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Wladimir I. Lenin 19050726 Die Revolution lehrt

Wladimir I. Lenin: Die Revolution lehrt

[Proletarij", Nr. 9, 13./26. Juli 1905. Nach Sämtliche Werke, Band 8, 1931, S. 14-24]

Meinungsverschiedenheiten innerhalb politischer Parteien und zwischen politischen Parteien werden gewöhnlich nicht nur durch prinzipielle Polemik, sondern auch durch die Entwicklung des politischen Lebens selbst entschieden. Insbesondere werden Meinungsverschiedenheiten über die Taktik einer Partei, d.h. über ihr politisches Verhalten, häufig erledigt durch den faktischen Übergang derjenigen, die die unrichtigen Ansichten vertraten, auf den richtigen Weg des Kampfes, weil der Gang der Ereignisse selbst die irrigen Ansichten kurzerhand beiseite schiebt und inhaltslos macht, so dass sie für niemanden mehr von Interesse sind. Das bedeutet natürlich nicht, dass prinzipielle Meinungsverschiedenheiten in Fragen der Taktik nicht prinzipielle Klärungen erfordern, die allein geeignet sind, die Partei auf der Höhe ihrer theoretischen Überzeugungen zu halten. Nein. Es bedeutet nur, dass es notwendig ist, die gefassten, taktischen Beschlüsse möglichst oft auf Grund der neuen politischen Ereignisse zu überprüfen. Eine solche Überprüfung ist sowohl theoretisch als auch praktisch notwendig: theoretisch, um sich tatsächlich davon zu überzeugen, ob die gefassten Beschlüsse richtig sind und was für Korrekturen infolge der später eingetretenen politischen Ereignisse geboten erscheinen; praktisch, um zu lernen, sich in gehöriger Weise von diesen Beschlüssen leiten zu lassen, zu lernen, in ihnen Direktiven zu sehen, die unmittelbar in der Praxis angewendet werden müssen.

Eine revolutionäre Epoche bietet, dank dem ungemein raschen Verlauf der politischen Entwicklung und dank der Heftigkeit der politischen Zusammenstöße, für derartige Nachprüfungen mehr Material als jede andere Epoche. In einer revolutionären Epoche geht der alte „Überbau" aus dem Leim und der neue entsteht vor aller Augen durch das selbständige Wirken der verschiedensten sozialen Kräfte, die dabei ihre wahre Natur offenbaren.

So bietet uns auch die russische Revolution fast jede Woche einen erstaunlichen Reichtum an politischem Material zur Überprüfung der vorher von uns ausgearbeiteten taktischen Beschlüsse und zu eindringlichsten Lehren für unsere gesamte praktische Tätigkeit. Man nehme die Ereignisse in Odessa. Einer der Aufstandsversuche endigte mit einem Misserfolg. Ein bitterer Misserfolg, eine schwere Niederlage. Doch welcher Abgrund trennt diesen im Kampf erlittenen Misserfolg von den Misserfolgen beim Schachern, die auf die Herren Schipow, Trubezkoi, Petrunkjewitsch, Struve und die ganze bürgerliche Sippe der Zarenknechte nieder hageln! Engels hat einmal gesagt: Geschlagene Armeen lernen gut. Diese trefflichen Worte gelten noch weit mehr für die revolutionären Armeen, die sich aus den Vertretern der fortgeschrittenen Klassen rekrutieren. Solange der alte, verfaulte, im ganzen Volke Fäulnis verbreitende Überbau nicht weggefegt ist, solange wird jede neue Niederlage immer wieder neue Armeen von Kämpfern erstehen lassen. Es gibt natürlich eine noch weit umfassendere, kollektive Erfahrung der Menschheit, die ihren Niederschlag gefunden hat in der Geschichte der internationalen Demokratie und der internationalen Sozialdemokratie, die festgehalten wurde von den führenden Vertretern des revolutionären Gedankens. Aus dieser Erfahrung schöpft unsere Partei das Material für die tägliche Propaganda und Agitation. Doch solange die Gesellschaft auf der Unterdrückung und Ausbeutung von Millionen Werktätiger beruht, ist es nur wenigen möglich, unmittelbar aus dieser Erfahrung zu lernen. Die Massen müssen vielmehr aus eigener Erfahrung lernen und jede Lektion mit schweren Opfern bezahlen. Hart war die Lektion des 9. Januar, doch sie revolutionierte die Stimmung des gesamten Proletariats in ganz Russland. Hart ist die Lektion des Odessaer Aufstandes, doch auf Grund der bereits revolutionär gewordenen Stimmung wird sie das revolutionäre Proletariat lehren, nicht nur zu kämpfen, sondern auch zu siegen. Zu den Odessaer Ereignissen sagen wir: Die revolutionäre Armee ist geschlagen – es lebe die revolutionäre Armee!

In der Nr. 7 unserer Zeitung sprachen wir bereits davon, wie der Odessaer Aufstand auf unsere Losungen: Revolutionäre Armee und revolutionäre Regierung neues Licht geworfen hat. In der vorhergegangenen Nummer sprachen wir (Artikel des Genossen W. S.) über die militärischen Lehren des Aufstandes!1 In der vorliegenden Nummer befassen wir uns abermals mit einigen politischen Lehren desselben (Artikel: „Die städtische Revolution"2). Es soll nun auch auf die Nachprüfung unserer unlängst gefassten taktischen Beschlüsse eingegangen werden, und zwar in der zweifachen Beziehung ihrer theoretischen Richtigkeit und praktischen Zweckmäßigkeit, von der wir oben sprachen.

Die politischen Tagesfragen des gegenwärtigen Augenblicks sind der Aufstand und die revolutionäre Regierung. Über diese Probleme haben die Sozialdemokraten untereinander am meisten gesprochen und gestritten. Diesen Problemen sind die wichtigsten Resolutionen des 3. Parteitages der SDAPR und der Konferenz des von der Partei abgespaltenen Teiles gewidmet. Es fragt sich nun: in welchem Licht erscheinen diese Meinungsverschiedenheiten nach dem Odessaer Aufstand? Jeder, der sich die Mühe nimmt, einerseits die Äußerungen und Artikel über diesen Aufstand und anderseits die vier zu den Fragen des Aufstandes und der provisorischen Regierung vom Parteitag und von der Konferenz der Neu-Iskristen angenommenen Resolution jetzt wieder zu lesen, sieht sogleich, wie die Letzteren unter dem Einfluss der Ereignisse faktisch auf die Seite ihrer Gegner überzugehen, d.h. nicht gemäß ihren, sondern gemäß den Resolutionen des 3. Parteitages zu handeln begannen. Es gibt keinen besseren Kritiker einer irrigen Doktrin als den Gang der revolutionären Ereignisse.

Unter dem Einfluss dieser Ereignisse gab die Redaktion der „Iskra" ein Flugblatt heraus, betitelt „Der erste Sieg der Revolution", das sich an die „russischen Bürger, Arbeiter und Bauern" wendet. Hier der wesentlichste Teil dieses Flugblattes:

Die Zeit zu kühnem Handeln und zur Unterstützung des mutigen Aufstands der Soldaten mit allen Kräften ist gekommen. Jetzt führt der Mut zum Sieg!

So beruft denn offene Versammlungen des Volkes ein und bringt ihm die Kunde von dem Zusammenbruch der militärischen Stütze des Zarismus! Bemächtigt euch, wo es nur möglich ist, der städtischen Behörden und macht sie zum Stützpunkt der revolutionären Selbstverwaltung des Volkes! Vertreibt die zaristischen Beamten und setzt allgemeine Wahlen von Körperschaften der revolutionären Selbstverwaltung fest, denen bis zum endgültigen Siege über die zaristische Regierung und bis zur Herstellung einer neuen Staatsordnung die provisorische Verwaltung der öffentlichen Angelegenheiten zu übertragen ist. Bemächtigt euch der Filialen der Staatsbank und der Waffenlager und bewaffnet das ganze Volk! Sorgt für die Verbindung zwischen den Städten, zwischen Stadt und Land und lasset die bewaffneten Bürger einander zu Hilfe eilen, überall, wo Hilfe Not tut! Stürmt die Gefängnisse und befreit die in ihnen eingekerkerten Kämpfer für unsere Sache: mit ihnen werdet ihr eure Reihen verstärken! Proklamiert überall den Sturz der zaristischen Monarchie und ihre Ersetzung durch die freie, demokratische Republik! Erhebt euch, Bürger! Die Stunde der Befreiung hat geschlagen! Es lebe die Revolution! Es lebe die demokratische Republik! Es lebe das revolutionäre Heer! Nieder mit der Selbstherrschaft!"

Wir haben also eine entschieden offene und klare Aufforderung zum allgemeinen bewaffneten Volksaufstand vor uns. Wir haben eine ebenso entschiedene, wenn auch leider versteckte und nicht konsequent ausgesprochene Aufforderung zur Bildung einer provisorischen revolutionären Regierung vor uns. Betrachten wir zuerst die Frage des Aufstandes.

Besteht ein prinzipieller Unterschied zwischen der Lösung, die diese Frage auf dem 3. Parteitag, und jener, die sie auf der Konferenz gefunden hat? Zweifellos. Wir sprachen davon bereits in der Nr. 6 des „Proletarij" („Ein dritter Schritt rückwärts"), und jetzt wollen wir uns noch auf das lehrreiche Zeugnis des „Oswoboschdjenije" berufen. In der Nr. 72 dieser Zeitschrift lesen wir, die „Mehrheit" verfalle in „abstrakten Revolutionarismus, in Umstürzlerei, in das Bestreben, mit gleich welchen Mitteln in der Volksmasse den Aufstand auszulösen und in ihrem Namen unverzüglich die Macht an sich zu reißen". „Im Gegensatz dazu hält sich die Minderheit streng an das Dogma des Marxismus und wahrt zugleich auch die realistischen Elemente der marxistischen Weltanschauung."3 Dieses Urteil der Liberalen, die durch die Vorbereitungsschule des Marxismus und durch das Bernsteinianertum hindurchgegangen sind, ist äußerst wertvoll. Die liberalen Bourgeois haben dem revolutionären Flügel der Sozialdemokratie stets „abstrakten Revolutionarismus und Umstürzlerei" vorgeworfen und den opportunistischen Flügel stets wegen der „realistischen" Art seiner Fragestellung gelobt. Die „Iskra" selbst musste (siehe in der Nr. 73 die Bemerkung über die Billigung des „Realismus" der Broschüre des Genossen Akimow durch Herrn Struve) zugeben, dass „realistisch" in der Sprache des „Oswoboschdjenije" „opportunistisch" bedeutet.4 Die Herren vom „Oswoboschdjenije" kennen keinen andern Realismus als den kriecherischen; die revolutionäre Dialektik des marxistischen Realismus, der die Kampfaufgaben der fortgeschrittensten Klasse unterstreicht und im Bestehenden die Elemente seines Unterganges entdeckt, ist ihnen vollkommen fremd. Die Charakteristik der zwei Richtungen in der Sozialdemokratie durch das „Oswoboschdjenije" bestätigt somit ein übriges Mal die in unserer Literatur bereits bewiesene Tatsache, dass die „Mehrheit" der revolutionäre, die „Minderheit" der opportunistische Flügel der russischen Sozialdemokratie ist.

Das „Oswoboschdjenije" erkennt durchaus an, dass im Vergleich zum Parteitag „die Konferenz der Minderheit sich zum bewaffneten Aufstand ganz anders verhält". Und in der Tat, die Resolution der Konferenz schlägt sich erstens selbst ins Gesicht, indem sie die Möglichkeit eines planmäßigen Aufstandes bald verneint (Punkt 1), bald zugibt (Punkt d), und beschränkt sich zweitens auf die Aufzählung der allgemeinen Bedingungen für die „Vorbereitung des Aufstandes", nämlich a) Erweiterung der Agitation, b) Stärkung der Verbindung mit der Massenbewegung, c) Entwicklung des revolutionären Bewusstseins, d) Herstellung der Verbindung zwischen den verschiedenen Orten, e) Heranziehung nicht-proletarischer Gruppen zur Unterstützung des Proletariats. Dagegen stellt die Resolution des Parteitags direkt positive Losungen auf, anerkennt, dass die Bewegung bereits zur Notwendigkeit des Aufstandes geführt hat, und ruft dazu auf, das Proletariat für den unmittelbaren Kampf zu organisieren, die energischsten Maßnahmen zu seiner Bewaffnung zu ergreifen und in der Agitation und Propaganda „nicht nur die politische Bedeutung" des Aufstandes (darauf beschränkt sich im Grunde genommen die Resolution der Konferenz), sondern auch seine praktisch-organisatorische Seite zu erläutern.

Um die Verschiedenheit der beiden Lösungen der Frage klarer zu machen, erinnern wir an die Entwicklung der sozialdemokratischen Auffassungen über das Problem des Aufstandes seit der Entstehung der proletarischen Massenbewegung. Die erste Stufe. Das Jahr 1897. In Lenins Schrift „Die Aufgaben der russischen Sozialdemokraten" heißt es:

„ … jetzt die Frage zu entscheiden, zu welchen Mitteln die Sozialdemokratie greifen wird, um den unmittelbaren Sturz der Selbstherrschaft herbeizuführen, ob sie den Aufstand oder den politischen Massenstreik oder eine andere Angriffsmethode dazu wählen wird… wäre dasselbe, wie wenn Generale, ohne eine Armee gesammelt zu haben, einen Kriegsrat veranstalteten" (S. 18).

Wie wir sehen, ist hier nicht einmal die Rede von der Vorbereitung des Aufstandes, sondern nur von der Sammlung der Armee, d.h. von der Propaganda, der Agitation, der Organisierung im Allgemeinen.

Die zweite Stufe. Das Jahr 1902. In Lenins Schrift: „Was tun?" lesen wir:

Man stelle sich … einen Volksaufstand vor. In der heutigen Zeit (Februar 1902) werden wohl alle damit einverstanden sein, dass wir an ihn denken und uns auf ihn vorbereiten müssen. Aber wie vorbereiten? Das Zentralkomitee kann doch nicht überall Agenten zur Vorbereitung des Aufstandes ernennen! Selbst wenn wir ein ZK hätten, so würde es in den gegenwärtigen russischen Verhältnissen durch solche Ernennungen absolut nichts erreichen. Im Gegenteil, das Netz von Agenten, das sich bei der Arbeit für die Herausgabe und Verbreitung der allgemeinen Zeitung von selbst bildet, brauchte nicht zu „sitzen" und auf die Losung zum Aufstand zu „warten", sondern es würde gerade eine solche regelmäßige Arbeit leisten, die ihm im Moment des Aufstandes die größte Wahrscheinlichkeit des Erfolges garantiert. Gerade eine solche Arbeit würde unbedingt die Verbindung mit den breitesten Massen der Arbeiter und mit allen Schichten, die mit dem Absolutismus unzufrieden sind, festigen, was für den Aufstand von so großer Wichtigkeit ist. Gerade in einer solchen Arbeit würde sich die Fähigkeit herausbilden, die allgemeine politische Lage richtig einzuschätzen, und folglich auch die Fähigkeit, den für den Aufstand passenden Moment zu wählen. Gerade eine solche Arbeit würde alle örtlichen Organisationen lehren, gleichzeitig auf ein und dieselben, ganz Russland bewegenden politischen Fragen und Ereignisse zu reagieren, auf diese „Ereignisse" möglichst energisch, möglichst einheitlich und zweckmäßig zu antworten – der Aufstand ist doch aber im Grunde die energischste, die einheitlichste und zweckmäßigste „Antwort" des gesamten Volkes an die Regierung. Gerade eine solche Arbeit würde endlich alle revolutionären Organisationen an allen Enden Russlands dazu anhalten, ständig und. gleichzeitig streng konspirative Verbindungen zu unterhalten, die die faktische Einheit der Partei schaffen – Verbindungen, ohne die es unmöglich ist, den Plan des Aufstandes kollektiv zu beraten, und die notwendigen Vorbereitungsmaßnahmen am Vorabend des Aufstandes zu treffen, über die das strengste Geheimnis gewahrt werden muss" (S. 136 u. 137)

Was für Thesen stellt diese Betrachtung zur Frage des Aufstandes auf? 1. Die Unsinnigkeit der Idee einer „Vorbereitung" des Aufstandes im Sinne der Ernennung besonderer Agenten, die „sitzen" und die Losungen „abwarten". 2. Die Notwendigkeit einer auf der gemeinsamen Arbeit aufgebauten Verbindung zwischen den Menschen und den Organisationen, die die regelmäßige Arbeit leisten. 3. Die Notwendigkeit, auf diese Weise die Verbindungen zwischen den proletarischen (Arbeiter) und den nichtproletarischen (alle Unzufriedenen) Schichten zu festigen. 4. Die Notwendigkeit der gemeinsamen Herausbildung der Fähigkeit, die politische Lage richtig einzuschätzen und auf die politischen Ereignisse zweckmäßiger zu „reagieren". 5. Die Notwendigkeit des tatsächlichen Zusammenschlusses aller lokalen revolutionären Organisationen.

Hier haben wir also bereits die Losung der Vorbereitung des Aufstandes klar vor uns, doch ist das noch kein direkter Aufruf zum Aufstand, noch nicht die Feststellung, dass die Bewegung „bereits" zur Notwendigkeit des Aufstandes „geführt habe", dass man sich unbedingt sofort bewaffnen, sich in Kampfgruppen organisieren müsse usw. Wir haben eine Analyse gerade jener Bedingungen für die Vorbereitung des Aufstandes vor uns, die in der Konferenzresolution (im Jahre 1905!!) fast buchstäblich wiederholt werden.

Die dritte Stufe. Das Jahr 1905. In der Zeitung „Wperjod" und nachher in der Resolution des 3. Parteitages wird ein weiterer Schritt vorwärts getan: außer der allgemein-politischen Vorbereitung des Aufstandes wird die direkte Losung aufgestellt, sich sogleich für den Aufstand zu organisieren und zu bewaffnen und besondere (Kampf-) Gruppen zu bilden, denn die Bewegung „hat bereits zur Notwendigkeit des bewaffneten Aufstandes geführt" (Punkt 2 der Resolution des Parteitages).

Aus diesem kleinen geschichtlichen Rückblick ergeben sich drei unzweifelhafte Schlussfolgerungen: 1. Eine direkte Lüge ist die Behauptung der liberalen Bourgeois, der Leute vom „Oswoboschdjenije", dass wir in einen „abstrakten Revolutionarismus und in Umstürzlerei" verfallen. Wir stellen und stellten diese Frage stets gerade nicht „abstrakt", sondern auf konkreter Grundlage, wobei wir sie in den Jahren 1897, 1902 und 1905 in verschiedener Weise lösten. Die Anklage der Umstürzlerei ist eine opportunistische Phrase der Herren liberalen Bourgeois, die sich darauf vorbereiten, die Interessen der Revolution zu verraten und ihr in der Periode des entscheidenden Kampfes gegen die Selbstherrschaft in den Rücken zu fallen. 2. Die Konferenz der Neu-Iskristen blieb in der Frage des Aufstandes auf der zweiten Entwicklungsstufe stehen. Im Jahre 1905 wiederholte sie lediglich das, was nur im Jahre 1902 ausreichend war. Sie blieb um etwa drei Jahre hinter der revolutionären Entwicklung zurück. 3. Unter dem Eindruck der lebendigen Lehren des Odessaer Aufstandes erkannten die Neu-Iskristen die Notwendigkeit, nicht gemäß den Weisungen ihrer eigenen Resolution, sondern gemäß der Resolution des Parteitages zu handeln, faktisch an, d.h. sie erkannten, dass die Aufgabe des Aufstandes unaufschiebbar ist und dass direkte und unverzügliche Aufrufe zur unmittelbaren Organisierung des Aufstandes und der Bewaffnung unbedingt notwendig sind.

Die rückständige sozialdemokratische Doktrin ist von der Revolution sofort beiseite geschoben worden. Wir haben wiederum ein Hindernis weniger für die praktische Vereinigung mit den Neu-Iskristen auf Grund gemeinsamer Arbeit, was selbstverständlich noch nicht die völlige Beseitigung der prinzipiellen Differenzen bedeutet. Wir können uns nicht damit zufrieden geben, dass unsere taktischen Losungen hinter den Ereignissen einher trotten, sich ihnen anpassen, nachdem sie eingetroffen sind. Wir müssen danach streben, dass diese Losungen uns vorwärts führen, unseren weiteren Weg beleuchten und uns über die unmittelbaren Aufgaben des Augenblicks, hinaus erheben. Um einen konsequenten und beharrlichen Kampf zu führen, darf die Partei des Proletariats ihre Taktik nicht von Fall zu Fall bestimmen. Sie muss in ihren taktischen Beschlüssen die Treue zu den Prinzipien des Marxismus mit der richtigen Einschätzung der unmittelbaren Aufgaben der revolutionären Klasse vereinigen.

Nehmen wir die andere aktuelle politische Frage, die der provisorischen revolutionären Regierung. Hier sehen wir wohl noch klarer, dass die Redaktion der „Iskra" in ihrem Flugblatt tatsächlich mit den Losungen der Konferenz bricht und sich die taktischen Losungen des 3. Parteitages zu eigen macht. Die unsinnige Theorie, „sich" (in der demokratischen Umwälzung) „nicht das Ziel zu stellen, in der provisorischen Regierung die Macht zu ergreifen oder sie mit anderen zu teilen", ist über Bord geworfen, denn das Flugblatt ruft direkt dazu auf, „sich der städtischen Behörden zu bemächtigen" und eine „provisorische Verwaltung der öffentlichen Angelegenheiten" zu organisieren. Die unsinnige Losung, „die Partei der äußersten revolutionären Opposition zu bleiben" (unsinnig in der Epoche der Revolution, obwohl durchaus richtig in der Epoche des nur parlamentarischen Kampfes), wurde faktisch beiseite gelegt, denn die Odessaer Ereignisse zwangen die „Iskra", zu verstehen, dass es lächerlich ist, sich in der Zeit des Aufstandes auf diese Losung zu beschränken, und dass man aktiv zum Aufstand, zu seiner allerenergischsten Durchführung und zur Ausnutzung der revolutionären Macht aufrufen muss. Die unsinnige Losung der „revolutionären Kommunen" wurde ebenfalls fallen gelassen, denn die Ereignisse in Odessa nötigten die „Iskra", einzusehen, dass diese Losung nur die Verwechslung der demokratischen Umwälzung mit der sozialistischen erleichtert. Aber diese beiden grundverschiedenen Dinge zu verwechseln, wäre lediglich Abenteurertum, das von einer völligen Unklarheit des theoretischen Denkens zeugen würde und geeignet wäre, die Verwirklichung jener dringenden praktischen Maßnahmen zu erschweren, die der Arbeiterklasse in der demokratischen Republik den Kampf für den Sozialismus erleichtern.

Man erinnere sich an die Polemik zwischen der neuen „Iskra" und dem „Wperjod", an ihre Taktik des „nur von unten" – im Gegensatz zu der Taktik des „Wperjod" „sowohl von unten als auch von oben", und man wird sehen, dass sich die „Iskra" unsere Lösung der Frage zu eigen gemacht hat, indem sie jetzt direkt selbst zum Handeln von oben aufruft. Man erinnere sich an jene Befürchtungen der „Iskra", dass wir uns durch die Verantwortung für den Staatsschatz, die Finanzen usw. kompromittieren könnten, und man wird sehen, dass die „Iskra", wenn nicht durch die Kraft unserer Argumente, so durch die Ereignisse selbst von der Richtigkeit dieser Argumente überzeugt wurde, denn die „Iskra" empfiehlt in dem erwähnten Flugblatt direkt, „sich der Filialen der Staatsbank zu bemächtigen". Die unsinnige Theorie, dass die revolutionär-demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft, ihre gemeinsame Beteiligung an der provisorischen revolutionären Regierung ein „Verrat am Proletariat" oder vulgärer Jaurèsismus (Millerandismus) sei, haben die Neu-Iskristen einfach vergessen, da sie doch jetzt selbst die Arbeiter und Bauern auffordern, sich der städtischen Behörden, der Filialen der Staatsbank und der Waffenlager zu bemächtigen, „das ganze Volk zu bewaffnen" (offenbar soll jetzt schon mit Waffen und nicht nur mit der „brennenden Notwendigkeit der Selbstbewaffnung" ausgerüstet werden), den Sturz der Zarenmonarchie zu proklamieren usw. – mit einem Wort, ganz nach dem Programm zu handeln, das in der Resolution des 3. Parteitages gegeben ist, ebenso zu handeln, wie es die Losung der revolutionär-demokratischen Diktatur und der provisorischen revolutionären Regierung vorzeichnet.

Allerdings erwähnt die „Iskra" in ihrem Flugblatt weder die eine noch die andere Losung. Sie bringt eine Aufzählung und Beschreibung aller Maßnahmen, deren Gesamtheit für eine provisorische revolutionäre Regierung charakteristisch ist, aber sie vermeidet dieses Wort. Doch vergebens. Faktisch übernimmt sie selbst diese Losung. Das Fehlen der klaren Benennung ist dabei nur geeignet, in den Köpfen der Kämpfer Schwankungen, Unentschlossenheit und Verwirrung hervorzurufen. Die Furcht vor dem Worte „revolutionäre Regierung", „revolutionäre Macht" ist eine rein anarchistische und eines Marxisten unwürdige Furcht. Um sich der Behörden und Banken zu „bemächtigen", „Wahlen auszuschreiben", „die provisorische Verwaltung der öffentlichen Angelegenheiten" zu übertragen, „den Sturz der Monarchie zu proklamieren“ – dazu ist es unbedingt nötig, zuerst eine provisorische revolutionäre Regierung zu bilden und zu proklamieren, die die gesamte militärische und politische Tätigkeit des revolutionären Volkes zusammenfasst und ihr ein einheitliches Ziel gibt. Ohne diese Zusammenfassung, ohne die allgemeine Anerkennung der provisorischen Regierung durch das revolutionäre Volk und ohne Übergang der ganzen Macht an dieselbe bleibt jegliches „sich-der-Behörden-bemächtigen", jegliche „Proklamierung" der Republik bloß ein bedeutungs- und wertloser Verschwörer-Streich. Wenn die revolutionäre Energie des Volkes nicht durch eine revolutionäre Regierung zusammengefasst wird, so wird sie sich nach dem ersten Erfolg des Aufstandes zersplittern, in Kleinigkeiten aufreiben, den gesamt-nationalen Umfang verlieren, die Aufgabe nicht bewältigen, das Ergriffene zu halten und das Proklamierte durchzuführen.

Wir wiederholen: faktisch, in Wirklichkeit, sind jene Sozialdemokraten, die die Beschlüsse des 3. Parteitages der SDAPR nicht anerkennen, durch den Gang der Ereignisse gezwungen, gerade nach den auf diesem Parteitage aufgestellten Losungen zu handeln und die Losungen der Konferenz über Bord zu werfen. Die Revolution lehrt. Unsere Aufgabe ist es, die Lehren der Revolution restlos zu verwerten, unsere taktischen Losungen mit unserem Verhalten und mit unseren nächsten Aufgaben in Einklang zu bringen, in den Massen das richtige Verständnis für diese nächsten Aufgaben zu verbreiten und in umfassendster Weise daran zu gehen, die Arbeiter überall für die Kampfzwecke des Aufstandes, für die Schaffung einer revolutionären Armee und die Bildung einer provisorischen revolutionären Regierung zu organisieren.

1 Gemeint ist der Artikel „Fürst Potemkin von Taurien" von S. (W. Sewerzew) in Nr. 8. des „Proletarij" vom 4./17. Juli 1905.

2 Gemeint ist der Artikel „Die städtische Revolution" von „Guesdist" (G. D. Leiteisen) in Nr. 9. des „Proletarij" vom 13./26. Juli 1905.

3 Das Zitat aus Nr. 72 ist dem Art. „Die Spaltung in der russischen Sozialdemokratie", gezeichnet „N-tsch", entnommen. Auf diesen Artikel kommt Lenin auch im Vorwort zu den „Zwei Taktiken" und im Vorwort zur dritten Ausgabe der Broschüre „Die Aufgaben der russischen Sozialdemokraten" zurück. Denselben Artikel benützt Lenin auch, um die Gemeinsamkeit der Tendenzen der Oswoboschdjenije-Leute und der Neu-Iskristen zu illustrieren, wobei er ausführliche Zitate aus dem Artikel bringt. (Siehe das Vorwort der „Zwei Taktiken")

4 Gemeint ist der Artikel „Es ist Zeit", gezeichnet von S. Rostowez in Nr. 73 und 74 der „Iskra". Von diesem Artikel und der Anmerkung, mit der ihn die Redaktion der „Iskra" versah, ist auch im ersten Kapitel des „Nachworts" zu den „Zwei Taktiken" die Rede.

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