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Wladimir I. Lenin 19080523 Kadetten des zweiten Aufgebots

Wladimir I. Lenin: Kadetten des zweiten Aufgebots

[Proletarij“, Nr. 30 23. (10.) Mai 1908. Nach Sämtliche Werke, Band 12, Wien-Berlin 1933, S. 240-244]

Die in vorliegender Nummer unter dem Titel „Wissenschaftliche Chronik" veröffentlichte Korrespondenz aus Russland verdient die besondere Beachtung der Leser. Knapp vor Erscheinen unserer Zeitung erhielten wir eine Bestätigung der Tatsachen, über die unser Korrespondent berichtet, und so müssen wir uns eingehender mit ihnen beschäftigen.1

Eine neue politische Organisation ist im Entstehen: in der sozialen Bewegung ist eine gewisse neue Wendung zu beobachten. Elemente der bürgerlichen Demokratie, die „links von den Kadetten" sein wollen und die Menschewiki und Sozialrevolutionäre an sich heranziehen, schließen sich zusammen. Es scheint die unklare Erkenntnis durchzudringen, dass die kadettische Opposition in der III. Duma ein verwesender Leichnam ist und dass man über ihren Kopf hinweg „etwas tun" müsse.

Das sind die Tatsachen. Sie zeichnen sich wirklich nicht durch Bestimmtheit aus, aber sie sind Anzeichen für Erscheinungen, die vom Standpunkt der Lehren der ersten drei Revolutionsjahre begreiflich und unausbleiblich sind.

Die Kadetten des ersten Aufgebots sind im Sommer 1905 auf dem offenen Schauplatz der Revolution erschienen. Weniger als drei Jahre haben genügt, damit sie verwelken, ohne geblüht zu haben. Sie werden nunmehr von den Kadetten des zweiten Aufgebots abgelöst. Was ist der eigentliche Sinn dieses Personenwechsels, und welche Aufgaben erwachsen daraus der Arbeiterpartei?

Die Kadetten des ersten Aufgebots lärmten auf den Banketten von 1904, führten die Semstwokampagne, brachten den beginnenden Aufschwung des öffentlichen Lebens zum Ausdruck zu einer Zeit, wo die Beziehungen der Klassen zum Absolutismus und untereinander noch gänzlich unentwickelt waren, d. h. bis zu jener Zeit, wo dann der offene Kampf der Massen und die Politik der Klassen, nicht mehr die von Grüppchen, diese Beziehungen bestimmte. Die Kadetten schlossen damals die verschiedenartigsten Elemente der bürgerlichen, sogenannten gebildete Gesellschaft zusammen, vom Gutsbesitzer an, der nicht so sehr Verfassung als vielmehr einen guten Happen wollte, bis zu den werktätigen Intellektuellen und Angestellten. Die Kadetten gingen darauf aus, zwischen der „angestammten Macht", d. h. dem Absolutismus, und den kämpfenden Massen der Arbeiterklasse und der Bauernschaft zu vermitteln. Die Deputation an den Zaren im Sommer 1905 war der Anfang dieser Kriecherei, denn eine andere Art von Vermittlung als Kriecherei können sich die russischen Liberalen nicht denken. Seitdem gab es buchstäblich keine einzige einigermaßen bedeutende Etappe der russischen Revolution, wo der bürgerliche Liberalismus nicht mit Hilfe derselben Methode tiefer Bücklinge vor dem Absolutismus und den Helfershelfern der Schwarzhunderter-Gutsbesitzer „vermittelt" hätte. Im August 1905 bekämpfte er die revolutionäre Taktik des Boykotts der Bulyginschen Duma. Im Oktober 1905 entstand aus seiner Mitte die offen konterrevolutionäre Partei der Oktobristen, zu gleicher Zeit sandte er Peter Struve in Wittes Vorzimmer, predigte Mäßigung und Bescheidenheit. Im November 1905 verurteilte er den Streik der Post- und Telegraphenangestellten und bedauerte die „Schrecken" der Soldatenaufstände. Im Dezember 1905 schmiegte er sich ängstlich an Dubassow, um schon tags darauf den „Wahnsinn" zu brandmarken (eigentlich müsste man sagen: um ihm den Eselstritt zu versetzen). Anfang 1900 verteidigte er sich eifrig gegen die „schmachvolle" Unterstellung, die Liberalen seien imstande, im Auslande gegen die der Festigung des Absolutismus dienende Milliardenanleihe Agitation zu treiben. In der I. Duma drechselte der Liberalismus Phrasen über Volksfreiheit, unter der Hand aber lief er über die Hintertreppe zu Trepow und bekämpfte die Trudowiki und die Arbeiterabgeordneten. Das Wiborger Manifest war ein Versuch, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen, so zu lavieren, dass das Verhalten der Liberalen je nach Bedarf – bald als Unterstützung, bald als Bekämpfung der Revolution ausgelegt werden könne. Von der II. und III. Duma ganz zu schweigen, dort hat der Kadettenliberalismus seine oktobristische Natur in hellstem Glanze erstrahlen lassen.

In einem Zeitraum von drei Jahren haben die Kadetten dermaßen abgewirtschaftet, dass Versuche einer Neubelebung von allem Anfang an mit der Losung „Links von den Kadetten" verknüpft werden! Die Kadetten des ersten Aufgebots haben sich selber unmöglich gemacht. Sie haben sich durch ihren ununterbrochenen Verrat an der Volksfreiheit selber das Grab geschaufelt.

Sind aber die Kadetten des zweiten Aufgebots, der Nachwuchs der alten, nicht vom gleichen Leichengift verseucht? Beabsichtigen nicht die „Sozialkadetten", die Herren Volkssozialisten, die sich um die neue Organisation so eifrig bemühen, die alte, uns aus dreijähriger Erfahrung sattsam bekannte Evolution zu wiederholen?

Diese Frage darf nicht durch Weissagungen über die Zukunft, sondern muss durch eine Analyse der Vergangenheit beantwortet werden. Diese Analyse aber zeigt unumstößlich, dass die „Menschewiki unter den Sozialrevolutionären", die Herren Volkssozialisten, in der politischen Organisation der Bauernschaft, unter den Trudowiki oder, richtiger gesagt, in jener politischen Bewegung, wo sie sich in ihrer „besseren Zeit", z. B. zur Zeit der I. Duma, betätigten, tatsächlich die Rolle der Kadetten gespielt haben. Man erinnere sich an die Haupttatsachen aus der Geschichte der „Partei" (des Grüppchens?) der Volkssozialisten in der russischen Revolution. Ihre Taufe empfingen sie im „Sojus Oswoboschdenija" („Bund der Befreiung"). Auf dem Parteitag der Sozialrevolutionäre, Dezember 1905, vertraten sie, die ewig zwischen Kadetten und Sozialrevolutionären Schwankenden, eine ungereimte Mittelposition: sie wollten sowohl mit den Sozialrevolutionären gehen als auch getrennt von ihnen bleiben – beides zugleich. In der Zeit der Oktoberfreiheiten gaben sie politische Zeitungen im Block mit den Sozialrevolutionären heraus. Das gleiche Bild auch zur Zeit der I. Duma: „höchste" Diplomatie, „schlaues" Geheimhalten der Meinungsverschiedenheiten vor den Augen der Welt! Nach der Auseinanderjagung der I. Duma, nach dem Misserfolg der zweiten Aufstandsperiode, nach der Niederwerfung des Sveaborger Aufstands entschließen sich diese Gentlemen, nach rechts einzuschwenken. Sie „legalisieren" ihre Partei – zu dem einzigen Zweck natürlich, den Gedanken des Aufstandes in der Presse legal zu beschimpfen und das Unzeitgemäße einer aktiven republikanischen Propaganda zu beweisen. Vor den Bauernvertretern der I. Duma tragen sie über die Sozialrevolutionäre den Sieg davon, indem sie für ihren Agrarentwurf 104 Unterschriften, gegen 33 Unterschriften der Sozialrevolutionäre, sammeln. Das „vernünftige" bürgerliche Streben des bäuerlichen Kleinbesitzers nach Nationalisierung des Bodens gewinnt die Oberhand über die nebelhafte Verschwommenheit der „Sozialisierung". Statt des Strebens nach politisch-revolutionärer Organisierung der Bauernschaft für den Aufstand sehen wir bei den Sozialkadetten ein Streben zu Legalitäts- und Parlamentsspielereien, zu beschränktem Intelligenzler-Zirkelwesen. Das Schwanken des russischen Bauern zwischen dem Kadetten und dem opportunistischen Intelligenzler, dem Volkssozialisten einerseits und dem nach Intelligenzlerart inkonsequenten Revolutionär, dem Sozialrevolutionär, anderseits ist ein Ausdruck der zwiespältigen Lage des kleinen Landwirts, ein Ausdruck seiner Unfähigkeit, ohne Anleitung des Proletariats einen konsequenten Klassenkampf zu führen.

Und wenn jetzt die Herren Volkssozialisten wieder mit den linken Kadetten anbandeln und die Schwachköpfe, die Menschewiki und Sozialrevolutionäre, mitschleppen, so bedeutet dies, dass die ganze Gesellschaft in den drei Jahren Revolution nichts gelernt hat. Sie reden des Langen und Breiten davon, dass die wirtschaftlichen Forderungen zur Spaltung führen. Sie wollen auf dem Boden der näherliegenden, der politischen Forderungen einen Zusammenschluss herbeiführen. Sie haben vom Lauf der Revolution, die sowohl in Russland als auch in anderen Ländern gezeigt hat, dass nur der Massenkampf stark ist und dass sich nur unter der Fahne ernstlicher wirtschaftlicher Umwälzungen ein solcher Kampf entfalten kann, rein gar nichts begriffen.

Dass es die Menschewiki und Sozialrevolutionäre immer und immer wieder zu den linken Kadetten hinzieht, ist nichts Neues mehr. So war es bei den Wahlen zur II. Duma in Petersburg. So war es auch bei der Frage des Kadettenkabinetts und der mit Machtvollkommenheit ausgestatteten Duma bei den einen, in der Frage des Geheimblocks mit den Volkssozialisten bei den andern.

Es muss tiefliegende Gründe geben für dieses geradezu krankhafte Streben der kleinbürgerlichen Intellektuellen, unter die Fittiche der liberalen Bourgeoisie zu gelangen.

Dieses Streben wird natürlich, wie üblich, durch Redensarten über die Ausnützung des neuen Aufschwungs oder der neuen Gruppierung der Kräfte usw. zu bemänteln versucht.

O ja, ihr Herren, wir sind auch für Ausnützung ... des Leichnams – aber nicht, um an ihm „Belebungsversuche“ anzustellen, sondern um mit ihm den Boden zu düngen; nicht um faule Theorien und Philisterstimmungen zu unterstützen, sondern für die Rolle des „Anwalts des Satans" ... An diesem neuen, guten, ausgezeichneten Beispiel der Volkssozialisten und linken Kadetten werden wir das Volk lehren, was man nicht tun soll, wie man kadettischen Verrat und kleinbürgerliche Kraft- und Saftlosigkeit vermeidet. Wir werden Wachstum und Entwicklung dieser neuen Missgeburt (wenn sie kein totgeborenes Kind ist) aufmerksam verfolgen und stündlich daran erinnern, dass jedes solches Embryo, wenn es nur nicht totgeboren ist, im heutigen Russland unvermeidlich und unabwendbar eine Vorstufe zum Massenkampf der Arbeiterklasse und der Bauernschaft bedeutet. Der „Sojus Oswoboschdenije" („Bund der Befreiung") lebt wieder auf. Das heißt, dass man „oben" etwas zu ahnen beginnt. Und wenn dem so ist, so bedeutet das wiederum, dass dem Beginn die Fortsetzung, dem Getue der Intelligenzler der proletarische Kampf folgen wird.

Und so werden wir, in Verbindung mit dem Aufmarsch des zweiten kadettischen Aufgebots, das Volk die Erfahrungen des Kampfes, die revolutionäre Annäherung an die revolutionär kämpfenden Bauernmassen, die Annäherung nur an sie allein und nur im Kampfe lehren.

1 Über die Wiederherstellung des „Sojus Oswoboshdenija" schrieb Lenin bereits im Februar in Nr. 21 des „Proletarij" in dem Aufsatz „Politische Notizen". In der gleichen Nummer des „Proletarij" (Nr. 30), die den vorliegenden Artikel enthält, ist auch ein Brief aus Russland veröffentlicht: „Wissenschaftliche Chronik. Neue Belebungsversuche an Leichen", worin die Einzelheiten der ersten Tagung dieses neuen „Sojus Oswoboshdenija" sowie seine Versuche zur Anknüpfung von Verbindungen mit anderen Parteien mitgeteilt werden. Auf dieser Tagung wurde die damals bestehende Möglichkeit erwähnt, mit den Sozialrevolutionären und Menschewiki Fühlung zu gewinnen.

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