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Wladimir I. Lenin 19070217 Wie soll man bei den Wahlen in Petersburg abstimmen?

Wladimir I. Lenin: Wie soll man bei den Wahlen in Petersburg abstimmen?

(Wem bringen die Märchen von der Schwarzhundertgefahr Vorteil?)

[Srenije", Nr. 2, 17. (4.) Februar 1907. gez.: N. Lenin. Nach Sämtliche Werke, Band 10, Wien-Berlin 1930, S. 453-459]

Die Sozialdemokraten revolutionärer Richtung haben schon längst darauf hingewiesen, dass die Märchen von der Schwarzhundert-Gefahr von den Kadetten, die der ihnen von links drohenden Gefahr entrinnen wollen, bewusst ausgedacht und verbreitet werden.

Man hat auf die Sozialdemokraten nicht gehört. Die liberale Presse schrie und schreit im Chor über die Schwarzhundert-Gefahr. Die kleinbürgerlichen Radikalen, die Narodniki, haben naiv nachgeplappert, was ihnen die Liberalen vorgesagt haben. Die opportunistischen Sozialdemokraten schwammen auch im Fahrwasser der Liberalen und sanken manchmal (z. B. in Petersburg) so tief, dass sie gegenüber dem Proletariat geradezu eine Streikbrecherrolle spielten.

Was zeigen die Wahlen?

Jedermann sieht jetzt, dass sich die Stimmung der Wähler nach links entwickelt hat. Die Schwarzhunderter haben bei den diesjährigen Wahlen eine noch vernichtendere Niederlage erlitten als im vorigen Jahre. Die revolutionären Sozialdemokraten haben recht behalten. Dass bei den Wahlen eine Schwarzhundert-Gefahr drohe, ist ein Märchen, das von den Kadetten, die hinter dem Rücken des Volkes mit Stolypin schachern, in die Welt gesetzt wurde. Es ist bekannt, dass in Petersburg Herr Wodowosow, der im vorigen Jahre für die Kadetten gestimmt hat, sich jetzt von ihnen abgewandt und mit Enthüllungen über Miljukows Visite bei Stolypin an die Öffentlichkeit gegangen ist! Und Miljukow musste diese Tatsache zugeben.1 Nur fährt er fort, dem Volke zu verheimlichen, welche Bedingungen ihm Stolypin für die Legalisierung der Kadetten gestellt hat!

Die Kadetten schreiben sich jetzt in ihren Zeitungen die Finger wund, um Stolypin ihre Mäßigung, Bescheidenheit, Loyalität, ihre Unabhängigkeit von den „Linken", ihre Bereitschaft zum Kampf gegen die Linken zu beweisen.

Eine vorteilhafte und bequeme Politik, nicht wahr? Bei Stolypin und seinen Freunden, d. h. den Schwarzhundertern, schmeichelt man sich dadurch ein, dass man sich von den „Linken" lossagt, dass man in der Presse, in den Versammlungen und bei den Wahlen gegen die Linken kämpft. Bei den Linken aber oder, richtiger gesagt, bei den Einfaltspinseln und Streikbrechern unter den Linken, schmeichelt man sich mit dem Geschrei von der Schwarzhundert-Gefahr ein: stimmt für die Kadetten, um eine Zersplitterung der Stimmen zu vermeiden!

Ebendieselbe Politik haben die Kadetten auch in Moskau betrieben. Herr Kokoschkin, früheres Dumamitglied und einer der bekanntesten Kadetten, schrieb am Wahltag in den „Russkije Wjedomosti"2:

Für jeden ist klar, dass der Linksblock nicht die Stimmen der Parteilosen auf sich vereinigen kann, die zwischen den ,Oktobristen' und ,Kadetten' schwanken; er kann dem ,Bund vom 17. Oktober' keine einzige Stimme entreißen. Er kann jedoch der Partei der Volksfreiheit Stimmen entreißen und dadurch zum Triumph der Reaktion beitragen, und das allein wird das wirkliche Ergebnis sein, wenn seine Tätigkeit erfolgreich ist."

So schrieb Herr Kokoschkin am Morgen des Wahltages. Und die Wahlen zeigten, dass Herr Kokoschkin eine grobe Unwahrheit gesagt hatte. Das Ergebnis der Tätigkeit des Linksblocks zeigt, dass ein Triumph der Rechten in Moskau unmöglich war, wie viel Stimmen wir auch den Kadetten entrissen hätten!

Die Moskauer Wahlen haben bewiesen, dass das Märchen von der Schwarzhundert-Gefahr eine Kadettenlüge ist, die von jetzt ab nur bewusste Streikbrecher der Linken wiederholen können.

Man nehme die Stimmenzahlen nach Bezirken. Wir veröffentlichen sie ungekürzt in der Notiz: „Vorläufige Ergebnisse der Wahlen in Moskau". Diese Zahlen zeigen, dass in 14 von 16* Bezirken die Zahl der Stimmen, die für die Oktobristen abgegeben wurden, weniger als die Hälfte der Stimmen ausmachte. die Kadetten und Linke zusammen erhielten. In 14 Bezirken konnten die Linken also durch selbständiges Vorgehen keinesfalls „zum Triumph der Reaktion beitragen".

Herr Kokoschkin log , als er den Linksblock als Helfershelfer der Reaktion verleumdete!

Herr Kokoschkin suchte den Wählern durch das Trugbild der Schwarzhundert-Gefahr Angst einzujagen, um sie dazu zu verleiten, nicht für den Linksblock zu stimmen.

Herr Kokoschkin fürchtet sich ebenso wie die Petersburger Kadetten, sogar dem Zensuswähler eine Frage vorzulegen, die den Kern der Sache trifft, die Frage, ob er grundsätzlich der Partei der Gäste Stolypins oder der Sozialdemokratie und den Trudowiki zuneige. Die Herren Kokoschkin rechnen, ebenso wie die Petersburger Kadetten, nicht auf das Bewusstsein des Wählers, sondern auf die Angst der Spießbürger, die durch das Gewinsel der liberalen Lakaien-Presse über die Schwarzhundert-Gefahr blöd geworden sind.

Und die Moskauer Wahlen waren wirklich Wahlen von erschreckten Spießbürgern. Eine Bestätigung hierfür finden wir in einer Quelle, die sicherlich niemand des Wohlwollens für die „Bolschewiki" verdächtigen wird.

Die „Birschewyje Wjedomosti" vom 11. Februar (29. Januar) veröffentlichten einen Brief ihres Sonderberichterstatters: „Moskau wählt Wahlmänner".3 Dieser Berichterstatter schreibt:

Nach dem Verlassen des Wahllokals treten die Wähler zur Seite und beginnen ihre Eindrücke auszutauschen.

Nun, hast wohl für Gringmut gestimmt, nicht wahr? – fragt ein Unternehmer seinen Meister.

Aber nein doch, Sergej Petrowitsch, wir sind für die Kadetten –, antwortet der Meister, der klein und rundlich wie ein Fass ist.

Aber weshalb nicht für den Linksblock? – versucht der Unternehmer herauszubringen.

Ist gefährlich, die Stimmen würden sich zersplittern –, antwortet der Meister."

Deswegen also hat die Masse der städtischen Spießbürger in Moskau für die Kadetten gestimmt! Der Spießbürger hat gegen die Linken gestimmt, nicht aus Abneigung gegen sie, sondern einfach deshalb, weil „es gefährlich ist, die Stimmen sich zersplittern würden", d. h. deshalb, weil er den Kadettenlügnern geglaubt hat, die das Monopol der liberalen Tageszeitungen zur Verdummung der Spießbürger ausgenützt haben.

Die Moskauer Wahlen vom 10. Februar (28. Januar) zeigten, dass sich die Stimmen bei vier Listen nicht so zersplittern konnten, dass die Gefahr eines Sieges der Schwarzen gedroht hätte.

Die Kadetten haben in Moskau den erschrockenen Spießbürger an der Nase geführt. Mögen das die Petersburger Wähler wissen, mögen sie nicht ein zweites Mal den mit Stolypin schachernden Kadetten auf den Leim gehen!

Wir lenken die Aufmerksamkeit der Leser noch auf die Gegenüberstellung der Daten (von neun Moskauer Bezirken, – vollständigere Daten haben wir leider nicht zur Hand) von 1906 und von 1907. Bekanntlich heulen alle Helfershelfer der Kadetten und Streikbrecher der Linken über die Senatserläuterungen, die angeblich beweisen, dass man sich nicht auf die Daten von 1906 stützen dürfe, dass man bei den Wahlen von 1907 ein schlechteres Ergebnis erwarten müsse, dass es jetzt eine Schwarzhundert-Gefahr gebe.

Was aber hat Moskau gezeigt? Im Jahre 1906 wurden in neun Bezirken für die Kadetten 13.220, für die Rechten 5669 (Oktobristen) und 690 (Monarchisten) insgesamt 6359, vielleicht sogar etwas mehr Stimmen abgegeben, denn aus den angeführten Zahlen ist ersichtlich, dass aus einigen von diesen neun Bezirken über die Zahl der monarchistischen Stimmen überhaupt keine Daten vorliegen.

Im Jahre 1907 wurden in denselben Bezirken gegen die Schwarzen 14 123 Stimmen abgegeben (darunter 11.441 Stimmen für die Kadetten und 2682 Stimmen für die Linken), für die Schwarzen aber 5902 Stimmen (darunter 4412 für die Oktobristen und 1490 für die Monarchisten).

Ungeachtet der Senatserläuterungen ist also die Wahlbeteiligung im Jahre 1907 sogar etwas größer gewesen als im Jahre 1906 (20.025 gegen 19.579). Die Zahl der Stimmen, die gegen die Schwarzen abgegeben wurde, ist größer als im Jahre 1906 (14.123 gegen 13.220); die Zahl der schwarzen Stimmen ist kleiner als im Jahre 1906 (5902 gegen 6359).

Die Moskauer Erfahrung beweist tatsächlich, dass man sich vollauf auf die Daten vom Jahre 1906 stützen kann, denn die Daten vom Jahre 1907 zeigen einen Schritt zum Bessern.

Was sagen aber die Petersburger Zahlen von 1906? Diese Zahlen besagen, dass in neun Bezirken, die 114 Wahlmänner gewählt haben, die höchste Stimmenzahl der Schwarzen im Jahre 1906 um mehr als die Hälfte kleiner war als die niedrigste Zahl der Kadettenstimmen**. In Petersburg ist also ein Sieg der Rechten unmöglich, wenn - sich die Stimmen, die gegen die Schwarzen abgegeben werden, auf Kadetten und Linke verteilen. Sogar die Wahlen der Wahlmänner durch die städtischen Wähler im Petersburger Landkreis, die am 11. Februar (29. Januar) stattgefunden haben, zeigen, dass die Schwarzhundert-Gefahr ein kadettisches Lügenmärchen ist. Sogar von diesen Wählern, für die es besonders schwierig war, Listen zu erhalten und zu den Wahlen zu kommen, erhielten die Schwarzen so wenig Stimmen, dass ihr Sieg ausgeschlossen war, wie immer auch sich die Stimmen verteilt hätten. Für die Kadetten wurden mindestens 1099 Stimmen, für die Sozialdemokraten 603, für die Oktobristen 652, für den Bund des russischen Volkes 20 Stimmen abgegeben. Wie viel Stimmen wir hier auch den Kadetten entrissen hätten, – die Rechten hätten nicht durchkommen können!

Deshalb erklären wir jetzt ganz entschieden: wer in Petersburg dazu auffordert, wegen der Schwarzhundertgefahr für die Kadetten zu stimmen, um eine Zersplitterung der Stimmen zu vermeiden, der lügt bewusst und betrügt den Wähler. Wer in Petersburg – sei es auch nur in einem Wahlbezirk – unter Berufung auf die Schwarzhundertgefahr von den Wahlen fernbleibt, der lügt bewusst und betrügt den Wähler, um seine Streikbrecherrolle gegenüber dem Linksblock zu verhüllen.

In Petersburg gibt es ebenso wenig wie in Moskau eine Schwarzhundertgefahr, aber es gibt eine Kadettengefahr. Es besteht die Gefahr, dass der unwissende und erschrockene Spießbürger seine Stimme dem Kadetten gibt, nicht aus Abneigung gegen den Linksblock, gegen die Sozialdemokraten und Trudowiki, sondern aus Furcht vor der Zersplitterung der Stimmen, die ihm die lügnerische Kadettenpresse eingeflößt hat.

Gegen diese „Gefahr" muss jeder kämpfen, der will, dass die Wähler in Petersburg bewusst abstimmen.

In Petersburg gibt es keine Schwarzhundertgefahr, sondern eine Kadettengefahr. Deshalb ist es unverzeihliches Streikbrechertum gegenüber den Linken, wenn man sich in den drei Bezirken (Wassiljewski Ostrow, Roschdjestwenskaja und Litejny Prospekt), wo bei Zersplitterung der Stimmen (nach den Wahlergebnissen von 1906 zu urteilen) ein Sieg der Schwarzen möglich ist, der Abstimmung enthält. Diese drei Bezirke wählen 46 Wahlmänner von insgesamt 174 (160 für die Stadt und 14 von der Arbeiterkurie) . Diese Bezirke können also den Ausgang der Wahlen nicht beeinflussen. Sie können aber sehr viel bedeuten für den Sieg der Linken oder Kadetten. Angenommen, die Sozialdemokraten und Trudowiki siegen in vier Bezirken, – Spasski, Moskauer Bezirk, Petersburger und Wiborger Bezirk (wir wählen sie aufs Geratewohl). Dann erhalten die Linken 74 Wahlmänner (60 von der Stadt und 14 von den Arbeitern). Wenn die Kadetten in allen übrigen Bezirken siegen, dann erhalten sie 100 Wahlmänner und bringen alle ihre Abgeordneten in die Duma! Wenn jedoch in den drei obengenannten Bezirken Schwarze gewählt werden (und zwar 46 Wahlmänner), dann erhalten die Kadetten nur 54 Wahlmänner und werden gezwungen sein, sich mit den Linken zu vereinigen, wobei sie 2 von 6 Dumasitzen erhalten.

Wer sich also in den drei „schwarzen" Bezirken Petersburgs der Stimme enthält, der dient heimlich den Kadetten, der verübt Streikbruch am Linksblock!

Bürger! Wähler! Glaubt nicht den Betrügern, die euch einreden wollen, in Petersburg bestünde die Gefahr der Stimmenzersplitterung. Glaubt nicht den Lügenmärchen von der Schwarzhundertgefahr in Petersburg.

In Petersburg gibt es keine Schwarzhundertgefahr. In Petersburg können die Rechten nicht siegen, wenn sich die Stimmen der Kadetten und Linken zersplittern.

Stimmt nicht aus Furcht vor einer „Gefahr", die die kadettischen Lügner (die über die Hintertreppe zu Stolypin laufen) euch vorspiegeln, stimmt ab nach eurem Gewissen und nach eurer Überzeugung.

Für die liberalen Bourgeois, die den Bauern die sie ruinierende Ablösung aufzwingen wollen, die die Sache der Bauern in die Hände der liberalen Gutsbesitzer legen, die im geheimen mit Stolypin schachern, mit den Schwarzhundertern Verhandlungen führen?

Oder für die sozialdemokratische Arbeiterpartei, für die Partei des Proletariats, das von allen Parteien der Trudowiki unterstützt wird?

Bürger, stimmt für den Linksblock!

1 Es handelt sich um den Artikel von P. Miljukow: „Mein Abkommen mit P. A. Stolypin (Antwort an die Zeitung ,Slowo' und an W. W. Wodowosow)" („Rjetsch" Nr. 19 vom 7. Februar [24. Januar] 1907), in dem P. N. Miljukow die Tatsache der Audienz bei Stolypin in der Frage der Legalisierung der konstitutionell-demokratischen Partei bestätigte. „Die Partei wird im gegenwärtigen Moment nicht legalisiert werden“ – schloss Miljukow seine Notiz –, „da sich aus der Aussprache ergeben hat, dass als Bedingung für die Legalisierung einige Schritte gefordert werden, die sich nicht aus einer normalen Handhabung der amtlichen Eintragung ergeben und für die Partei unannehmbar sind."

Später, bereits in der Epoche des Bürgerkrieges, gestand Miljukow seine Verhandlungen mit Stolypin ein: „Die Partei verbot mir, Stolypin jene Zusicherungen zu geben“ – schrieb P. Miljukow in der Broschüre: „Drei Versuche" (Paris 1921) , „die er für die Legalisierung der Partei forderte und die mir persönlich annehmbar erschienen."

2 Siehe den Artikel von Th. Kokoschkin: „Die der Opposition drohende Gefahr" („Russkije Wjedomosti" Nr. 22 vom 10. Februar [28. Januar] 1907). Gerade an diesem Tage fanden in Moskau die Wahlen zur zweiten Reichsduma statt.

* Insgesamt gibt es in Moskau 17 Wahlbezirke. Über den 17., den Pjatnizki-Bezirk liegen noch keine vollständigen Angaben vor. Die Kadetten haben hier nicht weniger als 1488 Stimmen erhalten. Die Oktobristen, wenn ich nicht irre, gegen 600, der Linksblock, wenn ich nicht irre, gegen 250.

3 Zitat aus dem Artikel von P. Esperow, „Birschewyje Wjedomosti" Nr. 9720 vom 11. Februar (29. Januar) 1907.

** Diese Zahlen sind vollständig in „Srenije" Nr. 1 enthalten. Wir bringen sie weiter unten noch einmal zum Abdruck, damit alle Petersburger Wähler sie kennenlernen.

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