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Wladimir I. Lenin 19081029 Die Ereignisse auf dem Balkan und in Persien

Wladimir I. Lenin: Die Ereignisse auf dem Balkan und in Persien

[Proletarij" Nr. 37 29. (16.) Oktober 1908. Nach Sämtliche Werke, Band 12, Wien-Berlin 1933, S. 443-454]

In der letzten Zeit füllten die Ereignisse auf dem Balkan die politische Presse nicht nur Russlands, sondern ganz Europas. Einige Zeit schien die Gefahr eines europäischen Krieges in nächste Nähe gerückt, und auch jetzt ist sie – obwohl viel mehr Wahrscheinlichkeit besteht, dass sich die Sache auf Tumult und Geschrei beschränkt und es zum Krieg nicht kommt – noch lange nicht beseitigt.

Betrachten wir kurz den Charakter der Krise und die Aufgaben, die der russischen Arbeiterpartei daraus erwachsen.

Der russisch-japanische Krieg und die russische Revolution haben dem Erwachen der asiatischen Völker zum politischen Leben einen besonderen Anstoß gegeben. Aber dieses Erwachen griff so langsam von einem Land auf das andere über, dass in Persien die russische Konterrevolution eine nahezu entscheidende Rolle gespielt hat und auch jetzt spielt, die türkische Revolution aber sofort auf eine gegenrevolutionäre Mächtekoalition mit Russland an der Spitze stieß. Freilich scheint diese letztere Behauptung auf den ersten Blick dem allgemeinen Ton der europäischen Presse und den Erklärungen der Diplomaten zu widersprechen: hört man diese Erklärungen und glaubt man den Artikeln der offiziösen Blätter, so sind sie alle voller „Sympathie" für die erneuerte Türkei, alle wünschen nur die Befestigung und Entwicklung des konstitutionellen Regimes in der Türkei und können die „Mäßigung" der bürgerlichen Jungtürken nicht genug loben

Doch sind alle diese Redensarten nur ein Musterbeispiel der niederträchtigen bürgerlichen Heuchelei der heutigen reaktionären Regierungen Europas und der heutigen reaktionären europäischen Bourgeoisie. In Wirklichkeit hat kein einziges europäisches Land, das sich Demokratie nennt, keine einzige bürgerliche Partei Europas, die sich als demokratisch, progressiv, liberal, radikal usw. bezeichnet, durch irgend etwas den ernstlichen Willen gezeigt, der türkischen Revolution zu helfen, zu ihrem Sieg, zu ihrer Befestigung beizutragen. Im Gegenteil, alle fürchten einen Erfolg der türkischen Revolution, da er unausbleiblich zweierlei bedeuten würde: nämlich einerseits die Entfaltung des Strebens nach Autonomie und wirklicher Demokratie bei allen Balkanvölkern, andererseits den Sieg der persischen Revolution, einen neuen Anstoß für die demokratische Bewegung in Asien, eine Verschärfung des Unabhängigkeitskampfes in Indien, die Herausbildung freiheitlicher Zustände längs eines ungeheuren Teils der russischen Grenze und folglich Schaffung neuer Bedingungen, die die Politik des Schwarzhunderter-Zarismus erschweren und den Aufschwung der Revolution in Russland erleichtern würden usw.

Das Wesen der jetzigen Geschehnisse auf dem Balkan, in der Türkei und in Persien ist eine gegenrevolutionäre Koalition der europäischen Mächte gegen den anwachsenden Demokratismus in Asien. Alle Bemühungen unserer Regierungen, alle Predigten der „großen" europäischen Blätter laufen darauf hinaus, diese Tatsache zu bemänteln, die öffentliche Meinung zu verwirren und die konterrevolutionäre Koalition der sogenannten zivilisierten Nationen Europas gegen die weniger zivilisierten und am heftigsten der Demokratie zustrebenden Nationen Asiens durch heuchlerische Reden und diplomatischen Hokuspokus zu verdecken. Und der ganze Sinn der Politik des Proletariats im gegenwärtigen Augenblick besteht darin, der bürgerlichen Heuchelei die Maske herunterzureißen, um vor den Augen der allerbreitesten Massen das reaktionäre Wesen der europäischen Regierungen bloßzustellen, die aus Furcht vor dem proletarischen Klassenkampf im eigenen Lande die Rolle der Gendarmen gegenüber der asiatischen Revolution spielen und spielen helfen.

Das Netz der Intrigen, mit denen Europa alle Ereignisse in der Türkei und den Balkanländern umsponnen hat, ist außerordentlich dicht, und das spießbürgerliche Publikum geht den Diplomaten auf den Leim, die sich bemühen, die Aufmerksamkeit auf Kleinigkeiten, Nebensächlichkeiten und Einzelheiten der Geschehnisse zu lenken und dadurch den Sinn des Prozesses als Ganzes zu verdunkeln. Im Gegensatz dazu besteht unsere Aufgabe, die Aufgabe der internationalen Sozialdemokratie, darin, dem Volke gerade den allgemeinen Zusammenhang der Ereignisse, die Grundrichtung und die eigentlichen Triebkräfte des ganzen Geschehens klarzumachen.

Die Konkurrenz der kapitalistischen Staaten, die „einen Bissen erschnappen" und ihre Besitzungen und Kolonien erweitern wollen, ferner die Angst vor der selbständigen demokratischen Bewegung unter den abhängigen oder von Europa „bevormundeten" Völkern, das sind die zwei Triebkräfte der ganzen europäischen Politik. Man lobt die Jungtürken für ihre Mäßigung und Zurückhaltung, d. h. man lobt die türkische Revolution dafür, dass sie schwach ist, dass sie die untersten Volksschichten nicht erweckt, keine wirkliche Selbständigkeit der Massen hervorruft, dass sie dem beginnenden proletarischen Kampf im ottomanischen Reich feindlich gegenübersteht – und gleichzeitig plündert man die Türkei weiter aus. Man spendet Lob für die Möglichkeit, türkisches Gebiet in gewohnter Weise weiter zu plündern. Man lobt die Jungtürken und setzt dabei eine Politik fort, die offensichtlich auf die Aufteilung der Türkei ausgeht. Außerordentlich richtig und treffend sagte darüber die „Leipziger Volkszeitung", das Organ der dortigen Sozialdemokraten:

Im Mai 1791 setzten einsichtige Männer, denen das Wohl des Vaterlandes am Herzen lag, eine politische Reform in Polen durch. Der König von Preußen und der Kaiser von Österreich lobten die Verfassung vom 3. Mai und begrüßten sie als ein Werk, das dem Nachbarstaate zum Segen gereichen werde, alle Welt sagte den polnischen Reformatoren Schmeicheleien ob der Mäßigung, mit der sie zu Werke gingen, ganz anders als die fürchterlichen Jakobiner in Paris … Am 23. Januar 1793 unterschrieben Preußen, Österreich und Russland den Vertrag, kraft dessen sie Polen unter sich teilten!"

Im August 1908 setzten die Jungtürken eine politische Reform durch, die erstaunlich glatt verlief, und alle Welt lobt sie ob der honetten Mäßigung, mit der sie zu Werke gingen, ganz anders als die fürchterlichen Sozialisten in Russland … Im Oktober 1908 schwirrt es von Ereignissen, die auf eine Teilung der Türkei hinauslaufen."

In der Tat, es wäre geradezu kindisch, wollte jemand den Worten der Diplomaten glauben, ohne mit ihren Taten zu rechnen, ohne dem kollektiven Auftreten der Mächte gegen die revolutionäre Türkei Rechnung zu tragen. Es genügt, die Tatsache der Zusammenkünfte und Besprechungen der Außenminister und der Staatsoberhäupter einiger Länder den Ereignissen, die ihnen folgten, gegenüberzustellen, damit der naive Glaube an die Erklärungen der Diplomaten sich in ein Nichts auflöse. Im August und September, unmittelbar nach der jungtürkischen Revolution und kurz vor den Deklarationen Österreichs und Bulgariens, sehen wir folgende Zusammenkünfte: in Marienbad und Karlsbad trifft sich Herr Iswolski mit König Eduard und dem Premierminister der französischen Republik, Clemenceau, der österreichische Außenminister Graf Ährenthal trifft sich mit dem italienischen Außenminister Tittoni in Salzburg, ferner treffen sich Iswolski und Ährenthal am 15. September in Buchlau, Ferdinand, Fürst von Bulgarien, mit Franz Joseph in Budapest, Iswolski mit von Schön, dem deutschen Außenminister, und dann mit Tittoni und dem König von Italien.

Diese Tatsachen sprechen für sich selbst. Bereits vor dem Auftreten Österreichs und Bulgariens war alles Wesentliche bei den persönlichen Zusammenkünften der Könige und Minister, unter sechs Mächten, nämlich zwischen Russland, Österreich, Deutschland, Italien, Frankreich und England in der vertraulichsten und unmittelbarsten Weise besprochen worden. Das nachher in den Zeitungen einsetzende gegenseitige Gezänk, ob Ährenthal die Wahrheit gesagt habe, als er behauptete, Italien, Deutschland und Russland hätten ihre Einwilligung zur Annexion Bosniens und der Herzegowina durch Österreich gegeben, ist nichts als bloße Komödie, bloße Irreführung, auf die nur liberale Spießbürger hereinfallen. Die Drahtzieher der Außenpolitik der europäischen Staaten, die Iswolski, Ährenthal und die ganze Bande der gekrönten Räuber mit ihren Ministern, warfen der Presse diesen Knochen mit Absicht zu: da beißt und rauft euch, ihr Herrschaften, über die Frage, wer wen betrogen und wer wen benachteiligt hat, ob Österreich Russland oder Bulgarien Österreich usw., wer als „erster“ begonnen hat, den Berliner Traktat1 zu zerreißen, wie sich jeder zu dem Plan einer Konferenz der Mächte stellt und so weiter und dergleichen mehr. Bitte sehr, beschäftigt die öffentliche Meinung mit diesen interessanten und wichtigen oh! außerordentlich wichtigen! Fragen. Gerade das brauchen wir, um das Wichtige und Wesentliche zu verdecken: die schon im Voraus getroffenen Abmachungen über die Kernfrage, d. h. über das Auftreten gegen die jungtürkische Revolution, über die weiteren Schritte zur Aufteilung der Türkei, über eine mit dieser oder jener Sauce begossene Revision der Dardanellenfrage und die Erlaubnis für den Schwarzhunderter-Zaren, die persische Revolution zu erdrosseln. Das ist der ganze Sinn, das ist es, was wir, die Führer der reaktionären Bourgeoisie ganz Europas, wirklich brauchen und was wir auch tun. Mögen sich die liberalen Dummköpfe in der Presse und den Parlamenten mit dem Geschwätz darüber beschäftigen, womit es begonnen und in welcher Form der und jener das und jenes gesagt habe und mit welcher Sauce man die Politik des kolonialen Raubes und der Unterdrückung der demokratischen Bewegungen endgültig formulieren, unterzeichnen und der ganzen Welt servieren könne.

Die liberale Presse aller großen europäischen Mächte, mit Ausnahme des gegenwärtig am meisten „gesättigten" Österreich, beschäftigt sich damit, die eigene Regierung der ungenügenden Wahrnehmung der eigenen nationalen Interessen anzuklagen. Die Liberalen eines jeden Landes stellen ihr Land und ihre Regierung so dar, als hätte diese die größte Unfähigkeit an den Tag gelegt, die Lage am wenigsten „ausgenutzt", als sei sie betrogen worden usw. Gerade diese Politik treiben auch unsere Kadetten, die sich schon längst zur Erklärung verstiegen haben, die Erfolge Österreichs flößten ihnen „Neid" ein (buchstäblich ein Ausdruck von Herrn Miljukow). Diese ganze Politik der liberalen Bürger im Allgemeinen und unserer Kadetten im Besonderen ist die widerwärtigste Heuchelei, abscheulichster Verrat an den wahren Interessen des Fortschritts und der Freiheit. Erstens verdunkelt diese Politik das demokratische Bewusstsein der Volksmassen dadurch, dass sie die Verschwörung der reaktionären Regierungen verschweigt, zweitens drängt sie jedes Land auf die Bahn der sogenannten aktiven Außenpolitik, d. h. sie billigt das System des kolonialen Raubes und der Einmischung der Mächte in die Angelegenheiten der Balkanhalbinsel, einer Einmischung, die immer reaktionär ist; drittens leistet diese Politik der Reaktion geradezu Vorschub, indem sie die Völker sich dafür interessieren lässt, wie viel „wir" bekommen werden, wie viel „uns" bei der Teilung zufällt, wie viel „wir" dabei erhandeln. Gerade im gegenwärtigen Moment brauchen die reaktionären Regierungen am dringendsten die Möglichkeit, sich bei ihren Annexionen oder „Kompensations"forderungen usw. auf die öffentliche Meinung zu berufen. Seht, die Presse meines Landes beschuldigt mich zu großer Uneigennützigkeit, ungenügender Wahrnehmung der nationalen Interessen, der Nachgiebigkeit, sie droht mit dem Krieg, folglich sind meine Forderungen als „bescheidenste und gerechteste" restlos zu erfüllen!

Die Politik der russischen Kadetten ist, gleich der der europäischen Bourgeoisie, lakaienhaftes Kriechen vor den reaktionären Regierungen, ist Verteidigung der kolonialen Annexionen, des Raubes und der Einmischung in fremde Angelegenheiten. Die Politik der Kadetten ist deshalb besonders schädlich, weil sie unter der Flagge der „Opposition" betrieben wird und darum sehr, sehr viele irreführt, vielen, die der russischen Regierung sonst keinen Glauben schenken, Vertrauen einflößt, das Bewusstsein der Massen korrumpiert. Deshalb müssen unsere Duma-Abgeordneten und alle unsere Parteiorganisationen im Auge behalten, dass man keinen ernstlichen Schritt in der sozialdemokratischen Propaganda und Agitation anlässlich der Balkanereignisse tun kann, ohne sowohl von der Rednertribüne der Duma herab als auch in Flugblättern und Versammlungen den Zusammenhang zwischen der reaktionären Politik des Absolutismus und der heuchlerischen Opposition der Kadetten aufzudecken. Man kann dem Volke die ganze Schädlichkeit der reaktionären zaristischen Politik nicht klarmachen, ohne ihm gleichzeitig zu erklären, dass die Außenpolitik der Kadetten ihrem inneren Wesen nach dasselbe ist. Man kann den Chauvinismus und den Schwarzhundertergeist in der Außenpolitik nicht bekämpfen, wenn man nicht zugleich die Phrasen, Grimassen, Halbheiten und Kniffe der Kadetten bekämpft.

Im Folgenden ein Beispiel dafür, wohin die Sozialisten durch Nachgiebigkeit gegenüber dem Standpunkt der liberalen Bourgeoisie gebracht werden. In dem bekannten Opportunistenorgan „Sozialistische (???) Monatshefte" schreibt Max Schippel2 anlässlich der Balkankrise:

Als einen Fehler würden es wohl fast alle denkenden Parteigenossen -ansehen, wenn die neuerdings in unserem Berliner Zentralorgan (d. h. im „Vorwärts"3) abermals geäußerte Auffassung die Oberhand gewänne: Deutschland habe bei den bereits eingetretenen wie bei den noch möglichen Umwälzungen auf dem Balkan überhaupt gar nichts zu suchen. Wir haben selbstverständlich keine territorialen Erwerbungen dort zu erstreben … Aber größere Machtverschiebungen in diesem wichtigen Bindeglied zwischen Europa einerseits und Gesamtasien und großen Teilen Afrikas andererseits berühren selbstverständlich auch unsere internationale Stellung ganz unmittelbar … Jede irgendwie entscheidende Bedeutung der russischen Reaktion scheidet vorläufig glattweg aus … Wir haben Russland … gegenüber keine Ursache, den Feind um jeden Preis, wie die Demokratie der fünfziger Jahre, hervorzukehren" (S. 1318–1319).

Dieser einfältige Liberale, der sich als Sozialist maskiert, hat vor lauter „Fürsorge" Russlands für die „slawischen Brüder" dessen reaktionäre Intrigen nicht bemerkt: indem er (namens der deutschen Bourgeoisie) „wir", „unsere" Lage usw. sagt, merkt er weder den gegen die jungtürkische Revolution geführten Schlag noch die Schritte Russlands gegen die persische Revolution!

Die zitierten Sätze stehen im Heft vom 22. Oktober. Am 18. (5.) Oktober hatte „Nowoje Wremja"4 einen Alarmartikel gebracht darüber, dass „die Anarchie in Täbris unglaubliche Dimensionen erreicht hat", dass diese Stadt angeblich „von halbwilden Revolutionären zur Hälfte zerstört und ausgeplündert ist". Wie man sieht, hat der Sieg der Revolution über die Truppen des Schahs in Täbris sofort die Wut des russischen offiziösen Organs hervorgerufen. Der Führer des persischen Revolutionsheeres Sattar-Chan wurde in diesem Artikel als der „Pugatschow von Aderbaidschan" bezeichnet (Aderbaidschan oder Aserbaidschan ist die nördliche Provinz, ihre Hauptstadt ist Täbris, ihre Bevölkerung beträgt, laut Reclus, fast ein Fünftel der gesamten persischen Bevölkerung).

Es fragt sich" – schrieb „Nowoje Wremja" –, „ob Russland diese Schandtaten ohne Ende dulden kann, die unseren Millionenhandel an der persischen Grenze zugrunde richten… Man darf nicht vergessen, dass das ganze östliche Transkaukasien und Aderbaidschan in ethnographischer Beziehung ein Ganzes darstellen… Die tatarischen Halb-Intellektuellen Transkaukasiens haben vergessen, dass sie russische Untertanen sind, haben die Wirrnisse in Täbris mit warmer Teilnahme aufgenommen und schicken ihre Freiwilligen dahin, für uns ist es viel wichtiger, dass das uns benachbarte Aderbaidschan befriedet wird. So tief bedauerlich es auch ist, so kann Russland, trotz seiner Abneigung gegen jedwede Einmischung, durch die Umstände gezwungen werden, die Sache in seine Hand zu nehmen."

Am 20. Oktober wurde der deutschen „Frankfurter Zeitung" aus Petersburg telegraphisch gemeldet, dass als „Kompensation" für Russland die Okkupation von Aderbaidschan vorgesehen sei.

Am 24. (11.) Oktober veröffentlichte dieselbe Zeitung folgendes. Telegramm aus Täbris:

Sechs russische Bataillone Infanterie mit entsprechender Artillerie und Kavallerie überschritten vorgestern die russische Grenze und werden heute in Täbris erwartet, um die Stadt zu besetzen."

Das russische Heer überschritt die Grenze an demselben Tage, wo Max Schippel, die Beteuerungen, das Geheul der Liberalen und der Polizeipresse sklavisch wiederholend, den deutschen Arbeitern einzureden suchte, dass die Bedeutung Russlands als Reaktionsalp der Vergangenheit angehöre und dass es falsch sei, Russland gegenüber den Feind um jeden Preis hervorzukehren.

Es steht eine neue Niedermetzelung der persischen Revolutionäre durch die Truppen Nikolaus des Blutigen bevor. Auf den inoffiziellen Ljachow folgt die offizielle Okkupation von Aderbaidschan, und Russland wiederholt in Asien das, was es 1849 in Europa tat, als Nikolaus I. Truppen gegen die ungarische Revolution schickte. Damals gab es unter den bürgerlichen Parteien in Europa noch eine wirkliche Demokratie, fähig, für die Freiheit zu kämpfen und nicht nur heuchlerisch von ihr zu schwatzen, wie es alle bürgerlichen Demokraten unserer Tage tun. Damals musste Russland die Rolle des europäischen Gendarmen gegen den Willen wenigstens einiger europäischer Länder spielen. Jetzt aber helfen alle europäischen Staaten, die „demokratische" Republik des „roten" Clemenceau nicht ausgenommen, Russland, die Rolle des asiatischen Gendarmen zu spielen, da sie vor jeder dem Proletariat zugute kommenden Ausbreitung der Demokratie im eigenen Lande Todesangst haben.

Es unterliegt nicht dem geringsten Zweifel, dass in der reaktionären Septemberverschwörung Russlands, Österreichs, Deutschlands, Italiens, Frankreichs und Englands die „Handlungsfreiheit" Russlands gegenüber der persischen Revolution inbegriffen war. Es ist ganz unwesentlich, ob das in einem Geheimdokument, das nach vielen Jahren in einer historischen Materialsammlung abgedruckt werden wird, aufgezeichnet worden ist, oder ob Iswolski das seinen liebenswürdigen Partnern nur gesagt hat, oder ob diese selbst nur „Andeutungen" gemacht haben: wir gehen von der „Okkupation" zur „Annexion" über, ihr vielleicht von Ljachow zur „Okkupation" oder irgendwie anders all dies ist von verschwindend geringer Bedeutung. Wesentlich ist vielmehr, dass, so wenig formell auch die konterrevolutionäre Septemberverschwörung der Großmächte abgefasst sein mag, diese Verschwörung doch eine Tatsache ist und ihre Bedeutung mit jedem Tag stärker hervortritt. Es ist dies eine Verschwörung gegen das Proletariat und die Demokratie. Es ist eine Verschwörung zur direkten Unterdrückung der Revolution in Asien oder zu ihrer indirekten Schwächung. Es ist eine Verschwörung zur Fortsetzung des kolonialen Raubes und der territorialen Eroberungen heute auf dem Balkan, morgen in Persien, übermorgen vielleicht in Kleinasien, in Ägypten usw. usw.

Diese vereinten Kräfte der gekrönten Räuber und des internationalen Kapitals zu vernichten, ist allein die Weltrevolution des Proletariats imstande. Die Tagesaufgabe aller sozialistischen Parteien ist es, die Massenagitation zu steigern, das Spiel der Diplomaten aller Länder zu entlarven und klar und deutlich alle Tatsachen aufzuzeigen, die Beweise für die niederträchtige Rolle sind, die alle verbündeten Mächte spielen, ganz gleich, ob sie die Funktionen des Gendarmen unmittelbar erfüllen oder nur Helfershelfer, Freunde und Finanziers dieser Gendarmen sind.

Den russischen sozialdemokratischen Abgeordneten in der Duma, wo man die Erklärung Iswolskis und eine Interpellation der Kadetten und Oktobristen erwartet, liegt eine außerordentlich schwere, aber auch außerordentlich hohe, große Pflicht ob. Sie sind Mitglieder einer Institution, die die Politik des wichtigsten reaktionären Staates, des Hauptverschwörers der Gegenrevolution, deckt, und sie müssen es verstehen und den Mut finden, die ganze Wahrheit zu sagen. In einem solchen Augenblick wie diesem ist den sozialdemokratischen Deputierten der Schwarzhunderter-Duma viel gegeben, aber es wird auch viel von ihnen gefordert. Denn außer ihnen gibt es in der Duma niemand, der seine Stimme gegen den Zarismus nicht vom oktobristisch-kadettischen Standpunkt aus erheben könnte. Ein kadettischer „Protest" aber ist in solchen Zelten und unter solchen Verhältnissen schlimmer als nichts, da er nur ein Protest aus der Mitte desselben kapitalistischen Wolfsrudels im Namen derselben Wolfspolitik sein kann.

Es gilt also sowohl für unsere Duma-Fraktion als auch für alle übrigen Parteiorganisationen, an die Arbeit zu gehen. Der Agitation in den Massen kommt jetzt eine hundertmal größere Bedeutung zu als in gewöhnlichen Zeiten. Drei Umstände müssen dabei in unserer gesamten Parteiagitation in den Vordergrund gerückt werden. Erstens muss die Sozialdemokratie, im Gegensatz zu der gesamten reaktionären und liberalen Presse von den Schwarzhunderten bis einschließlich zu den Kadetten, dem diplomatischen Spiel mit Konferenzen und Abmachungen der Mächte, mit Bündnissen mit England gegen Österreich oder mit Österreich gegen Deutschland oder welchen Bündnissen immer die Maske herunter reißen. Unsere Aufgabe ist es, die konterrevolutionäre Verschwörung der Mächte, die bereits vollendete Tatsache ist und die die Regierungen mit allen Kräften durch die Komödie offenerer Verhandlungen zu bemänteln suchen, aufzudecken. Gegen die diplomatischen Komödien, für die Enthüllung der Wahrheit vor dem Volke, für die Entlarvung der internationalen antiproletarischen Reaktion! Zweitens müssen wir die in Tatsachen und nicht in Worten bestehenden Früchte und Ergebnisse dieser Verschwörung ans Licht ziehen, nämlich den Schlag gegen die türkische Revolution, die Unterstützung Russlands bei der Unterdrückung der persischen Revolution, die Einmischung in fremde Angelegenheiten und die Verletzung des Grundprinzips der Demokratie, des Selbstbestimmungsrechtes der Nationen. Unser Programm, wie überhaupt das Programm der Sozialdemokraten der ganzen Welt, tritt für dieses Recht ein. Und es gibt nichts Reaktionäreres als die Sorge der Österreicher einerseits und der russischen Schwarzhunderter andererseits um die „slawischen Brüder". Diese „Sorge" ist der Deckmantel für die niederträchtigsten Intrigen, durch die Russland auf dem Balkan schon längst berühmt geworden ist. Diese „Sorge" läuft immer auf einen Anschlag gegen den wirklichen Demokratismus in den betreffenden Balkanländern hinaus. Die einzige aufrichtige „Sorge" der Mächte um die Balkanländer könnte darin und nur darin bestehen, sie sich selbst zu überlassen, ihnen das Leben nicht durch fremde Einmischung schwer zu machen, der türkischen Revolution keine Knüppel zwischen die Beine zu werfen. Doch kann die Arbeiterklasse eine solche Politik gewiss nicht von der Bourgeoisie erwarten!

Alle bürgerlichen Parteien – auch die dem Namen nach liberalsten und „demokratischsten", unsere Kadetten inbegriffen – stehen auf dem Standpunkt der kapitalistischen Außenpolitik. Dies ist der dritte Umstand, auf den die Sozialdemokratie besonders energisch hinweisen muss. Die Liberalen und die Partei der Kadetten sind im Grunde genommen auch für denselben Wettbewerb der kapitalistischen Nationen, nur heben sie andere Formen dieses Wettbewerbs hervor als die Schwarzhunderter, nur streben sie andere internationale Abmachungen an als die, auf die sich jetzt die Regierung stützt. Und dieser liberale Kampf gegen die eine Form der bürgerlichen Außenpolitik, für eine andere Form derselben Politik, diese liberalen Vorwürfe gegen die Regierung, sie bleibe (was Raub und Einmischung betrifft!) hinter den anderen zurück, übt auf die Massen die korrumpierendste Wirkung aus. Nieder mit jeder Kolonialpolitik, nieder mit der ganzen Politik der Einmischungen und des kapitalistischen Kampfes um fremdes Land, fremde Bevölkerung, neue Privilegien, neue Absatzgebiete, Meerengen usw. Die Sozialdemokratie teilt nicht die sinnlose kleinbürgerliche Utopie eines „friedlichen und gerechten" kapitalistischen Fortschritts. Die Sozialdemokratie kämpft gegen die gesamte kapitalistische Gesellschaft, da sie weiß, dass es auf der Welt keinen anderen Verteidiger von Frieden und Freiheit gibt als das internationale revolutionäre Proletariat.

P. S. Als dieser Artikel schon in Satz gegeben war, erschien in den Zeitungen ein Telegramm der Petersburger Telegraphenagentur, das die Nachricht, die russischen Truppen hätten die persische Grenze überschritten, dementiert. Dies Telegramm steht in der „Frankfurter Zeitung" vom 24. X., zweite Morgenausgabe. Die dritte Ausgabe bringt ein Telegramm aus Konstantinopel vom 24. X., 10 Uhr 50 Minuten abends, das besagt, dass am Abend des 24. X. in Konstantinopel die Überschreitung der persischen Grenze durch die russischen Truppen bekannt wurde. Außer der sozialistischen schweigt die Auslandspresse vorläufig über die Invasion der russischen Truppen in Persien.

Fazit: Endgültig die volle Wahrheit erfahren können wir nicht. Jedenfalls verdienen „Dementis", die von der Zarenregierung und der St.-Petersburger Telegraphenagentur ausgehen, natürlich nicht das geringste Vertrauen. Dass Russland mit Wissen der Mächte die persische Revolution mit allen Mitteln – von Intrigen bis zur Entsendung von Truppen – bekämpft, ist Tatsache. Dass es eine Politik treibt, die auf die Okkupation Aderbaidschans gerichtet ist, ist ebenfalls über alle Zweifel erhaben. Haben die Truppen die Grenze noch nicht überschritten, so sind sicherlich alle Maßnahmen dazu getroffen: Ohne Feuer kein Rauch!

1 Berliner Traktat – Vertrag, in dem die Beschlüsse des Kongresses, der vom 13. Juni bis zum 13. Juli 1878 in Berlin tagte, und dessen Zweck die Erörterung des San-Stefano-Vertrags zwischen Russland und der Türkei (März desselben Jahres) war, bestätigt wurden. Der Versuch Russlands, während des Krieges 1877-78 Konstantinopel und die Dardanellen an sich zu reißen, scheiterte am Einspruch Englands und Österreich-Ungarns. Im Mai 1877 wurde eine englisch-russische Geheimkonvention abgeschlossen, in der die später auf dem Kongress nur noch sanktionierte Aufteilung der Türkei vorgesehen war. England erhielt die Insel Zypern, Russland – Bessarabien, Ardagan, Kars und Batum, Österreich-Ungarn – Bosnien und die Herzegowina. Der Kongress entwarf auch den Plan einer Reihe weiterer Aufteilungen der türkischen Besitzungen. Seine Beschlüsse sollten für die internationalen Beziehungen auf dem Balkan bestimmend sein, aber die Großmächte fühlten sich dadurch nicht behindert, den Vertrag mehrmals zu verletzen.

2 Der genaue Titel des Aufsatzes von Schippel lautet: „Die Balkanwirren und die Demokratie einst und heute" („Sozialistische Monatshefte", XII. Jahrg., Heft 21, 22. X. 1908).

3 Zusatz Lenins. Die Red.

4 Lenin meint den Leitartikel aus dem „Nowoje Wremja" vom 5. (18.) Oktober 1908.

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