Lenin‎ > ‎1917‎ > ‎

Wladimir I. Lenin 19170330 Brief an Hanecki

Wladimir I. Lenin: Brief an Hanecki1

[Zum ersten Mal veröffentlicht im Jahre 1921 in der Zeitschrift „Proletarskaja Revoljuzija" Nr. 2. Nach Sämtliche Werke Band 20.1, Wien-Berlin 1928, S. 69-74]

30. (17.) März

Werter Genosse! Ich danke Ihnen von ganzem Herzen für Ihre Bemühungen und Ihre Hilfe. Ich kann natürlich nicht die Dienste von Leuten in Anspruch nehmen, die mit dem Herausgeber der „Glocke"2 in Verbindung stehen. Heute habe ich Ihnen telegraphiert, dass der Austausch von Schweizer Emigranten gegen deutsche Internierte die einzige Hoffnung bietet, von hier wegzukommen. England wird weder mich noch überhaupt die Internationalisten, weder Martow und seine Freunde noch Natanson und seine Freunde durchlassen. Tschernow wurde von den Engländern nach Frankreich zurückgeschickt, obwohl er sämtliche Papiere zur Durchreise hatte!! Es ist klar, dass die russische proletarische Revolution keinen schlimmeren Feind hat als die englischen Imperialisten. Es ist klar, dass der russische Imperialist und Kommis des englisch-französischen imperialistischen Kapitals Miljukow (u. Co.) zu allem fähig ist, zu Betrug, zu Verrat, zu allem, zu allem, um die Rückkehr der Internationalisten nach Russland zu verhindern: es wäre direkt verderblich für die Arbeiterbewegung und für unsere Partei, es wäre nahezu Verrat am Internationalismus, wollte man einem Miljukow oder Kerenski (der ein leerer Schwätzer und seiner objektiven Rolle nach ein Agent der russischen imperialistischen Bourgeoisie ist) das geringste Vertrauen entgegenbringen. Die einzige Hoffnung für uns – ich sage das ohne Übertreibung, die einzige – nach Russland zu kommen, ist, dass möglichst bald ein zuverlässiger Mensch nach Russland geschickt wird, um durch den Druck des „Arbeiterdeputiertenrates" von der Regierung den Austausch aller Emigranten in der Schweiz gegen deutsche Internierte zu erreichen. Man muss äußerst energisch vorgehen, jeden Schritt protokollieren, keine Kosten für Telegramme scheuen, Dokumente sammeln gegen Miljukow u. Co., die imstande sind, die Sache zu verschleppen, uns mit Versprechungen zu füttern, zu betrügen usw. Sie können sich vorstellen, was für eine Folter es für uns alle ist, in einer solchen Zeit hier sitzen zu müssen.

Weiter. Die Entsendung eines zuverlässigen Menschen nach Russland ist noch dringender aus grundsätzlichen Erwägungen. Die letzten Meldungen der ausländischen Zeitungen zeigen immer klarer, dass die Regierung mit direkter Hilfe Kerenskis und dank den unverzeihlichen (um es milde zu sagen) Schwankungen Tschcheïdses die Arbeiter betrügt, und zwar nicht ohne Erfolg betrügt, indem sie den imperialistischen Krieg für einen „Verteidigungskrieg" ausgibt. Wie aus einem Telegramm der St. Petersburger Telegraphenagentur vom 30. März 1917 hervorgeht, hat Tschcheïdse sich durch diese Losung völlig einfangen lassen, die – wenn man dieser im Allgemeinen natürlich unzuverlässigen Quelle Glauben schenken soll – auch der Arbeiterdeputiertenrat sich zu eigen gemacht haben soll. Auf alle Fälle ist, selbst wenn diese Meldung unrichtig sein sollte, die Gefahr eines solchen Betruges ungeheuer groß. Alle Anstrengungen der Partei müssen gerichtet sein auf die Bekämpfung dieses Betruges. Unsere Partei würde sich für immer mit Schmach bedecken, sie würde sich politisch erledigen, wenn sie auf einen solchen Betrug hereinfiele. Einer Meldung zufolge ist Muranow zusammen mit Skobelew aus Kronstadt zurückgekehrt. Sollte Muranow dorthin im Auftrage der Provisorischen Regierung Miljukow-Gutschkow gefahren sein, so bitte ich Sie (durch einen zuverlässigen Menschen), übermitteln zu lassen und zu veröffentlichen, dass ich das unbedingt verurteile und dass meiner tiefsten Überzeugung nach jede Annäherung an die zum Sozialpatriotismus hin neigenden und einen grundfalschen, äußerst schädlichen sozialpazifistischen, kautskyanischen Standpunkt einnehmenden Tschcheïdse u. Co., für die Arbeiterklasse schädlich, gefährlich, unzulässig ist.

Ich hoffe, Sie haben meine „Briefe aus der Ferne", Nr. 14, wo ich die theoretischen und politischen Grundlagen dieser Auffassung entwickle, erhalten. Wenn diese verloren gegangen sind oder Petersburg nicht erreicht haben, bitte mir zu telegraphieren, ich werde Kopien schicken.

Zweifellos besteht eine große Anzahl, anscheinend sogar die Mehrzahl der Arbeiter- und Soldatendeputierten des Petersburger Rates erstens aus Anhängern Kerenskis, eines äußerst gefährlichen Agenten der imperialistischen Bourgeoisie, der unter dem Deckmantel einer Fülle tönender Phrasen und leerer Versprechungen den Imperialismus vertritt, d. h. die Verteidigung und die Rechtfertigung des von Russland mit Raub- und Eroberungsabsichten geführten Krieges; zweitens aus Anhängern Tschcheïdses, der von allen guten Geistern verlassen, dem Sozialpatriotismus zu treibt, den Kautskyanismus in seiner ganzen Plattheit, seiner ganzen Unsinnigkeit mitmacht. Gegen beide Richtungen muss unsere Partei den hartnäckigsten, grundsätzlichsten, beharrlichsten, unerbittlichsten Kampf führen. Ich persönlich bin bereit, ohne das mindeste Schwanken, zu erklären, und zwar in der Presse zu erklären, dass ich sogar den sofortigen Bruch mit beliebigen Leuten unserer Partei irgendwelchen Konzessionen an den Sozialpatriotismus der Kerenski und Co. oder an den Sozialpazifismus und Kautskyanismus der Tschcheïdse u. Co. vorziehe.

Ich muss unbedingt darauf bestehen, dass der hiesige „Sozialdemokrat"3, die Broschüre von Lenin und Sinowjew über Krieg und Sozialismus, der „Kommunist"4 und der „Sbornik Sozialdemokrata"5 in Petrograd neu herausgegeben werden, etwa unter dem Titel: „Aus der Geschichte der letzten Jahre des Zarismus". Vor allem und in erster Linie aber müssen die Thesen aus Nr. 47 des „Sozialdemokrat" vom 13. X. 1915 neu gedruckt werden. Diese Thesen sind jetzt äußerst wichtig.6

Diese Thesen sagen klar, deutlich und präzis, was wir im Falle einer Revolution in Russland zu tun haben, und sie sagen es anderthalb Jahre vor der Revolution!

Diese Thesen sind durch die Revolution in ganz außerordentlicher Weise, buchstäblich, bestätigt worden.

Der Krieg hat nicht aufgehört, russischerseits ein imperialistischer Krieg zu sein, und kann es auch nicht, solange 1. die Macht in den Händen der Großgrundbesitzer und der Kapitalisten, der Vertreter der Klasse der Bourgeoisie ist; 2. solange solche direkten Agenten und Lakaien der Bourgeoisie an der Macht sind, wie Kerenski und andere Sozialpatrioten; 3. solange die Verträge des Zarismus mit den englisch-französischen Imperialisten in Kraft bleiben (die Regierung Gutschkow-Miljukow hat im Ausland – ich weiß nicht, ob auch in Russland – direkt erklärt, dass sie treu zu diesen Verträgen stehe). Diese Verträge sind Raubverträge über den Raub von Galizien, Armenien, Konstantinopel usw. usw.; 4. solange diese Verträge nicht veröffentlicht und nicht annulliert sind; 5. solange überhaupt das ganze Bündnis zwischen Russland und den englisch-französischen bürgerlichen imperialistischen Regierungen nicht gelöst ist; 6. solange die Staatsmacht in Russland nicht aus den Händen der imperialistischen Bourgeoisie (einfache Versprechungen und „pazifistische" Erklärungen verwandeln die Bourgeoisie nicht in eine Nicht-Bourgeoisie – mögen auch die Einfaltspinsel Kautsky, Tschcheïdse und Co. noch so fest davon überzeugt sein) in die Hände des Proletariats übergegangen ist, das, unter der Bedingung, dass es von dem ärmeren Teil der Bauernschaft unterstützt wird, allein fähig ist, mit den Interessen des Kapitals, mit der imperialistischen Politik, nicht nur in Worten zu brechen, sondern in der Tat, das allein fähig ist, mit dem Raub anderer Länder Schluss zu machen, die von den Großrussen unterdrückten Völker vollständig zu befreien, Armenien und Galizien sofort zu räumen usw.; 7. allein das Proletariat ist, wenn es sich vom Einfluss der eigenen nationalen Bourgeoisie befreit hat, fähig, den Proletariern aller kriegführenden Länder wirkliches Vertrauen einzuflößen und mit ihnen Friedensverhandlungen zu eröffnen; 8. diese proletarischen Friedensbedingungen sind in Nr. 47 des „Sozialdemokrat" und in meinem Brief Nr. 4 präzis und klar dargelegt.

Daraus geht klar hervor, dass die Losung: wir verteidigen jetzt die Republik in Russland, wir führen jetzt einen „Verteidigungskrieg", wir werden den Krieg führen gegen Wilhelm, wir kämpfen für den „Sturz Wilhelms – der größte Betrug an den Arbeitern ist!! Denn die Gutschkow-Lwow-Miljukow u. Co. sind Großgrundbesitzer und Kapitalisten, sind Vertreter der Klasse der Großgrundbesitzer und Kapitalisten, sie sind Imperialisten, die für dieselben räuberischen Ziele auf Grund derselben Raubverträge des Zarismus und im Bunde mit derselben imperialistischen räuberischen Bourgeoisie Englands, Frankreichs und Italiens den Krieg führen.

Wenn die bürgerliche und imperialistische Republik in Russland die Deutschen zum Sturz Wilhelms auffordert, so ist das eine Wiederholung der verlogenen Losung der französischen Sozialchauvinisten und Verräter am Sozialismus, der Jules Guesde, Sembat u. Co.

Man muss den Arbeitern und Soldaten in einer populären, äußerst klaren Weise, ohne gelehrte Worte, klarmachen, dass man nicht nur Wilhelm, sondern auch die Könige von England und Italien stürzen muss. Das als Erstes. Das Zweite und Wichtigste – man muss die bürgerlichen Regierungen stürzen und damit in Russland anfangen, denn anders kann der Frieden nicht erreicht werden. Es ist möglich, dass wir die Regierung Gutschkow-Miljukow nicht sofort werden „stürzen" können. Mag sein. Aber das ist kein Beweis dafür, dass man die Unwahrheit sagen muss!! Den Arbeitern muss man die Wahrheit sagen. Man muss ihnen sagen, dass die Regierung der Gutschkow-Miljukow und Co. eine imperialistische Regierung ist, dass die Arbeiter und Bauern zunächst einmal (jetzt oder nach den Wahlen zur Konstituante – falls man das Volk damit nicht betrügt, die Wahlen nicht bis nach Beendigung des Krieges hinausschiebt – die Frage des Zeitpunktes kann von hier aus nicht gelöst werden) die ganze Staatsmacht der Arbeiterklasse übergeben müssen, die ein Feind des Kapitals und ein Feind des imperialistischen Krieges ist, und dass sie erst dann das Recht haben, zum Sturz aller Könige und aller bürgerlichen Regierungen aufzurufen.

Ich bitte Sie dringend, alles dies nach Petersburg, der „Prawda", Muranow, Kamenew und den anderen, zu übermitteln. Wenden Sie bitte alles auf, um es durch einen ganz zuverlässigen Menschen zu schicken. Am besten wäre es, wenn ein zuverlässiger kluger Bursche, wie Kuba, führe, und unseren Petersburger Freunden hülfe (er würde der ganzen internationalen Arbeiterbewegung einen großen Dienst erweisen). Ich hoffe, dass Sie das tun werden!! Tun Sie alles, was in Ihren Kräften steht.

Die Bedingungen in Petersburg sind äußerst schwierig. Die republikanischen Patrioten setzen alles in Bewegung. Man bemüht sich, unsere Partei in den Dreck zu ziehen („Fall" Tschernomasow – ich schicke darüber ein Dokument) usw. usw.

Weder den Tschcheïdse u. Co. noch Suchanow noch Steklow und den anderen darf man vertrauen. Keine Annäherung an andere Parteien, an niemand! Keine Spur von Vertrauen und Unterstützung für die Regierung der Gutschkow-Miljukow u. Co.!! Unversöhnlichste Propaganda des Internationalismus und des Kampfes gegen den republikanischen Chauvinismus und Sozialchauvinismus überall, sowohl in der Presse als auch im Arbeiterdeputiertenrat, Organisierung, Ausbau unserer Partei – darauf kommt es an. Kamenew muss begreifen, dass auf ihm eine weltgeschichtliche Verantwortung ruht7.

Scheuen Sie keine Kosten für die Verbindung zwischen Petersburg und Stockholm!!

Ich bitte Sie sehr, werter Genosse, mir den Empfang dieses Briefes telegraphisch zu bestätigen und mich überhaupt in jeder Beziehung au courant8 zu halten. Ich hoffe, dass auch die schwedischen Freunde dabei helfen werden.

Mit festem Händedruck Ihr Lenin

1 Der Brief an Hanecki wurde aus Zürich nach Stockholm, wo Hanecki damals lebte, geschrieben. Der in dem Briefe erwähnte Kuba ist Hanecki selbst, der u. a. auch diesen Decknamen führte.

2 „Die Glocke" – die von Parvus herausgegebene sozialdemokratische Wochenschrift; vertrat einen extrem rechten, sozialchauvinistischen Standpunkt Parvus, ein ehemaliger radikaler Sozialist, trat nach Kriegsausbruch in den Dienst des deutschen Imperialismus. Die Zeitschrift erschien in Berlin und existierte von 1915 bis 1925.

3 „Sozialdemokrat" hieß das Zentralorgan der Bolschewiki, das in Genf (in russischer Sprache) erschien.

4 Die Zeitschrift „Kommunist" (russisch) wurde im Jahre 1915 von P. und n Kijewskij (G. Pjatakow und Eugenie Bosch) herausgegeben. Mitarbeiter waren Lenin, Sinowjew und Bucharin. Es erschien nur die Doppelnummer 1–2.

5 Sbornik Sozialdemokrata" („Sammelbuch des Sozialdemokraten") erschien 1916 in der Schweiz. Es erschienen nur zwei Hefte.

6 Siehe „Briefe aus der Ferne. Zweiter Brief", sowie den Aufsatz: „Was unsere Partei vor der Revolution über den Krieg erklärt hat", wo längere Zitate aus diesen Thesen angeführt werden.

7 L. B. Kamenew kehrte am 23. (10.) März 1917, als Lenin noch in der Schweiz war, zusammen mit den bolschewistischen Abgeordneten aus der Verbannung nach Petrograd zurück, wo er sich an die Spitze der Parteiarbeit stellte und die Redaktion der „Prawda" übernahm. Es zeigte sich jedoch bald, dass er mit dem Standpunkt Lenins in wesentlichen Fragen nicht einverstanden war. Als Lenin seine berühmten „Aprilthesen veröffentlichte, wandte sich Kamenew am folgenden Tage in der „Prawda in einem Artikel unter der Überschrift „Unsere Meinungsverschiedenheiten“ gegen Lenin. Diesen Artikel zeugt ebenso wie ein zweiter, der noch vor der Ankunft Lenins in der „Prawda" veröffentlicht wurde, von den damaligen Schwankungen Kamenews.

8 Auf dem Laufenden. Die Red.

Kommentare