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Wladimir I. Lenin 19070102 Anlässlich eines Artikels im Organ des „Bund"

Wladimir I. Lenin: Anlässlich eines Artikels im Organ des „Bund"

[Proletarij" Nr. 10, 2. Januar 1907 (20. Dezember 1906). Nach Sämtliche Werke, Band 10, Wien-Berlin 1930, S. 285-292]

Unsere Zeitung ist gezwungen, illegal zu erscheinen, und ist daher der Möglichkeit beraubt, halbwegs regelmäßig die sozialdemokratischen Zeitschriften zu verfolgen, die in Russland in nicht-russischen Sprachen erscheinen. Indessen, ohne engen und ständigen Kontakt der Sozialdemokraten aller Nationalitäten Russlands kann unsere Partei nicht wirklich zu einer Partei ganz Russlands werden.

Wir wenden uns daher mit der dringenden Bitte an alle Genossen, die lettisch, finnisch, polnisch, jüdisch, armenisch, georgisch und andere Sprachen verstehen und in diesen Sprachen erscheinende sozialdemokratische Zeitungen erhalten, uns dabei zu helfen, die russischen Leser über den Stand der sozialdemokratischen Bewegung und über die taktischen Auffassungen der nichtrussischen Sozialdemokraten zu informieren. Die Hilfe braucht nicht nur darin zum Ausdruck zu kommen, dass uns die betreffenden Genossen Übersichten über die sozialdemokratische Literatur geben, die über eine bestimmte Frage erschienen ist (analog den im „Proletarij" veröffentlichten Artikeln über die Polemik der polnischen Sozialdemokraten mit der PPS und über die Ansichten der Letten über den Partisanenkampf1), sondern auch in der Einsendung von Übersetzungen einzelner Artikel oder auch ganz besonders wichtiger Stellen aus dem einen oder anderen Artikel.

Vor kurzem übersandte uns ein Genosse die Übersetzung des Artikels: „Die Plattform der Wahlkampagne", die mit der Unterschrift M. in Nr. 208 (vom 2. Dezember [19. November]) des Organs des „Bund" „Volkszeitung" veröffentlicht worden war. Es entzieht sich unserer Beurteilung, inwieweit dieser Artikel die Ansichten der gesamten Redaktion zum Ausdruck bringt, jedenfalls aber spiegelt er gewisse Strömungen unter den jüdischen Sozialdemokraten wider. Auch die russischen Sozialdemokraten, die nur an bolschewistische oder menschewistische Fragestellungen gewöhnt sind, müssen solche Strömungen kennenlernen. Wir lassen die Übersetzung dieses Artikels folgen:

Die Energie und der Einfluss, die unsere Partei bei den Wahlen zu entfalten vermag, hängen vor allem von der Klarheit und Bestimmtheit unserer Position und unserer Losungen ab. Wir stehen vor wichtigen staatlichen und politischen Fragen, und unsere Aufgabe besteht darin, diese Fragen so klar und bestimmt zu formulieren, dass auf sie nur eine Antwort gegeben werden kann, und zwar nur unsere Antwort. Wenn unsere Position nicht genügend bestimmt sein wird, dann werden uns keine noch so vervollkommneten organisatorischen Apparate helfen. Die Bedeutung der Plattform wird im vollen Umfange durch die Klarheit unserer Position bestimmt.

Der 7. Parteitag des „Bund“ hat in allgemeinen Zügen unsere Taktik festgelegt. Sie besteht in folgendem: Die Auflösung der Duma hat breiten Schichten der Bevölkerung klar gezeigt, dass es nicht die geringste Möglichkeit gibt, auf friedlichem Wege Land und Freiheit zu erlangen, und dass der einzige Ausweg der bewaffnete Aufstand ist. Das bedeutet keineswegs, dass die Wahlen zur neuen Duma die revolutionäre Taktik in eine friedlich-konstitutionelle Taktik umwandeln, denn die Wahlen stehen im Zeichen des Bewusstseins der Notwendigkeit der revolutionären Taktik; der Wähler wird von seinem Abgeordneten die Verwandlung der Duma in ein revolutionäres Organ der Volksmassen fordern. Unsere Aufgabe bei den Wahlen besteht darin, den Wählern diese Lage klar zu machen, die die Umwandlung der Wahlen selbst in eine Kampfarena zur Mobilisierung der revolutionären Volksmassen erheischt.

Während der Periode der Dumasessionen und um so mehr seit Auflösung der Duma hat das Land in der Entwicklung seines politischen Bewusstseins einen mächtigen Schritt vorwärts getan, infolgedessen rechnen auch die revolutionären Parteien auf einen Wahlerfolg. Bei den ersten Wahlen hat der kleinbürgerliche Wähler seine Stimme der Kadettenpartei gegeben, er wollte hierdurch seinen flammenden Protest gegen das viehische Treiben der Regierung zum Ausdruck bringen. Dieser Wähler, der seine konstitutionellen Illusionen noch nicht verloren hatte, war überzeugt, dass die Kadetten ihm Land und Freiheit verschaffen würden. Die Dumataktik hat diese Illusionen zertrümmert und den kleinbürgerlichen Wähler davon überzeugt, dass Land und Freiheit nur durch Kampf und keinesfalls auf friedlichem Wege errungen werden können. Der Wähler stand vor der Frage, wie der Kampf geführt werden solle und wer sich für diesen Kampf eigne: die Kadetten mit ihrem diplomatischen Parlamentarismus und bestenfalls mit ihrer Waffe der „passiven Resistenz", oder die revolutionären Parteien mit ihrer Taktik des Kämpfens. Wenn aber der Wähler vor der Frage steht, wie wirkliche Freiheit zu erringen sei, wird er natürlich erkennen, dass sich nicht etwa die konstitutionellen, sondern nur die revolutionären Parteien für diesen Kampf eignen.

Das haben die Kadetten begriffen, sie fahren darüber aus der Haut und bemühen sich, auf alle Lehren zu pfeifen, die ihnen das Leben erteilt hat; sie bemühen sich, die Entwicklung des politischen Bewusstseins zu hemmen und das politische Bewusstsein wieder auf die Stufe hinunterzudrücken, auf der es sich vor den ersten Wahlen befunden hat. „Keinen Schritt weiter!", schreien sie, vergesst, was euch die Geschichte gelehrt hat; die Aufgabe der neuen Wahlen – schreiben sie – besteht darin, die politischen Bedingungen zu schaffen, unter denen die erste Duma gearbeitet hat. Das Volk muss wieder die frühere Dumamehrheit in die Duma senden und wird dadurch in der politischen Lage des Landes wieder den Augenblick herbeiführen, wo ein verantwortliches Ministerium der Dumamehrheit der einzige Ausweg war (Rjetsch" Nr. 1892). „Wenn Russland eine wirkliche Konstitution braucht", erklärt die „Rjetsch" in Nr. 196, „und eine wirkliche Volksvertretung, dann wird das Volk in die Duma Vertreter senden, die das wiederholen werden, was die erste Duma in ihrer Antwortadresse auf die Thronrede3 ausgesprochen hat, und die das in Angriff nehmen werden, wozu man der ersten Duma nicht die Möglichkeit gegeben hat." Unwillkürlich entsteht die Frage: was wird geschehen, wenn man auch der zweiten Duma „nicht die Möglichkeit gibt", das zu tun, was die erste Duma zu tun gedachte? Auf diese Frage antworten die Kadetten, dass „die Regierung vor dem festen, friedlich und gesetzlich ausgedrückten Willen der Wähler wird zurückweichen müssen"

Rjetsch" Nr. 195). Die Kadetten begreifen sehr wohl, dass ihre Stärke auf den konstitutionellen Illusionen beruht, und sind daher aus allen Kräften bemüht, den Wählern jene Meinung einzuimpfen, die am Vorabend der ersten Wahlen vorherrschte, und ihnen den Glauben an die allmächtige Kraft des „festen, friedlich und gesetzlich ausgedrückten Willens der Wähler" zu suggerieren. Die Stärke der revolutionären Parteien besteht nicht in dem Glauben der Wähler „an die allmächtige Kraft des festen, friedlich und gesetzlich ausgedrückten Willens der Wähler", sondern gerade umgekehrt darin, dass sie an diese Kraft nicht glauben, dass sie klar die Notwendigkeit des revolutionären Kampfes begreifen.

Unsere Aufgabe dem Wähler gegenüber besteht folglich darin, ihm in der allerentschiedensten Form die Frage vorzulegen: wünschst du, dass die frühere Dumamehrheit mit ihrer elastischen Taktik wiederhergestellt wird, die nicht fähig war, auch nur irgend etwas durchzusetzen; wünschst du, dass die zukünftige Duma nur das „wiederholt", was die erste Duma ausgesprochen hat, oder wünschst du, dass sich die zukünftige Duma nicht auf leere Redensarten beschränkt und wirksamere Kampfesmittel zur Anwendung bringt? Soll die neue Duma „zu der politischen Lage" der Zeit vom Juni und Juli „führen", die keine Ergebnisse gezeitigt hat, oder soll sie einen Schritt vorwärts tun auf dem Wege zum wirklichen Siege des Volkes?

Diese Frage muss uns als Plattform des Wahlkampfes dienen. Wir müssen die Kadettenpartei mit einer Atmosphäre des allergrößten Misstrauens in Bezug auf ihre Fähigkeit, Land und Freiheit zu erlangen, umgeben; wir müssen energisch und schonungslos die Kampfesweise der passiven Resistenz kritisieren, die sie in Helsingfors ausgedacht haben, und dem Volk die Augen darüber offnen, wie ohnmächtig und inkonsequent die Kampfmethoden der Kadetten sind.

Nur unter dieser Voraussetzung wird die Periode der zweiten Duma einen Schritt vorwärts bedeuten gegenüber der Periode der ersten Duma."

Wenn wir diesen Artikel aufmerksam lesen, sehen wir, dass sich darin ziemlich genau die Ansichten widerspiegeln, die die Delegation des „Bund" auf der letzten allrussischen Konferenz der SDAPR vertreten hat. Diese Delegation stimmte bekanntlich einerseits mit den Menschewiki für die Zulässigkeit von Blocks mit den Kadetten, anderseits mit den Bolschewiki für eine gründliche Korrektur des vom Zentralkomitee vorgelegten „Entwurfs der Wahlplattform" (Aufnahme der Losung Republik, Hinweise auf den Aufstand, genaue Kennzeichnung der Parteien, Abänderung im Sinne einer bestimmteren Definition des Klassenwesens der sozialdemokratischen Partei usw.: siehe Resolution der Konferenz über die „Abänderungsanträge" zur Plattform in Nr. 8 des „Proletarij").

Der von uns angeführte Artikel des Genossen M. erweckt deshalb den Anschein eines bolschewistischen Artikels, weil wir hier nur die linke Hand des „Bund" sehen, während seine rechte Hand in den Artikeln verborgen ist, die Blocks mit den Kadetten verteidigen.

Jedenfalls stehen die Bundisten Blocks mit den Kadetten nicht menschewistisch gegenüber. Auf sie passt ganz besonders gut der bekannte Ausspruch: Si duo faciunt idem, non est idem, – „wenn zwei dasselbe tun, so ist es nicht dasselbe". Zwischen diesen zweien besteht ein gewisser Unterschied, und dieser Unterschied muss unweigerlich in ihrer Handlungsweise, in ihren Methoden, in den Ergebnissen ihres „Ein-und-dasselbe-tun" usw. zum Ausdruck kommen. Blocks mit den Kadetten bei den Menschewiki und Blocks mit den Kadetten bei den Bundisten sind nicht ein und dasselbe. Bei den Menschewiki stehen Blocks mit den Kadetten im vollen Einklang mit ihrer allgemeinen Taktik, – bei den Bundisten ist das nicht der Fall. Das führt dazu, dass solche Artikel, wie der oben angeführte, besonders deutlich die Zerfahrenheit der Bundisten aufdecken, die gestern einen Boykott durchgeführt haben, heute den Boykott der Witteschen Duma billigen und gleichzeitig Blocks mit den Kadetten für zulässig erklären. Bei den Menschewiki erscheinen Blocks mit den Kadetten ungezwungen als ideologische Blocks. Bei den Bundisten haben diese Blocks die Bestimmung, nur die Rolle von „technischen" Blocks zu spielen.

Die Politik aber hat ihre eigene objektive Logik, unabhängig von den Absichten dieser oder jener Personen oder Parteien. Der Bundist denkt, der Block werde nur ein technischer Block sein, die politischen Kräfte des ganzen Landes aber lenken so, dass dabei ein ideologischer Block herauskommt. Nach dem Jubel, den die menschewistische Entschließung der Konferenz bei den Kadetten hervorgerufen hat, nach dem berühmten Herostraten-Brief Plechanows im „Towarischtsch" über die „souveräne Duma" braucht man dies wohl kaum noch zu beweisen.

Man überlege sich einmal gründlich die Behauptung des Artikelschreibers: „Die Kadetten begreifen sehr wohl, dass ihre Stärke auf den konstitutionellen Illusionen beruht, und sind daher aus allen Kräften bemüht", diese Illusionen „den Wählern einzuimpfen."

Die Stärke der Kadetten beruht auf den konstitutionellen Illusionen" Ist das richtig, und was bedeutet das eigentlich? Wenn es nicht richtig ist, wenn die Stärke der Kadetten darauf beruht, dass sie hervorragende Vertreter der bürgerlichen Demokratie in der russischen bürgerlichen Revolution sind, dann ist die allgemeine taktische Linie des Menschewismus oder des rechten Flügels der Sozialdemokratie richtig. Wenn es aber richtig ist, wenn die Stärke der Kadetten nicht in der Stärke der bürgerlichen Demokratie, sondern in der Stärke der Illusionen des Volkes beruht, dann ist die allgemeine taktische Linie des Bolschewismus oder des linken Flügels der Sozialdemokratie richtig.

In der bürgerlichen Revolution können die Sozialdemokraten nicht umhin, die bürgerliche Demokratie zu unterstützen, das ist der oberste Grundsatz Plechanows und seiner Getreuen; aus diesem Grundsatz zieht man direkt und unmittelbar den Schluss, die Kadetten seien zu unterstützen. Wir aber sagen, die Voraussetzung ist richtig, die Schlussfolgerung aber ist keinen Pfifferling wert, denn es muss erst einmal untersucht werden, welche Parteien oder Strömungen im gegebenen Augenblick wirklich diefürden Kampf geeignete Kraft der bürgerlichen Demokratie bilden. Sowohl die Kadetten als auch die Trudowiki und auch die Sozialrevolutionäre, sie alle sind, vom marxistischen Standpunkte, d. h. vom Standpunkte der einzigen wissenschaftlichen Analyse, „bürgerliche Demokratie". „Die Kraft" der Kadetten ist nicht die Kampfkraft der bürgerlichen Volksmasse (Bauernschaft, städtisches Kleinbürgertum), ist nicht die ökonomische und finanzielle Kraft der Gutsbesitzerklasse (Schwarzes Hundert) und der Kapitalistenklasse (Oktobristen): es ist die „Kraft" der bürgerlichen Intelligenz, die nicht eine selbständige ökonomische Klasse ist und daher keine selbständige politische Kraft darstellt; es ist also eine „Kraft", die usurpiert ist, die von dem Einfluss der bürgerlichen Intellektuellen auf andere Klassen abhängt, soweit diese es noch nicht vermocht haben, eine klare, selbständige politische Ideologie zu entwickeln, soweit sie sich der ideologischen Führung der bürgerlichen Intellektuellen unterordnen; es ist vor allem die „Kraft" der verkehrten Ansichten über das Wesen der Demokratie und über die Methode des Kampfes für die Demokratie – der Ansichten, die von den bürgerlichen Intellektuellen in der bürgerlichen Volksmasse vertreten und kultiviert werden.

Dies leugnen, heißt sich mit kindischer Einfalt an dem Klang der Wörter „Partei der Volksfreiheit" berauschen, heißt die Augen verschließen vor der allbekannten Tatsache, dass weder die Masse noch die ausschlaggebenden Persönlichkeiten der gutsbesitzerlichen und kapitalistischen Elemente hinter den Kadetten stehen.

Dies anerkennen, heißt als Tagesaufgabe der Arbeiterpartei den Kampf gegen den Einfluss der Kadetten auf das Volk anerkennen, heißt die Anerkennung dieses Kampfes, nicht weil wir von einer bürgerlichen Revolution ohne bürgerliche Demokratie träumen (ein Unsinn, den uns der rechte Flügel der Sozialdemokratie zuschreibt), sondern weil die Kadetten die Entfaltung und Auswirkung der wirklichen Kraft der bürgerlichen Demokratie hindern.

Der Partei der Kadetten gehört die Minderheit der Gutsbesitzer Russlands an (die Masse der Gutsbesitzer gehört zum Schwarzen Hundert), die Minderheit der Kapitalisten (ihre Masse gehört zu den Oktobristen). Nur bei den bürgerlichen Intellektuellen gehört die Mehrzahl, die Masse der Partei der Kadetten an. Daher das Effektvolle in der Politik der Kadetten, das politische Säuglinge oder kraftlose politische Greise verführt, das marktschreierische Tamtam, der Triumph von billigen Erfolgen, die führende Stellung in der liberalen Presse, in der bürgerlichen Wissenschaft usw. Daher auch die Aufgeblähtheit dieser Partei, die das Volk durch ihre verräterische Propaganda eines Kompromisses mit der Monarchie korrumpiert, aber tatsächlich nicht die Kraft hat, irgendein Kompromiss herbeizuführen.

Die Kadetten sind nicht die bürgerliche Demokratie, sondern der verkörperte Verrat der Bourgeoisie an der Demokratie, ebenso wie beispielsweise die französischen sozialistischen Radikalen oder die deutschen Sozialliberalen keine sozialistischen Intellektuellen, sondern der verkörperte Verrat der Intellektuellen am Sozialismus sind. Wenn man daher die bürgerliche Demokratie unterstützen will, dann muss man die ganze Aufgeblähtheit des Quasi-Demokratismus der Kadetten entlarven.

Daher wird der Revolution und der Sache der Arbeiterklasse der größte Schaden durch die Plechanowleute zugefügt, die uns unermüdlich zurufen: man muss gegen die Reaktion und nicht gegen die Kadetten kämpfen!

Werte Genossen! Darin besteht ja gerade eure Beschränktheit, dass ihr die Bedeutung unseres Kampfes gegen die Kadetten nicht begreift. Was ist der Kern und das Wesen dieses Kampfes? Etwa dass die Kadetten Bourgeois sind? Natürlich nicht. Der Kern und das Wesen dieses Kampfes bestehen darin, dass die Kadetten hohle Schwätzer sind, die das Wort Demokratie im Munde führen, während sie die kämpfende Demokratie verraten.

Weiter: Haben die Kadetten Einfluss auf die Volksmasse, auf die bürgerlich-demokratische Volksmasse? Selbstverständlich, und zwar einen ziemlich ausgedehnten Einfluss, durch eine Menge von Zeitungen usw. usw. Nun seht her: Kann man die bürgerlich-demokratische Volksmasse zum Kampf gegen die Reaktion rufen, ohne die jetzigen ideologischen Führer dieser Masse, die der Sache der bürgerlichen Demokratie schaden, zu entlarven? Das ist unmöglich, werte Genossen.

Gegen die Reaktion kämpfen, heißt vor allem, die Massen ideologisch von der Reaktion losreißen. Die Stärke und die Zähigkeit des ideologischen Einflusses der „Reaktion" auf die Massen besteht durchaus nicht in dem Einfluss des Schwarzen Hunderts, sondern gerade in dem Einfluss der Kadetten. Das ist nicht paradox. Der Schwarzhunderter ist ein offener und grober Feind, der brandschatzen, morden und zerstören kann, der aber nicht einmal einen einfachen Muschik zu überzeugen vermag. Der Kadett aber überzeugt sowohl den Muschik als auch den Kleinbürger, und zwar wovon? Davon, dass der Monarch sich nicht zu verantworten brauche, dass man auf friedlichem Wege (d. h., indem man der Monarchie die Macht lässt) die Freiheit erringen könne, dass die Ablösung nach dem Rezept der Gutsbesitzer die vorteilhafteste Art der Übergabe des Bodens an die Bauern sei usw. usw.

Deshalb kann man weder einen naiven Muschik noch einen naiven Kleinbürger von der Notwendigkeit eines ernsten Kampfes überzeugen, wenn man nicht den Einfluss der Kadettenphrasen und der Kadettenideologie auf Muschik und Kleinbürger gebrochen hat. Wer aber erklärt: „Man muss gegen die Reaktion und nicht gegen die Kadetten kämpfen", der begreift nicht die ideologischen Aufgaben des Kampfes, für den ist das Wesen des Kampfes nicht die Überzeugung der Massen, sondern die physische Einwirkung, der versteht den Kampf im vulgären Sinne: „Haut" die Reaktion, die Kadetten braucht man nicht zu „hauen".

Natürlich werden wir mit der Waffe in der Hand einstweilen nicht die Kadetten und nicht einmal die Oktobristen, sondern nur die Regierung und ihre direkten Diener schlagen – wenn wir sie aber wirklich geschlagen haben werden, dann werden die Kadetten für Geld sich ebenso für die republikanische Demokratie ins Zeug legen, wie sie sich jetzt (für das Professorengehalt oder für das Advokatenhonorar) für die monarchistische Demokratie ins Zeug legen. Wenn man die Reaktion aber wirklich schlagen will, dann muss man die Massen von dem ideologischen Einfluss der Kadetten befreien, die die Aufgaben und das Wesen dieses Kampfes vor den Massen gegen die Reaktion entstellen.

Kehren wir zu den Bundisten zurück. Können sie wirklich noch immer nicht sehen, dass die von ihnen zugelassenen „technischen" Blocks bereits in Wirklichkeit eine machtvolle Waffe zur Stärkung des Vertrauens der Volksmassen zu den Kadetten (und nicht zur Schaffung einer Atmosphäre des Misstrauens) geworden sind? Nur Blinde können das nicht sehen. Der ideologische Block aller menschewistischen Sozialdemokraten – einschließlich der Bundisten – mit den Kadetten ist eine Tatsache, Artikel hingegen, wie der des Genossen M., sind schöne aber harmlose platonische Träumereien.

1 Gemeint sind die nachfolgenden Artikel: „Proletarij" Nr. 3 vom 21. (8.) September: „Aus Polen"; „Proletarij" Nr. 6 vom 11. November (29. Oktober) und Nr. 7 vom 23. (10.) November 1906; „Die lettische Sozialdemokratie über den Partisanenkampf", mit der Unterschrift „Ein lettischer Sozialdemokrat.

2 Die Artikel aus der Zeitung „Rjetsch", auf die sich der Verfasser des in der „Volkszeitung" erschienenen Artikels „Die Plattform der Wahlkampagne" bezieht, sind folgende: der Leitartikel Nr. 189 vom 26. (13.) Oktober und „Vor den Wahlen", Nr. 196 vom 3. November (21. Oktober) 1906.

3 Die Antwortadresse der Reichsduma auf die Thronrede Nikolaus' II., die in ihrer endgültigen Fassung in der 9. Sitzung der Reichsduma vom 18. (5.) Mai 1906 von W. D. Nabokow verlesen wurde, war von den konstitutionellen Demokraten verfasst und redigiert worden. Die konstitutionellen Demokraten, die in der Adresse darauf hinwiesen, dass „das Hauptübel unseres ganzen staatlichen Lebens die Willkür der Beamten sei, die den Zaren vom Volke trennen", ersuchten um die Bildung eines „das Vertrauen der Mehrheit der Reichsduma genießenden" Ministeriums, für das sie ein gemäßigt liberales politisches Programm vorsahen. Die in der Adresse entwickelten Grundthesen wurden der Taktik der konstitutionellen Demokraten nach der Auflösung der ersten Duma zugrunde gelegt.

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