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Wladimir I. Lenin 19150500 Der englische Pazifismus und die englische Abneigung gegen die Theorie

Wladimir I. Lenin: Der englische Pazifismus und die englische Abneigung

gegen die Theorie

[Geschrieben im April-Mai 1915. Zum ersten Mal veröffentlicht in der „Prawda“ vom 27. Juli 1924. Nach Sämtliche Werke, Band 18, Wien-Berlin 1929, S. 178-184]

England kannte bisher eine ungleich größere politische Freiheit als die anderen europäischen Länder. Die Bourgeoisie ist hier besser als überall sonst ans Regieren gewöhnt und versteht zu regieren. Die Klassenverhältnisse sind hier reifer und in vieler Hinsicht schärfer ausgeprägt als in den anderen Staaten. Das Fehlen einer allgemeinen militärischen Dienstpflicht macht die Stellungnahme des Volkes zum Krieg viel freier, und zwar in dem Sinne, dass ein jeder den Dienst mit der Waffe verweigern kann, die Regierung (in England stellt die Regierung die reinste Form eines geschäftsführenden Ausschusses der Bourgeoisie dar) daher die größten Anstrengungen zu machen gezwungen ist, will sie eine „Volks“-Begeisterung für den Krieg erwecken; dieses Ziel wäre unter diesen Umständen ohne radikalen Bruch der Gesetze absolut unerreichbar, wäre nicht die proletarische Masse vollkommen desorganisiert und demoralisiert durch den Übergang einer Minderheit von bestbezahlten, qualifizierten, gewerkschaftlich zusammengeschlossenen Arbeitern ins Lager der liberalen, d. h. bürgerlichen Politik. Die englischen Trade Unions umfassen etwa ein Fünftel der Lohnarbeiter. Die Führer dieser Trade Unions sind zum größeren Teil Liberale, und Marx hatte sie schon vor langer Zeit als Agenten der Bourgeoisie bezeichnet.

All diese besonderen Verhältnisse Englands machen es uns um so leichter, das Wesen des modernen Sozialchauvinismus zu begreifen; dies einerseits – denn dieses Wesen ist das gleiche in den absolutistischen wie in den demokratischen, in den militaristischen wie in den keine Militärpflicht kennenden Ländern –, anderseits aber helfen sie uns auf Grund der Tatsachen die Bedeutung jener versöhnlichen Haltung gegenüber dem Sozialchauvinismus einzuschätzen, die z. B. in der Verherrlichung der Friedenslosung usw. zum Ausdruck kommt.

Den vollendetsten Ausdruck des Opportunismus und der liberalen Arbeiterpolitik haben wir unzweifelhaft in der „Fabier-Gesellschaft“ vor uns. Der Leser braucht nur einen Blick in den Briefwechsel Marx’ und Engels' mit Sorge (es gibt eine russische Übersetzung in zwei Ausgaben1) zu werfen. Er wird dort eine glänzende Charakterisierung dieser Gesellschaft durch Engels finden; Engels behandelt die Herren Sidney Webb und Co. als eine Bande von bürgerlichen Abenteurern, die danach trachten, die Arbeiter zu korrumpieren, sie in konterrevolutionärem Sinne zu beeinflussen. Man kann für die Behauptung einstehen, dass kein einziger halbwegs verantwortungsvoller und einflussreicher Führer der II. Internationale jemals den Versuch gemacht hat, dieses Urteil von Engels zu widerlegen oder auch nur seine Richtigkeit anzuzweifeln.

Man vergleiche nun die Tatsachen und lasse einen Augenblick die Theorie beiseite. Man wird alsbald sehen, dass das Verhalten der „Fabier“ während des Kriegs (siehe z. B. ihre Wochenschrift „The New Statesman“) und das der deutschen sozialdemokratischen Partei, einschließlich Kautskys, vollkommen das gleiche ist. Dieselbe – direkte wie indirekte – Verteidigung des Sozialchauvinismus; dieselbe Verbindung dieser Verteidiger-Rolle mit der Bereitschaft zu allen möglichen edlen, humanen und beinahe radikalen Phrasen von Frieden, Abrüstung usw. usw.

Die Tatsache besteht, und die Schlussfolgerung daraus, so unangenehm sie auch für verschiedene Leute sein mag, lautet unvermeidlich und unbestreitbar folgendermaßen: die Führer der heutigen deutschen sozialdemokratischen Partei, Kautsky eingeschlossen, sind absolut dieselben Agenten der Bourgeoisie, als welche die Fabier schon vor langen Jahren von Engels bezeichnet worden waren. Der Umstand, dass die Fabier den Marxismus nicht anerkennen und dass Kautsky und Co. ihn „anerkennen“, ändert durchaus nichts am Kern der Sache, nichts an der tatsächlichen Politik, er beweist lediglich, dass bei etlichen Schriftstellern, Politikern usw. der Marxismus in Struvismus verwandelt ist. Ihre Heuchelei ist bei ihnen nicht persönliche Untugend, sie können in einzelnen Fällen die tugendhaftesten Familienväter sein, – ihre Heuchelei ist Resultat einer objektiven Verlogenheit in ihrer sozialen Stellung, sofern sie nämlich das revolutionäre Proletariat zu vertreten sich anmaßen, während sie in der Tat Agenten sind, deren Aufgabe in der Propaganda bürgerlicher, chauvinistischer Ideen unter dem Proletariat besteht.

Die „Fabier“ sind aufrichtiger und ehrlicher als die Kautsky und Co., weil sie niemals für die Revolution einzustehen versprochen haben, politisch aber sind sie eines Wesens.

Das „ehrwürdige Alter“ der politischen Freiheit in England und der hohe Entwicklungsgrad des politischen Lebens im Allgemeinen, der Bourgeoisie im Besonderen hat dazu geführt, dass in diesem Lande verschiedenartige Schattierungen von bürgerlichen Anschauungen schnell, leicht und ungehindert in neuen politischen Organisationen neuen Ausdruck fanden. Eine von diesen Organisationen ist der „Bund der demokratischen Kontrolle“ (Union of Democratic Control). Sekretär und Schatzmeister dieser Organisation ist E. D. Morel, der jetzt auch ständiger Mitarbeiter des Zentralorgans der „Unabhängigen Arbeiterpartei“, des Blattes Labour Leader, ist. Dieses Subjekt war einige Jahre lang Kandidat für die Liberale Partei im Kreise Birkenhead. Als Morel kurz nach Ausbruch des Krieges sich gegen den Krieg aussprach, teilte ihm das Komitee der Birkenheader liberalen Vereinigung in einem Schreiben vom 2. Oktober 1914 mit, dass seine Kandidatur für die Liberalen von nun an unannehmbar sei, d. h. es schloss ihn kurzerhand aus der Partei aus. Morel antwortete mit einem Schreiben vom 14. Oktober, das er später als besondere Broschüre unter dem Titel „The outbreak of the war“ („Wie der Krieg ausbrach“) herausgab. In dieser Broschüre, wie in einer Reihe anderer Aufsätze, entlarvt Morel die eigene Regierung, beweist er die Lügenhaftigkeit der Versicherungen, wonach die Verletzung der belgischen Neutralität die Ursache des Kriegs, die Vernichtung des preußischen Imperialismus das Ziel des Kriegs sein soll usw. usw. Morel verficht das Programm des „Bundes der demokratischen Kontrolle“, das Frieden und Abrüstung fordert, allen Gebieten das Recht auf Entscheidung des eigenen Schicksals durch Plebiszit zugestanden wissen will und demokratische Kontrolle über die Außenpolitik verlangt.

Aus alledem geht hervor, dass Morel als Person wegen seiner ehrlichen Sympathie für den Demokratismus und wegen seiner Abkehr von der chauvinistischen zur pazifistischen Bourgeoisie unzweifelhaft Anerkennung verdient. Wenn Morel an Hand der Tatsachen den Nachweis führt, dass seine Regierung das Volk betrog, als sie das Vorhandensein von Geheimverträgen bestritt, obwohl solche in der Tat bestanden; – dass die englische Bourgeoisie noch im Jahre 1887 sich der Unvermeidlichkeit einer Verletzung der belgischen Neutralität im Falle eines deutsch-französischen Kriegs vollkommen klar bewusst war und jeden Gedanken an eine Einmischung kategorisch ablehnte (damals war Deutschland noch nicht der gefährliche Konkurrent!); – dass die französischen Militaristen vom Schlage des Oberst Boucher in einer ganzen Reihe von Büchern noch vor dem Kriege die bei ihnen bestehenden Pläne eines Angriffskriegs von Seiten Frankreichs und Russlands gegen Deutschland offen eingestanden; – dass eine bekannte militärische Autorität Englands, der Oberst Repington, im Jahre 1911 in der Presse die Verstärkung der russischen Rüstungen nach 1905 als Bedrohung Deutschlands konstatierte, – wenn Morel dies alles nachweist, können wir nicht umhin, zuzugeben, dass wir es mit einem außerordentlich ehrlichen und mutigen Bourgeois zu tun haben, der selbst vor dem Bruch mit seiner Partei nicht zurückschreckt.

Allein jeder wird ohne weiteres auch zugeben, dass er trotz alledem ein Bourgeois ist, dessen Phrasen von Frieden und Abrüstung leere Phrasen bleiben, da ohne revolutionäre Aktionen des Proletariats von demokratischem Frieden so wenig wie von Abrüstung die Rede sein kann. Und Morel, wenn er sich auch nunmehr wegen seiner Stellung zum gegenwärtigen Krieg von den Liberalen getrennt hat, bleibt doch ein Liberaler in allen andern ökonomischen und politischen Fragen. Wenn nun aber in Deutschland die gleichen bürgerlichen Phrasen von Frieden und Abrüstung ein Kautsky mit marxistischen Allüren vertritt, wie kommt es dann, dass man darin nicht Kautskys Heuchelei, sondern Kautskys Verdienst erblickt? Nur die Unentwickeltheit der politischen Verhältnisse und das Fehlen politischer Freiheit in Deutschland verhindert es, dass hier mit der gleichen Schnelligkeit und Leichtigkeit wie in England eine bürgerliche Friedens- und Abrüstungs-Liga mit Kautskyschem Programm entsteht.

Gestehen wir doch die Wahrheit, dass Kautsky den Standpunkt eines pazifistischen Bourgeois, nicht den eines revolutionären Sozialdemokraten vertritt.

Die Ereignisse, die wir erleben, sind so gewaltig, dass man den Mut zur Wahrheit „ohne Rücksicht auf die Person“ haben muss.

Die Engländer in ihrer Antipathie gegen abstrakte Theorien und in ihrem Stolz auf ihren praktischen Sinn stellen die politischen Fragen nicht selten unverhüllter, machen es also den Sozialisten der anderen Länder leichter, unter der Hülle des verschiedenartigsten literarischen Gefasels (auch des „marxistischen“) den realen Inhalt zu entdecken. In dieser Hinsicht ist die im Verlag der chauvinistischen Zeitung „Clarion“2 vor dem Krieg erschienene Broschüre „Sozialismus und Krieg“* recht lehrreich. Die Broschüre enthält ein „Manifest“ gegen den Krieg von dem amerikanischen Sozialisten Upton Sinclair und die Erwiderung des Chauvinisten Robert Blatchford, der schon lange Hyndmans imperialistischen Standpunkt vertritt.

Sinclair ist Gefühlssozialist, ohne jede theoretische Bildung. Er stellt die Frage „simpel“, ist empört über den drohenden Krieg und sucht die Rettung vor ihm im Sozialismus.

Man sagt uns,“ schreibt Sinclair, „dass die sozialistische Bewegung noch zu schwach sei, dass wir die Evolution abwarten müssten. Allein die Evolution vollzieht sich in den Herzen der Menschen; wir sind das Werkzeug der Evolution, und wenn wir nicht kämpfen werden, so wird es keinerlei Evolution geben. Man sagt uns, dass man unsere Bewegung“ (gegen den Krieg! „niederwerfen werde: ich aber spreche als meine tiefste Überzeugung dies aus, dass die Unterdrückung jeglicher Art von Auflehnung, die aus Gründen höchster Menschenliebe die Verhinderung des Kriegs zum Zweck hätte, den größten Sieg bedeuten würde, den der Sozialismus je erfochten hat, – dass sie das Gewissen der Zivilisation erschüttern und die Arbeiter der ganzen Welt aufpeitschen würde, in einer Weise, die in der Geschichte beispiellos wäre. lasst uns in Bezug auf unsere Bewegung nicht zu zaghaft sein, lasst uns der Zahl und dem äußeren Scheine der Kraft nicht zu große Bedeutung beimessen. Tausend Menschen, beseelt von heißem Glauben und Entschlossenheit, sind stärker als eine Million Menschen, die Vorsicht und Würde (Respektabilität) zu ihrem Teil erwählten. Es gibt für die sozialistische Bewegung keine größere Gefahr als die, eine endgültige Einrichtung zu werden.“

Das ist, wie man sieht, eine naive, theoretisch nicht durchdachte, aber doch absolut richtige Warnung vor der Trivialisierung des Sozialismus und ein Appell zum revolutionären Kampfe.

Welche Antwort gibt Blatchford an Sinclair?

Dass kapitalistische und militärische Interessen den Krieg verursachen, all das ist richtig – sagt er. Auch ich erstrebe nicht weniger als jeder beliebige andere Sozialist den Frieden und die Überwindung des Kapitalismus durch den Sozialismus. Doch mit „rhetorischen und schönen Phrasen“ wird Sinclair mich nicht überzeugen, die Tatsachen nicht aus der Welt schaffen. „Die Tatsachen, Freund Sinclair, sind ein hartnäckig Ding, und die deutsche Gefahr ist eine Tatsache.“ Weder wir noch die deutschen Sozialisten sind imstande, den Krieg zu verhindern. Sinclair übertreibt maßlos unsere Kräfte. Wir sind nicht geeint, wir haben weder Geld noch Waffen „noch Disziplin“. Es bleibt uns nur übrig, der britischen Regierung zu helfen, ihre Flotte zu verstärken, da es eine andere Gewähr für den Frieden nicht gibt noch geben kann.

Im kontinentalen Europa sind die Chauvinisten weder vor noch nach dem Kriegsbeginn so offen aufgetreten. In Deutschland herrscht statt der Offenheit die Heuchelei Kautskys und das Spiel mit Sophismen, bei Plechanow desgleichen. Gerade darum ist es lehrreich, auf die Verhältnisse in einem höher entwickelten Lande einen Blick zu werfen. Hier lässt sich niemand durch Sophistik und durch eine Karikatur auf den Marxismus irreführen. Die Fragen sind unmittelbarer und ehrlicher gestellt. Wir wollen von den „fortschrittlichen“ Engländern lernen.

Sinclair ist naiv mit seinem Appell, obgleich dieser Appell im tiefsten Grunde richtig ist, – naiv, weil er die halbhundertjährige Entwicklung des Sozialismus als Massenbewegung, den Kampf der Richtungen innerhalb dieser Bewegung ignoriert, weil er die Bedingungen für das Heranwachsen revolutionärer Aktionen bei Vorhandensein einer objektiv revolutionären Situation und einer revolutionären Organisation übersieht. „Mit dem Gefühl“ ist hier nichts auszurichten. Den rauen und schonungslosen Kampf zwischen den mächtigen Strömungen innerhalb des Sozialismus – zwischen der opportunistischen und der revolutionären – kann man nicht mit Rhetorik abtun.

Blatchford geht direkt auf sein Ziel los und verrät das geheim gehaltene Argument der Kautskyaner und Co., die sich scheuen, die Wahrheit zu sagen. Wir sind noch schwach – das ist alles, sagt Blatchford. Aber in seiner Offenheit enthüllt und entschleiert er alsbald seinen Opportunismus, seinen Chauvinismus. Dass er die Bourgeoisie und den Opportunisten dient, – dies wird sofort sichtbar. Indem er die „Schwäche“ des Sozialismus konstatiert, schwächt er ihn selbst durch Propagierung einer antisozialistischen, bürgerlichen Politik.

Ähnlich wie Sinclair – aber in entgegengesetztem Sinne, als Feigling und nicht als Kämpfer, als Verräter und nicht als Mann der „Tollkühnheit“ – ignoriert er gleichfalls die Vorbedingungen für die Schaffung einer revolutionären Situation.

Allein in seinen praktischen Schlüssen, in seiner Politik (Verzicht auf revolutionäre Aktionen, auf Propagierung und Vorbereitung solcher Aktionen) stimmt er, ein vulgärer Chauvinist, mit Plechanow und Kautsky restlos überein.

Marxistische Redensarten sind in unseren Tagen zum Deckmantel für vollkommene Preisgabe des Marxismus geworden; wenn man Marxist sein will, muss man die „marxistische Heuchelei“ der Führer der II. Internationale entlarven, muss man ohne Furcht auf den Kampf der zwei Richtungen im Sozialismus schauen, muss man die Probleme dieses Kampfes konsequent zu Ende denken. Das ist die Schlussfolgerung aus den englischen Verhältnissen; sie zeigen uns das marxistische Wesen der Sache ohne marxistische Redensarten.

1 Der Briefwechsel von Marx und Engels mit Sorge, deutsch veröffentlicht im Jahre 1921 („Briefe und Auszüge aus Briefen von Joh. Phil. Becker, Jos. Dietzgen, Friedrich Engels, Karl Marx u. a. an F. A. Sorge u. a.“), liegt in russischer Sprache in zwei Ausgaben vor: Ausgabe von Dauge (1907) und Ausgabe der Bibliothek „Obschtschestwennaja Polsa“ („Gemeinwohl“) (1908). In der ersten Ausgabe war die Übersetzung von Lenin redigiert und ein Vorwort aus seiner Feder beigegeben. In der zweiten Ausgabe war die Übersetzung der Briefe von P. Axelrod redigiert und ein Vorwort von ihm beigefügt.

Die Charakteristik der Fabier-Gesellschaft findet sich in Engels’ Briefen an Sorge vom 18. Januar, 18. März und 11. November 1893.

2 Clarion“ („Signalhorn“) – Verlag der Fabier-Gesellschaft.

* Socialism and war. The Clarion Press, London.

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