuarbeiten und nicht nur auszuarbeiten, sondern auch (ohne sich von dem Geschrei von der Faust verwirren zu lassen) die Spitzen der Partei zu zwingen, sich diesen Bedingungen unterzuordnen.

Als Ergänzung zur Zuschrift des Genossen Arbeiters drucken wir einen Offenen Brief des ZK der SDAPR an die Organisationskommission als ersten Schritt zu einer tatsächlichen Lösung der Frage der möglichen Beendigung der Spaltung. Juli 1905 Redaktion des „Proletarij"

1 Im „Proletarij" vom 4./17. Juli 1905 wurde in der Rubrik „Aus der Partei" unter der Überschrift „Die Arbeiter über die Parteikrise" mitgeteilt, dass die Redaktion eine „an alle Genossen, an alle klassenbewussten Arbeiter" gerichtete und „Ein Arbeiter von vielen" unterzeichnete Zuschrift erhalten habe. Außer dieser Zuschrift schickte derselbe Verfasser auch einen Brief, aus dem zu ersehen war, dass er ein Arbeiter aus Odessa ist. Die Redaktion versprach, dass sie die Zuschrift in der Beilage zu einer der folgenden Nummern abdrucken werde.

2 Die in der vorhergehenden Anmerkung erwähnte Zuschrift „Eines Arbeiters von vielen" wurde unter derselben Überschrift am 15./28. Juli 1905 von der „Iskra" abgedruckt. Die Redaktion versah die Zuschrift mit einem langen Nachwort mit dem Untertitel: „Die Bolschewisten mit umgekehrtem Vorzeichen". Dieses Nachwort meinte Lenin, als er von dem Echo schrieb, das die Zuschrift des „Arbeiters" bei der Redaktion der „Iskra" gefunden hat.

3 Gemeint ist hier die Broschüre Plechanows: „Über unsere Taktik gegenüber dem Kampfe der liberalen Bourgeoisie gegen den Zarismus (Brief an das Zentralkomitee)", die 1905 in Genf erschien. Die Broschüre wurde wegen ihres Untertitels „Nur für Parteimitglieder" als „konspirativ" bezeichnet.

4 D. h. mit der Minderheit und der Mehrheit des 2. Parteitages, also mit Menschewiki und Bolschewiki. D. Red.

5 Lenin meint hier das Plechanowsche „Tagebuch des Sozialdemokraten", das von 1905 bis 1912 in zwangloser Folge anfangs in Genf, dann in Petersburg und dann neuerlich in Genf erschien. Im Jahre 1916 nahm Plechanow die Herausgabe wieder auf, aber schon in Petersburg.

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