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Wladimir I. Lenin 19161104 Rede auf dem Parteitag der SP der Schweiz

Wladimir I. Lenin: Rede auf dem Parteitag

der sozialdemokratischen Partei der Schweiz

4. November 1916

[Deutsch veröffentlicht im Jahre 1916 im „Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages in Zürich am 4. und 5. November 1916". Nach Sämtliche Werke, Band 19, 1930, S. 347-350]

Die sozialdemokratische Partei der Schweiz hat vor kurzem die Ehre gehabt, den Zorn des Führers der dänischen offiziellen sozialdemokratischen Partei, des Herrn Ministers Stauning, auf sich zu lenken. Dieser erklärte mit Stolz in einem Briefe an einen andern – auch quasi sozialistischen – Minister, Vandervelde1, vom 19. September d. J., dass

wir (die dänische Partei) scharf und bestimmt Abstand genommen haben von der organisationsschädlichen Zersplitterungsarbeit, welche auf Veranlassung der italienischen und schweizerischen Parteien unter dem Namen ,Zimmerwaldbewegung' in Szene gesetzt worden ist.“

Indem ich im Namen des Zentralkomitees der sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands den Parteitag der sozialdemokratischen Partei begrüße, tue ich es in der Hoffnung, dass diese Partei die internationale Vereinigung der revolutionären Sozialdemokraten, die in Zimmerwald begonnen hat und die mit einem vollständigen Bruch des Sozialismus mit seinen ministeriellen und sozialpatriotischen Verrätern enden muss, auch fernerhin unterstützen werde.

Dieser Bruch reift in allen Ländern des entwickelten Kapitalismus. In Deutschland wurde der Gesinnungsfreund von Karl Liebknecht, Genosse Otto Rühle, von den Opportunisten und dem sogenannten Zentrum angegriffen, als er im Zentralorgan der deutschen Partei erklärte, die Spaltung sei unumgänglich geworden („Vorwärts, 12. Januar 1916). Aber die Tatsachen sprechen immer deutlicher dafür, dass Genosse Rühle recht hatte, dass in Deutschland in Wirklichkeit zwei Parteien bestehen: die eine hilft der Bourgeoisie und der Regierung den Raubkrieg führen, die andere, die ihre Tätigkeit hauptsächlich illegal entfaltet, verbreitet wirklich sozialistische Aufrufe an die wirklichen Massen, organisiert Massendemonstrationen und politische Streiks.

In Frankreich hatte das „Komitee zur Wiederherstellung der internationalen2 Verbindungen“ vor kurzem eine Broschüre „Die Zimmerwalder Sozialisten und der Krieg“ veröffentlicht, in der wir lesen, dass in Frankreich innerhalb der Partei sich drei Hauptrichtungen entwickelt haben. Die eine, die der Mehrheit, wird in der Broschüre als die der Sozialisten-Nationalisten, Sozialpatrioten, welche mit unsern Klassenfeinden einen Vertrag der heiligen Einigung abgeschlossen haben, gebrandmarkt. Die zweite Richtung ist nach Angabe dieser Broschüre die Minderheit, die Anhänger der Deputierten Longuet und Pressemane, die in den wichtigsten Fragen mit der Mehrheit einig ist, die unbewusst das Wasser auf die Mühle der Mehrheit leitet, indem sie die unzufriedenen Elemente durch Einschläferung ihres sozialistischen Gewissens an sich heran lockt und dieselben der offiziellen Politik der Partei zu folgen zwingt. Als dritte Richtung bezeichnet die Broschüre die Zimmerwaldisten. Diese anerkennen, dass nicht die Kriegserklärung seitens Deutschlands Frankreich in den Krieg verwickelt hat, sondern seine imperialistische Politik, die es durch Verträge und Anleihen an Russland gebunden hat. Diese dritte Richtung proklamiert unzweideutig, dass „die Verteidigung des Vaterlandes unsozialistisch ist“.

Auch bei uns in Russland sowie in England und den neutralen Vereinigten Staaten Amerikas, mit einem Wort in der ganzen Welt haben sich im Grunde genommen dieselben drei Richtungen gebildet. Der Kampf dieser Richtungen wird das Schicksal der Arbeiterbewegung für die nächste Zukunft bestimmen.

Erlauben Sie mir, mit einigen Worten noch einen Punkt zu berühren, über den heutzutage besonders viel gesprochen wird und über welchen wir russischen Sozialdemokraten im Besitze einer besonders reichen Erfahrung sind: das ist die Frage des Terrorismus.

Wir besitzen noch keine Nachrichten von den österreichischen revolutionären Sozialdemokraten, die auch dort vorhanden sind, und auch die sonstigen Nachrichten sind äußerst spärlich. Infolgedessen wissen wir nicht, ob die Hinrichtung Stürgkhs durch den Genossen Fritz Adler die Anwendung des Terrorismus als Taktik war, die in der systematischen Organisierung politischer Attentate ohne Zusammenhang mit dem revolutionären Kampf der Masse steht, oder ob diese Hinrichtung nur ein einzelner Schritt im Übergang von der opportunistischen, nichtsozialistischen Taktik der das Vaterland verteidigenden offiziellen österreichischen Sozialdemokraten zu eben jener Taktik des revolutionären Massenkampfes war. Diese zweite Annahme scheint eher den Tatsachen zu entsprechen, und infolgedessen verdient die Begrüßung an Fritz Adler, die der Zentralvorstand der italienischen Partei zum Beschlüsse erhoben hat und die im „Avanti“ vom 29. Oktober veröffentlicht wurde3, die volle Sympathie.

Jedenfalls sind wir überzeugt, dass die Erfahrung der Revolution und Konterrevolution die Richtigkeit des mehr als zwanzigjährigen Kampfes unserer Partei gegen den Terrorismus als Taktik bestätigt hat. Es darf aber nicht vergessen werden, dass dieser Kampf im engen Zusammenhange mit dem schonungslosen Kampf gegen den Opportunismus, der geneigt war, jegliche Anwendung der Gewalt von Seiten der unterdrückten Klassen gegen ihre Unterdrücker zu verwerfen, geführt worden ist. Wir waren immer für die Anwendung der Gewalt, sowohl im Massenkampfe wie auch im Zusammenhänge mit diesem Kampfe. Zweitens haben wir den Kampf auch gegen den Terrorismus mit einer jahrelangen, viele Jahre vor dem Dezember 1905 beginnenden Propaganda des bewaffneten Aufstandes vereinigt. Wir sahen in ihm nicht nur die beste Antwort des Proletariats auf die Politik der Regierung, sondern auch das unvermeidliche Resultat der Entwicklung des Klassenkampfes für den Sozialismus und die Demokratie. Drittens hatten wir uns mit der prinzipiellen Anerkennung der Gewaltanwendung und der Propagierung des bewaffneten Aufstandes nicht begnügt. Wir unterstützten z. B. vier Jahre vor der Revolution die Anwendung der Gewalt der Masse gegen ihre Unterdrücker, besonders bei den Straßendemonstrationen. Wir bemühten uns dafür, dass sich das ganze Land die Praxis einer jeden solchen Demonstration zu eigen machte. Wir trachteten immer mehr auf Organisierung eines ausdauernden und systematischen Widerstandes der Massen gegenüber der Polizei und dem Militär, auf die Hineinziehung4 mittelst dieses Widerstandes eines möglichst großen Teils der Armee in den Kampf zwischen dem Proletariat und der Regierung, auf die Heranziehung der Bauern und des Militärs zu einer bewussten Anteilnahme an diesem Kampfe. Das ist die Taktik, die wir im Kampfe gegen den Terrorismus angewendet haben und die nach unserer festen Überzeugung vom Erfolge gekrönt ist.

Ich schließe, Parteigenossen, mit der Wiederholung meiner Begrüßung des Parteitages der sozialdemokratischen Partei der Schweiz und wünsche ihrer Tagung erfolgreiche Arbeit.

1 Gemeint ist der Brief Staunings an Vandervelde, den die Chemnitzer „Volksstimme“ in Nr. 241 vom 16. Oktober 1916 unter dem Titel „Minister Stauning und Deutschland“ veröffentlichte.

2 Im „Protokoll usw.“ steht „nationalen“, was ein Druckfehler ist. Die Red.

3 Der Gruß des ZK der Sozialistischen Partei Italiens an Friedrich Adler ist veröffentlicht im Avanti!“ Nr. 301 vom 29. Oktober 1916 unter dem Titel „Saluto a Fritz Adler“.

4 Im „Protokoll usw“. „Heranziehung“. Die Red.

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