Lenin‎ > ‎1908‎ > ‎

Wladimir I. Lenin 19080401 Auf den geraden Weg

Wladimir I. Lenin: Auf den geraden Weg1

[Proletarij" Nr. 26, 1. April (19. März) 1908. Nach Sämtliche Werke, Band 12, Wien-Berlin 1933, S. 207-212]

Das Auseinanderjagen der II. Duma und der Staatsstreich vom 3. Juni 1907 waren ein Wendepunkt in der Geschichte unser Revolution, gewissermaßen der Beginn einer neuen Periode oder eines neuen Zickzacks ihres Entwicklungswegs. Wir haben bereits mehrfach über die Bedeutung gesprochen, die diesem Zickzack vom Standpunkt des allgemeinen Wechselverhältnisses der Klassenkräfte in Russland und vom Standpunkt der Aufgaben einer noch nicht abgeschlossenen bürgerlichen Revolution zukommt. Nunmehr möchten wir auf den Stand unserer Parteiarbeit in Verbindung mit dieser Wendung der Revolution eingehen.

Über ein halbes Jahr ist bereits seit dem reaktionären Staatsstreich vom 3. Juni verstrichen, und es steht fest, dass für dieses erste Halbjahr ein bedeutender Rückgang und eine Schwächung aller revolutionären Organisationen, darunter auch der sozialdemokratischen, charakteristisch ist. Schwankungen, Wirrnis, Zerfall – dies ist das allgemeine Merkmal dieses Halbjahrs. Anders konnte es natürlich gar nicht kommen, denn eine Krise der revolutionären Parteien ist eine unvermeidliche Begleiterscheinung des äußersten Erstarkens der Reaktion und ihres vorübergehenden Sieges bei gleichzeitigem Stocken des unmittelbaren Klassenkampfes.

Heute aber macht sich ganz deutlich eine Reihe von Anzeichen bemerkbar, die davon zeugen, dass diese Krise ihrem Ende entgegengeht, dass das Schlimmste bereits überstanden, der richtige Weg gefunden ist – dass die Partei wieder einen geraden Weg betritt, den Weg einer konsequenten und festen Anleitung des revolutionären Kampfes des sozialistischen Proletariats.

Man betrachte eines der recht charakteristischen, zwar bei weitem nicht der tiefsten, aber doch der auffallendsten äußeren Anzeichen der Parteikrise – die Flucht der Intellektuellen aus der Partei. Die im Februar dieses Jahres erschienene erste Nummer unseres Zentralorgans, die sehr reichhaltiges Material zur Charakteristik des inneren Parteilebens gibt und von uns zum großen Teil nachgedruckt wird, charakterisiert diese Flucht außerordentlich anschaulich:

In letzter Zeit ist die Kreisorganisation wegen vollständigen Mangels an Kräften aus den Reihen der Intellektuellen eingegangen" – heißt es in einer Korrespondenz aus dem Kulebaki-Werk (Kreisorganisation Wladimir, im zentralen Industriegebiet). „Unsere ideologischen Kräfte schmelzen wie Schnee dahin" – berichtet man aus dem Ural. „Elemente, die illegale Organisationen überhaupt vermeiden, ... die sich nur während des revolutionären Aufschwungs und der damals vielerorts faktisch herrschenden Freiheit der Partei angeschlossen haben, haben nunmehr unsere Parteiorganisationen verlassen."

Und in dem Artikel des Zentralorgans „Über Organisationsfragen", in dem das Fazit dieser (und anderer, nicht veröffentlichter) Mitteilungen gezogen wird, heißt es:

Die Intellektuellen desertieren jetzt bekanntlich in hellen Haufen aus der Partei."

Doch die Befreiung der Partei von halb proletarischen, halb kleinbürgerlichen Intellektuellen beginnt neue, rein proletarische Kräfte, die sich in der Zeit des Heldenkampfes der proletarischen Massen angehäuft haben, zu neuem Leben zu wecken. Dieselbe Organisation von Kulebaki, deren Zustand, wie aus der von uns zitierten Korrespondenz hervorgeht, ein verzweifelter war, ja die „eingegangen" war, ist jetzt wiedererstanden.

Die proletarischen Parteikerne“ – lesen wir dort –, „die über unseren Kreis in großer Anzahl verstreut sind, die zumeist keine Kräfte aus den Kreisen der Intellektuellen, keine Literatur, oft auch keinerlei Verbindung mit den zentralen Parteiinstanzen haben, wollen nicht sterben ... Die Zahl der Organisierten nimmt nicht ab, sondern zu ... Intellektuellenkräfte haben wir keine, und so müssen die Arbeiter selbst, die klassenbewusstesten unter ihnen, Propagandaarbeit leisten." Der allgemeine Schluss ist, dass „in einer ganzen Reihe von Orten („Sozialdemokrat", Nr. 1, S. 28) die verantwortliche Arbeit, infolge der Flucht der Intellektuellen, in die Hände der fortgeschrittensten Arbeiter übergeht."

Diese Umstellung der Parteiorganisationen sozusagen auf ein anderes Klassenfundament ist natürlich eine schwierige Sache, und eine glatte Entwicklung ist ihr nicht beschieden. Doch nur der erste Schritt ist schwer, er ist aber bereits getan. Die Partei hat den geraden Weg der Anleitung der Arbeitermassen durch vorgeschrittene, den Reihen der Arbeiterschaft selbst entstammende „Intellektuelle" bereits betreten.

Die Arbeit in den Gewerkschaften und Genossenschaften, ein Gebiet, auf dem man sich anfangs nur unsicher tastend bewegt hat, beginnt durchaus feste Formen zu gewinnen. Zwei Resolutionen des ZK – über Gewerkschaften und Konsumgenossenschaften –, beide einstimmig angenommen, sind bereits von der wachsenden Arbeit an den einzelnen Orten inspiriert. Parteizellen in allen parteilosen Organisationen; ihre Anleitung im Geiste der Kampfaufgaben des Proletariats, im Geiste des revolutionären Klassenkampfes; „von Parteilosigkeit zum Parteigeist‘‘ („Sozialdemokrat“, Nr. 1, S. 28) – dies ist der Weg, den die Arbeiterbewegung auch auf diesem Gebiet bereits betreten hat. Der Korrespondent einer Parteiorganisation der entlegenen kleinen Provinzstadt Minsk teilt mit:

Die Arbeiter mit deutlicher ausgesprochenem revolutionären Geist halten sich ihnen (den von den Behörden geschurigelten Gewerkschaften) fern und sympathisieren immer mehr mit der Bildung illegaler Gewerkschaften.“

In derselben Richtung, „von Parteilosigkeit zum Parteigeist“, entwickelt sich die Arbeit auch auf einem ganz anderen Gebiet, die Arbeit der sozialdemokratischen Dumafraktion. Es klingt allerdings sonderbar, aber es ist Tatsache: wir sind nicht imstande, die Tätigkeit unserer Parlamentsvertreter mit einem Schlag auf das erforderliche Parteiniveau zu stellen – wie wir auch in den Genossenschaften nicht von Anfang an „im Parteigeist“ gearbeitet haben. Nach einem Wahlgesetz gewählt, das den Willen des Volkes fälscht, aus einem Kreis legal gebliebener Sozialdemokraten gewählt, der nach den Verfolgungen während der ersten zwei Dumas sich sehr stark gelichtet hat, waren unsere Duma-Sozialdemokraten anfänglich in Wirklichkeit unvermeidlicherweise eher parteilose Sozialdemokraten als richtige Parteimitglieder.

Das ist traurig, aber es ist Tatsache, – und es ist wohl gar nicht anders möglich in einem kapitalistischen Land, das noch von tausenden feudalen Fäden durchzogen ist, wo eine offene Arbeiterpartei kaum seit zwei Jahren existiert. Und auf diese Tatsache gestützt, wollten die nicht nur parteilosen, sondern auch „kopflosen“, sich als Sozialdemokraten aufspielenden Intellektuellen, die unsere Dumafraktion, wie Fliegen einen Teller Honig, umschwirren, ihre Taktik der Schaffung einer nicht-revolutionären Sozialdemokratie aufbauen. Es scheint jedoch, dass die Anstrengungen dieser ehrenwerten Bernsteinianer vergeblich sind! Es scheint, dass auch hier die sozialdemokratische Arbeit ins richtige Geleise zu kommen beginnt. Wir wollen nicht den Propheten spielen, wir wollen uns nicht der Erkenntnis verschließen, welch gewaltige Mühe eine einigermaßen befriedigende Organisierung der sozialdemokratischen Parlamentsarbeit unter unseren Verhältnissen kosten muss, – wir möchten aber darauf hinweisen, dass in der ersten Nummer des Zentralorgans eine Kritik an der Fraktion vom Parteistandpunkt aus und eine direkte Resolution des ZK über eine richtigere Anleitung ihrer Arbeit veröffentlicht ist. Wir halten die im Zentralorgan gegebene Kritik der Mängel dieser Arbeit keineswegs für erschöpfend: so glauben wir z. B., Sozialdemokraten hätten weder für die Übergabe der Bodensteuern in erster Linie an die Semstwos noch für den Loskauf des von der armen Bevölkerung gepachteten städtischen Bodens zu niedrigen Preisen stimmen sollen (siehe Nr. 1. des Zentralorgans, S. 36). Doch das sind alles verhältnismäßig minder wichtige Fragen. Ausschlaggebend und am wichtigsten ist, dass die Verwandlung der Fraktion in eine wirkliche Parteiorganisation in unserer ganzen Arbeit bereits eingesetzt hat und dass folglich die Partei dies auch erreichen wird, welche Mühe es auch kosten mag, welche Prüfungen, Schwankungen, Teilkrisen, persönliche Zusammenstöße usw. ihr auf diesem Wege auch noch beschieden sein mögen.

Zu diesen Anzeichen der Hebung einer wirklich sozialdemokratischen, einer wirklichen Parteiarbeit gehört auch das deutliche Wachstum der illegalen Verlagstätigkeit.

Im Ural erscheinen acht Zeitungen – lesen wir im Zentralorgan –, in der Krim zwei, in Odessa eine, in Jekaterinoslaw beginnt demnächst eine Zeitung zu erscheinen; bedeutend ist die Verlagstätigkeit in Petersburg, im Kaukasus und in den nationalen Organisationen."2

Außer den zwei im Auslande erscheinenden sozialdemokratischen Organen ist in Russland, trotz außerordentlicher Polizeischwierigkeiten, das Zentralorgan erschienen. Im zentralen Industriegebiet ist ein Gebietsorgan, „Rabotscheje Snamja", in Vorbereitung.

Der Weg, den die sozialdemokratische Partei mit festem Schritt beschreitet, tritt aus obigem mit aller Bestimmtheit zutage: festgefügte illegale Organisation der Parteizentralen, systematische illegale Verlagstätigkeit und vor allen Dingen Orts- und besonders Betriebsparteizellen, die von den fortgeschrittensten, in engster Fühlung mit den Massen stehenden Arbeitern angeleitet werden, – dies ist die Grundlage, auf die wir einen unerschütterlich-festen Kern der revolutionären und sozialdemokratischen Arbeiterbewegung gebaut und aufgebaut haben. Dieser illegale Kern wird in ungleich weiterem Umfange als in früheren Zeiten seine Fühler ausstrecken, seinen Einfluss verbreiten, sowohl durch die Duma als auch in Gewerkschaften, Konsumgenossenschaften, in Kultur- und Bildungsvereinen.

Auf den ersten Blick scheint zwischen diesem System der Parteiarbeit und demjenigen der deutschen unter dem Sozialistengesetz (1878–1890) eine außergewöhnliche Ähnlichkeit zu bestehen. Für den Weg, den die deutsche Arbeiterbewegung in dreißig Jahren nach der bürgerlichen Revolution (1848–1878) zurückgelegt hat, hat die russische Arbeiterbewegung drei Jahre gebraucht (Ende 1905 bis 1908). Doch hinter dieser äußerlichen Ähnlichkeit verbirgt sich ein tiefgehender innerer Unterschied. Die dreißig Jahre, die nach der bürgerlich-demokratischen Revolution in Deutschland verflossen sind, haben die objektiv notwendigen Aufgaben dieser Revolution in vollem Umfang verwirklicht. Im verfassungsmäßigen Parlament seit Beginn der sechziger Jahre, in den dynastischen Kriegen, die zum Zusammenschluss des größeren Teils der deutschen Länder geführt haben, in der Schaffung des Reiches mit Hilfe des allgemeinen Wahlrechts hat sie ihren Inhalt erschöpft. In Russland dagegen haben die noch nicht vollen drei Jahre, die seit dem ersten großen Sieg und der ersten großen Niederlage der bürgerlich-demokratischen Revolution verflossen sind, nicht nur keine Erfüllung ihrer Aufgaben gebracht, sondern im Gegenteil zum ersten Mal das Bewusstsein dieser Aufgaben in die breiten Massen des Proletariats und der Bauernschaft hineingetragen. Überlebt haben sich in diesem Zeitraum von etwas über zwei Jahren nur die Verfassungsillusionen und der Glaube an die demokratische Natur der liberalen Lakaien des Schwarzhunderter-Zarismus.

Eine Krise auf dem Boden der noch ungelösten objektiven Aufgaben der bürgerlichen Revolution in Russland ist unvermeidlich. Rein wirtschaftliche, spezifisch finanzielle, innen- und außenpolitische Ereignisse, Umstände und Vorgänge können sie akut machen. Und die Partei des Proletariats, die den geraden Weg der Schaffung einer festgefügten illegalen sozialdemokratischen Organisation beschritten hat, die mit zahlreicheren und mannigfaltigeren Waffen des legalen und illegalen Einflusses als bisher ausgestattet sein wird, wird dieser Krise viel besser zum entscheidenden Kampf gerüstet gegenübertreten als im Oktober und Dezember 1905.

1 Veröffentlicht als Leitartikel im „Proletarij" Nr. 26. Der Artikel stützt sich auf eine Reihe von Tatsachen und Mitteilungen, entnommen dem „Sozialdemokrat" Nr. 7. Der Artikel „Über Organisationsfragen" ist von Sinowjew, die von Lenin mitgeteilten Tatsachen sind lokalen Korrespondenzen entnommen.

2 Nach Mitteilungen aus dem „Proletarij'' kann man folgende lokale Zeitungen anführen: im Ural – Zeitungen des Uraler Gebietskomitees: „Rabotschij", „Uralskij Rabotschij", „Soldatskaja Gaseta", „Krestjanskaja Gaseta", „Listok Ufimskogo Komiteta", „Ufimskij Rabotschij" (Ufa), „Rabotschij Listok" (Wjatka), „Listok Barnaulskogo Komiteta", „Tjumenskij Rabotschij" (Nr. 1 erschienen am 10. September 1907). In Sebastopol: „Rabotschij" (Nr. 1 Dezember 1907) und „Soldat", Odessa – „Rabotschij",. Petersburg – „Wperjod'', Baku – „Proletarij", Tiflis – „Borba" und „Borba" – Organ des Nikolajewer Parteikomitees.

Kommentare