1. Die aktuelle politische Frage

1. Die aktuelle politische Frage

In dem revolutionären Moment, den wir jetzt durchleben, steht die Einberufung einer vom gesamten Volke beschickten konstituierenden Versammlung auf der Tagesordnung. Wie diese Frage zu lösen ist, darüber gehen die Meinungen auseinander. Drei politische Richtungen treten hervor. Die zaristische Regierung gibt die Notwendigkeit der Einberufung von Volksvertretern zu, will aber in keinem Falle zulassen, dass ihre Versammlung eine allgemeine Volksvertretung und eine Konstituante sei. Sie scheint – wenn man den Zeitungsmeldungen über die Arbeiten der Bulygin-Kommission Glauben schenken darf – mit einer beratenden Versammlung einverstanden zu sein, deren Wahl ohne freie Agitation und auf Grund eines beschränkten Zensus- oder ständischen Wahlsystems erfolgen soll. Das revolutionäre Proletariat, soweit es unter der Führung der Sozialdemokratie steht, fordert den vollständigen Übergang der Regierungsgewalt in die Hände der konstituierenden Versammlung und erstrebt zu diesem Zwecke nicht nur das allgemeine Wahlrecht und nicht nur die volle Agitationsfreiheit, sondern außerdem noch den sofortigen Sturz der zaristischen Regierung und ihre Ersetzung durch eine provisorische revolutionäre Regierung. Die liberale Bourgeoisie schließlich, die ihre Wünsche durch den Mund der Führer der sogenannten „Konstitutionell-demokratischen Partei"1 zum Ausdruck bringt, fordert nicht den Sturz der zaristischen Regierung, stellt nicht die Losung der provisorischen Regierung auf und besteht nicht auf die Schaffung realer Garantien für die vollkommen freie und regelrechte Durchführung der Wahlen, damit die Vertreterversammlung wirklich eine allgemeine Volksvertretung und eine Konstituante werde. Im Grunde erstrebt die liberale Bourgeoisie, die die einzige ernste soziale Stütze der „Oswoboschdjenije"-Richtung bildet, einen möglichst friedlichen Ausgleich zwischen dem Zaren und dem revolutionären Volk, und zwar einen solchen Ausgleich, durch den sie, die Bourgeoisie, die meiste Macht in die Hände bekäme, dem revolutionären Volk, dem Proletariat und der Bauernschaft, aber am wenigsten Macht zuteil würde.

So ist die politische Lage in diesem Augenblick. Das sind die drei hauptsächlichsten politischen Richtungen, die den drei sozialen Hauptkräften des modernen Russland entsprechen. Darüber, wie die „Oswoboschdjenije"-Leute ihre Halbheit, ihre, um es geradeheraus und einfacher zu sagen, der Revolution gegenüber fahnenflüchtige und verräterische Politik mit scheindemokratischen Phrasen verhüllen, haben wir uns im „Proletarij" mehr als einmal geäußert (Nr. 3, 4, 5). Sehen wir nun, wie die Sozialdemokraten den Aufgaben des Augenblicks Rechnung tragen. Ausgezeichnetes Material in dieser Hinsicht bilden die beiden Resolutionen, die erst unlängst vom 3. Parteitag der SDAPR und von der „Konferenz" des abgespaltenen Teiles der Partei angenommen wurden. Die Frage, welche von diesen beiden Resolutionen die augenblickliche politische Lage richtiger erfasst und die Taktik des revolutionären Proletariats richtiger bestimmt, ist von größter Wichtigkeit. Jeder Sozialdemokrat, der seine Pflichten als Propagandist, Agitator und Organisator bewusst erfüllen will, muss sich über diese Frage mit aller Aufmerksamkeit Klarheit verschaffen, unter Beiseitelassung aller Erwägungen, die für diese Sache unwesentlich sind.

Unter der Taktik einer Partei versteht man ihr politisches Verhalten oder den Charakter, die Richtung, die Methoden ihrer politischen Tätigkeit. Taktische Resolutionen werden auf einem Parteitag angenommen zu dem Zwecke, das politische Verhalten der Partei als Ganzes im Zusammenhang mit neuen Aufgaben oder angesichts einer neuen politischen Situation zu bestimmen. Eine solche neue Situation schuf die in Russland einsetzende Revolution: die vollständige, entschiedene und offene Abkehr der Riesenmehrheit des Volkes von der zaristischen Regierung. Die neue Frage besteht darin, auf welchem praktischen Wege die Einberufung einer wirklich allgemeinen Volksvertretung, einer wirklichen konstituierenden Versammlung erfolgen soll (theoretisch wurde die Frage einer solchen Versammlung längst und früher als von allen anderen Parteien von der Sozialdemokratie in ihrem Parteiprogramm offiziell entschieden). Wenn das Volk sich von der Regierung abgewandt hat und wenn die Massen die Notwendigkeit erkennen, eine neue Ordnung zu errichten, so muss die Partei, die sich den Sturz der Regierung zum Ziel gesetzt hat, notwendigerweise daran denken, durch welche Regierung die alte, zu stürzende Regierung ersetzt werden soll. Es entsteht die neue Frage der provisorischen revolutionären Regierung. Um diese Frage erschöpfend zu beantworten, muss die Partei des klassenbewussten Proletariats das Folgende klarstellen: erstens die Bedeutung einer provisorischen revolutionären Regierung in der gegenwärtigen Revolution und überhaupt im Gesamtkampfe des Proletariats; zweitens ihr eigenes Verhalten zur provisorischen revolutionären Regierung; drittens die strikten Bedingungen für eine Beteiligung der Sozialdemokratie an dieser Regierung; viertens, welche Bedingungen vorhanden sind für die Ausübung eines Druckes auf diese Regierung von unten, d.h. wenn die Sozialdemokraten nicht an der Regierung teilnehmen. Nur bei Klarlegung aller dieser Fragen wird die politische Haltung der Partei in dieser Hinsicht eine prinzipielle, klare und feste sein.

Sehen wir nun einmal, wie die Resolution des 3. Parteitages der SDAPR diese Frage entscheidet. Hier der volle Wortlaut dieser Resolution:

Resolution über die provisorische revolutionäre Regierung

In Erwägung:

1. dass sowohl die unmittelbaren Interessen des Proletariats als auch die Interessen seines Kampfes für die Endziele des Sozialismus eine möglichst volle politische Freiheit und folglich die Ersetzung der autokratischen Regierungsform durch die demokratische Republik erfordern;

2. dass die Errichtung einer demokratischen Republik in Russland nur als Folge einer siegreichen Volkserhebung möglich ist, deren Organ eine provisorische revolutionäre Regierung sein wird, die allein imstande ist, die volle Freiheil der Wahlagitation zu gewährleisten und auf Grund des allgemeinen, gleichen, direkten Wahlrechts mit geheimer Stimmenabgabe eine konstituierende Versammlung einzuberufen, die wirklich den Willen des Volkes zum Ausdruck bringt;

3. dass diese demokratische Umwälzung in Russland bei der vorhandenen Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung die Herrschaft der Bourgeoisie nicht schwächen, sondern stärken wird und dass die Bourgeoisie unvermeidlich in einem bestimmten Augenblick mit allen Mitteln versuchen wird, dem russischen Proletariat den größtmöglichen Teil der in der revolutionären Epoche erzielten Errungenschaften zu entreißen –

beschließt der 3. Parteitag der SDAPR:

a) es ist unerlässlich, unter der Arbeiterklasse eine konkrete Vorstellung über den wahrscheinlichsten Verlauf der Revolution und über die in einem bestimmten Augenblick notwendige Entstehung einer provisorischen revolutionären Regierung zu verbreiten, von der das Proletariat die Erfüllung der nächsten politischen und wirtschaftlichen Forderungen unseres Programms (Minimalprogramm) verlangen wird;

b) je nach dem Kräfteverhältnis und dem Vorhandensein anderer Faktoren, die im Voraus nicht genau bestimmt werden können, ist die Teilnahme von Beauftragten unserer Partei an der provisorischen revolutionären Regierung zwecks schonungsloser Bekämpfung aller konterrevolutionären Anschläge und Wahrung der Sonderinteressen der Arbeiterklasse zulässig;

c) die unerlässliche Vorbedingung für eine solche Teilnahme bildet die strenge Kontrolle der Partei über ihre Beauftragten und die unentwegte Wahrung der Unabhängigkeit der Sozialdemokratie, die die volle sozialistische Umwälzung anstrebt und somit allen bürgerlichen Parteien in unversöhnlicher Feindschaft gegenübersteht;

d) unabhängig davon, ob die Beteiligung der Sozialdemokratie an der provisorischen revolutionären Regierung möglich sein wird oder nicht, muss in den weitesten Kreisen des Proletariats Propaganda gemacht werden für die Idee eines ständigen Druckes auf die provisorische Regierung durch das bewaffnete und von der Sozialdemokratie geführte Proletariat zum Zwecke der Verteidigung, Festigung und Erweiterung der revolutionären Errungenschaften."

1 Hier ist wohl das Programm des „Bundes der Befreiung“ gemeint. [Aus Anmerkung 30 der Ausgewählten Werke, Band 3]

Kommentare