Vorwort

Vorwort

In einem revolutionären Moment ist es sehr schwer, mit den Ereignissen Schritt zu halten, die eine erdrückende Fülle neuen Materials für die Beurteilung der taktischen Losungen der revolutionären Parteien bringen. Die vorliegende Broschüre wurde vor den Odessaer Ereignissen geschrieben.* Wir haben schon im „Proletarij" (Nr. 9 „Die Revolution lehrt") darauf hingewiesen, dass der Gang der Ereignisse selbst jene Sozialdemokraten, die die Theorie des Aufstands als Prozess geschaffen und die Propaganda der provisorischen revolutionären Regierung abgelehnt hatten, zwang, faktisch auf die Seite ihrer Opponenten überzugehen oder diesen Übergang zu beginnen. Die Revolution lehrt zweifellos mit einer Raschheit und Gründlichkeit, die in den friedlichen Epochen der politischen Entwicklung ganz unwahrscheinlich erscheinen. Und sie lehrt, was besonders wichtig ist, nicht nur die Führer, sondern auch die Massen.

Es unterliegt gar keinem Zweifel, dass die Revolution den Arbeitermassen in Russland die sozialdemokratische Lehre beibringen wird. Die Revolution wird in der Praxis das Programm und die Taktik der Sozialdemokratie bestätigen, denn sie wird die wahre Natur der verschiedenen Gesellschaftsklassen, sie wird den bürgerlichen Charakter unserer Demokratie und die eigentlichen Bestrebungen der Bauernschaft aufzeigen, die im bürgerlich-demokratischen Sinne revolutionär sind, aber nicht die Idee der „Sozialisierung", sondern den neuen Klassenkampf zwischen der bäuerlichen Bourgeoisie und dem Landproletariat in sich bergen. Die alten Illusionen des alten Narodnikitums, die so deutlich zum Vorschein kommen z.B. im Programmentwurf der „Partei der Sozialrevolutionäre", sowohl in der Frage der Entwicklung des Kapitalismus in Russland wie in der Frage des Demokratismus unserer „Gesellschaft" und auch in der Frage der Bedeutung des vollen Sieges des Bauernaufstandes – alle diese Illusionen werden von der Revolution erbarmungslos und endgültig zerstört werden. Die verschiedenen Klassen werden in der Revolution zum ersten Mal ihre richtige politische Taufe erhalten. Diese Klassen werden aus der Revolution mit einer bestimmten politischen Physiognomie hervorgehen und sich nicht nur in den Programmen und taktischen Losungen ihrer Ideologen, sondern auch in der offenen politischen Aktion der Massen offenbaren.

Kein Zweifel, dass die Revolution uns und die Volksmassen lehren wird. Doch für die kämpfende politische Partei ist jetzt die Frage die, ob wir imstande sein werden, der Revolution irgendwelche Lehren zu erteilen, ob wir imstande sein werden, die Richtigkeit unserer sozialdemokratischen Lehren und unsere Verbindung mit der einzigen konsequent revolutionären Klasse, dem Proletariat, zu benützen, um der Revolution den proletarischen Stempel aufzudrücken, um die Revolution nicht nur in Worten, sondern in der Tat bis zum wirklich entscheidenden Siege zu führen, um die Unbeständigkeit, die Halbheit und den Verrat der demokratischen Bourgeoisie zu paralysieren.

Auf dieses Ziel müssen wir alle unsere Anstrengungen richten. Ob wir es erreichen, das hängt einerseits von der Richtigkeit unserer Einschätzung der politischen Situation und von der Richtigkeit unserer taktischen Losungen, anderseits von der Unterstützung dieser Losungen durch die reale Kampfkraft der Arbeitermassen ab. Auf die Befestigung und Ausdehnung unserer Verbindungen mit der Masse ist die gesamte übliche, reguläre, laufende Arbeit aller Organisationen und Gruppen unserer Partei gerichtet: die Propaganda-, Agitations- und Organisationsarbeit. Diese Arbeit ist stets notwendig, aber in einem revolutionären Moment kann sie weniger denn je als ausreichend erachtet werden. In einem solchen Moment drängt die Arbeiterklasse instinktiv zur offenen revolutionären Aktion, und wir müssen es verstehen, die Aufgaben dieser Aktion richtig zu stellen, um dann die Kenntnis dieser Aufgaben und das Verständnis für dieselben möglichst weit zu verbreiten. Man darf nicht vergessen, dass sich hinter dem landläufigen Pessimismus gegenüber unserer Verbindung mit der Masse jetzt besonders häufig bürgerliche Auffassungen über die Rolle des Proletariats in der Revolution verbergen. Wir müssen zweifellos noch lange, sehr lange an der Erziehung und Organisation der Arbeiterklasse arbeiten, jetzt aber kommt es vor allem darauf an, wo der wichtigste politische Schwerpunkt dieser Erziehung und Organisation liegen soll. In den Gewerkschaften und in den legalen Vereinen, oder im bewaffneten Aufstand, auf dem Gebiete der Schaffung einer revolutionären Armee und einer revolutionären Regierung? Das eine wie das andere fördert die Schulung und Organisation der Arbeiterklasse. Das eine wie das andere ist natürlich unerlässlich. Doch jetzt, in dieser Revolution, dreht sich die ganze Frage darum, wo der Schwerpunkt der Erziehung und Organisation der Arbeiterklasse liegen wird, im ersten oder im zweiten.

Der Ausgang der Revolution hängt davon ab, welche Rolle die Arbeiterklasse spielen wird: die eines Helfers der Bourgeoisie, der zwar auf den Absolutismus einen mächtigen Druck ausübt, aber politisch machtlos ist, oder aber die Rolle des Führers der Volksrevolution. Die zielbewussten Vertreter der Bourgeoisie fühlen das sehr gut. Gerade deshalb preist eben das „Oswoboschdjenije" die Akimow-Richtung, den „Ökonomismus" in der Sozialdemokratie, der jetzt die Gewerkschaften und die legalen Vereine in den Vordergrund stellt. Gerade deshalb begrüßt eben Herr Struve (Nr. 72 des „Oswoboschdjenije") die prinzipiellen Tendenzen der Akimow-Richtung im Neu-Iskrismus. Gerade deshalb zieht er gegen die verhasste revolutionäre Engherzigkeit der Beschlüsse des 3. Parteitages der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands los.

Richtige taktische Losungen der Sozialdemokratie sind jetzt für die Führung der Massen von besonders ernster Bedeutung. Nichts ist gefährlicher als die Herabsetzung der Bedeutung prinzipienfester taktischer Losungen in revolutionärer Zeit. Die „Iskra" z.B. geht in Nr. 104 faktisch auf die Seite ihrer Gegner innerhalb der Sozialdemokratie über, spricht aber zugleich geringschätzend von der Bedeutung der Losungen und taktischen Beschlüsse, die dem Leben vorangehen und den Weg zeigen, den die Bewegung, begleitet von einer Reihe von Misserfolgen, Irrtümern usw., einschlägt.1 Und doch ist für eine Partei, die das Proletariat im Geiste konsequent marxistischer Prinzipien führen und nicht bloß hinter den Ereignissen einher trotten will, die Ausarbeitung richtiger taktischer Beschlüsse von gewaltiger Bedeutung. Die Resolutionen des 3. Parteitages der russischen sozialdemokratischen Arbeiterpartei und der Konferenz des abgespaltenen Teiles der Partei** enthalten die genauesten, aufs Beste durchdachten und vollständigsten Darlegungen der taktischen Ansichten, nicht wie sie zufällig von einzelnen Parteischriftstellern geäußert, sondern wie sie von den verantwortlichen Vertretern des sozialdemokratischen Proletariats angenommen worden sind. Unsere Partei steht allen anderen voran, weil sie ein genaues, von allen angenommenes Programm besitzt. Sie muss allen anderen Parteien auch in ihrem strengen Verhalten zu ihren taktischen Resolutionen ein Beispiel geben, im Gegensatz zum Opportunismus der demokratischen Bourgeoisie aus dem „Oswoboschdjenije" und zur revolutionären Phrase der Sozialrevolutionäre, die erst während der Revolution auf den Gedanken kamen, mit dem „Entwurf" eines Programms hervorzutreten und sich zum ersten Mal mit der Frage zu befassen, ob das eine bürgerliche Revolution ist, die da vor ihren Augen verläuft.

Aus diesem Grunde erachten wir es als die dringendste Angelegenheit der revolutionären Sozialdemokratie, die taktischen Resolutionen des 3. Parteitages der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands und die der Konferenz sorgfältig zu studieren, die in ihnen enthaltenen Abweichungen von den Prinzipien des Marxismus festzustellen und sich über die konkreten Aufgaben des sozialdemokratischen Proletariats in der demokratischen Revolution klar zu werden. Dieser Arbeit ist denn auch die vorliegende Broschüre gewidmet. Die Überprüfung unserer Taktik vom Gesichtspunkte der marxistischen Prinzipien und der Lehren der Revolution ist auch für den notwendig, der die Einheitlichkeit der Taktik als Grundlage für die künftige volle Einigung der ganzen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands real vorbereiten und sich nicht bloß auf mahnende Reden beschränken will.

Juli 1905

N. Lenin

* Gemeint ist der Aufstand auf dem Panzerkreuzer „Fürst Potemkin" [Fußnote des Verfassers zur Ausgabe vom Jahre 1908. D. Red.].

1 Gemeint ist der Artikel L. Martows „Der Aufstand im Schwarzen Meere" in Nr. 104. der „Iskra" vom 14. (1.) Juli 1905 (ohne Unterschrift).

[Anmerkung 29 der Ausgewählten Werke, Band 3:] Gemeint ist hier der Artikel Martows „Der Aufstand im Schwarzen Meere“ in Nummer 104 der „Iskra“, in welchem es heißt: „Als der unerwartet ausgebrochene Aufstand in die Hände der Sozialdemokraten eine gewaltige Kampfkraft legte, stand vor ihnen die Aufgabe der Organisation der Revolution“. Andererseits aber sprach sich Martow in demselben Artikel gegen die Vorbereitungsarbeit der Sozialdemokraten für die Organisation des allgemeinen Volksaufstandes aus.

** Am 3. Parteitag der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands (London, Mai 1905) nahmen nur die Bolschewiki teil. An der Konferenz (Genf) zu derselben Zeit beteiligten sich nur die Menschewiki, die in der vorliegenden Broschüre oft als „Neu-IskristenNeu-Iskristen" bezeichnet werden, weil sie, als sie fortfuhren, die „Iskra" herauszugeben, durch den Mund ihres damaligen Gesinnungsgenossen Trotzki erklären ließen, dass zwischen der alten und der neuen „Iskra" ein Abgrund liege. [Fußnote des Verfassers in der Ausgabe von 1908. Die Red. Die Worte von dem „Abgrund, der die alte ,Iskra' von der neuen trennt", sind einer Broschüre Trotzkis „Unsere politischen Aufgaben" (Genf 1904) entnommen, die eine Popularisierung der Ansichten des Führers der Menschewiki P. B. Axelrod darstellt. In Nr. 72 der „Iskra" vom 7. September (25. August) 1904 wurde in der Rubrik „Aus der Partei" besonders unterstrichen, dass die Broschüre „unter der Redaktion der ,Iskra'" erschienen ist]

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