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Karl Liebknecht 19100226 Zur Tätigkeit der politischen Polizei Preußens

Karl Liebknecht: Zur Tätigkeit der politischen Polizei Preußens

Reden im preußischen Abgeordnetenhaus zum Etat des Ministeriums des Innern

[Nach Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Preußischen Hauses der Abgeordneten, 21. Legislaturperiode, III. Session 1910, 2. Bd., Berlin 1910, Sp. 2333-2339, 2433-2448 und nach Karl Liebknecht, Gesammelte Reden und Schriften, Band 3, S. 114-149]

I

26. Februar 1910

Meine Herren, vor kurzem ging durch eine russische Zeitung die Nachricht, nach der im Durchschnitt der Jahre 1891 bis 1900 im Berliner Polizeipräsidium in der politischen Abteilung allein ungefähr 150.000 Nummern bearbeitet worden sind, nach der sich von einer ungeheuren Anzahl von Personen, die irgendwie im Vordergrunde des politischen Lebens stehen, im Berliner Polizeipräsidium Personalakten befinden und im Jahre 1891 nicht weniger als 51.000, 1900 74.000 Zeitungsnummern geprüft worden sind und überhaupt die ganze deutsche Presse politischen Charakters sorgfältig gesichtet und nach ihren verschiedenen politischen Charakteren geordnet wird. Meine Herren, in der Tat entfaltet das Berliner Polizeipräsidium eine ungeheuerliche politische Tätigkeit; wir dürfen es wohl als den Zentralpunkt der ganzen politischen Polizei Preußens betrachten. Dass aber die Berliner politische Polizei sich dabei mancherlei Arbeit macht, die selbst vom Standpunkt einer vernünftigen politischen Polizei nicht notwendig ist, beweist gar mancherlei, was ich mir erlauben möchte, Ihnen vorzuführen.

Zunächst bemerke ich in Anlehnung an die Ausführungen des Abgeordneten Kloppenborg, dass auch das Berliner Polizeipräsidium in dem Kampf gegen die Turnvereine, soweit sie als sozialdemokratisch betrachtet werden, genau ebenso verfährt, wie das in Schleswig-Holstein den der dänischen Gesinnung verdächtigen Turnvereinen gegenüber geschieht. Man geht uns gegenüber sogar noch weiter als den Dänen und, wie ich wohl bemerken darf, auch den Polen gegenüber. Man bedroht nicht nur diejenigen Lehrer, die ohne besondere Lehrerlaubnis Turnunterricht erteilen, mit schweren Exekutivstrafen, sondern man ist jetzt auch so weit gegangen, die Gastwirte, die den Vereinen Unterschlupf und Gelegenheit geben zu turnen, mit Exekutivstrafen von geradezu horrender Höhe zu bedrohen. Und, meine Herren, das geschieht noch gegenwärtig, nachdem das Berliner Polizeipräsidium und das Kultusministerium durch eine Entscheidung des Berliner Landgerichts I zur Ordnung gerufen worden sind, die diese Maßnahmen mit klippen und klaren Worten als ungesetzlich bezeichnet.

Meine Herren, man macht aber auch dabei nicht halt. Man geht jetzt dazu über, die Jugendchöre derjenigen Gesangvereine, von denen man annimmt, dass sie auf der Basis einer proletarischen Weltanschauung stehen, in ganz genau derselben Weise zu verfolgen und zu drangsalieren, wie man das bisher bei den Turnvereinen getan hat. Es sind das gröbliche Ungesetzlichkeiten, darf ich sagen, indem ich mich auf die Autorität des Landgerichts I Berlin stütze, Ungesetzlichkeiten, die der Regierung allerdings sicherlich keinen Nutzen, sondern im Schlussresultat nur Schaden bringen werden.

Es ist begreiflich, dass die Polizei sehr viel zu tun hat, wenn sie sich des weiteren damit abgibt, bei allen möglichen Gelegenheiten politische Verbrecher zu fotografieren. Es ist unerhört, dass die Polizei glaubt, rechtfertigen zu können, wenn sie Staatsbürger, gegen die nichts vorliegt, als was schließlich jedem Einzelnen mal passieren kann, die wegen irgendwelcher geringfügiger Delikte in Untersuchungshaft gezogen sind, wie Verbrecher fotografiert und in das Verbrecheralbum aufnimmt. Einen derartigen Fall, der einen Anarchisten betrifft, will ich hier erwähnen. Die Polizei nimmt gegenüber den Anarchisten in dieser Beziehung einen ganz besonders unerträglichen Standpunkt ein. Sie wissen ja wohl, dass die Sozialdemokratie mit den Anarchisten nichts zu tun hat, dass unsere Weltanschauung sich von der der Anarchisten unterscheidet wie Feuer und Wasser; aber wir müssen selbstverständlich darauf bestehen, dass die Freiheit der politischen Anschauung auch für die Anarchisten gewahrt wird und dass die Anarchisten nicht in gesetzwidriger Weise durch unsere Polizeibeamten behandelt werden. Hier habe ich eine Verfügung des Polizeipräsidenten von Berlin vom 16. Januar 1908 die Fälle haben sich vorher und nachher meines Wissens wiederholt –, die sich an einen Redakteur Kurt Neumann richtet. Der Mann war wohl beschuldigt, in seiner Zeitung irgendeine Beleidigung begangen zu haben. Er war verhaftet und zwangsweise, gegen seinen Protest, fotografiert worden. Auf seinen Protest ist nun folgende Antwort eingegangen:

Ihre Festnahme ist auf Grund einer am 13. Dezember hier eingegangenen schriftlichen Requisition der Gerichtsbehörden erfolgt. Ihre zwangsweise Fotografierung rechtfertigt sich daraus, dass Sie Ihrer eigenen Angabe nach Anarchist sind und als solcher einer Partei angehören, die den Umsturz der bestehenden staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung bezweckt, deren Tun und Treiben deshalb von der Polizei pflichtgemäß überwacht werden muss."

(„Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

Diese Begründung ist ein Skandal. Danach kann jeder Sozialdemokrat nach Ihrer polizeilichen Auffassung dieser unwürdigen und beleidigenden Art der zwangsweisen Verbrecherfotografierung unterworfen werden. Es ist ja nichts als ein politischer Grund, den die Polizei für diese beleidigende, herabwürdigende Art der Behandlung anführt. Ich hoffe, dass das Polizeipräsidium das Einsehen haben wird, dass es gegen das Gesetz verstößt, in dieser Weise Mitbürger, bei denen nicht besondere Gründe vorliegen, zu behandeln. Die Begründung, die hier gegeben worden ist, kann unter Umständen auch gegen die Polen, gegen die Dänen und auch gegen die Herren vom Zentrum geltend gemacht werden, wenn die Zeit wieder einmal kommen sollte, so dass auch sie gelegentlich einmal in das Verbrecheralbum hineingeraten könnten.

(Heiterkeit.)

Ich denke, gegen ein derartiges Verfahren müssten sich die verschiedensten Parteien dieses Hauses, nicht nur die Sozialdemokraten, mit allem Nachdruck wenden im Interesse der Kulturehre Preußens und Deutschlands.

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Ich habe weiterhin an den Herrn Polizeipräsidenten die Frage zu richten, ob ihm bekannt ist, dass die berüchtigte russische Polizeiagentin Sinaida Jutschenko alias Gerngroß, über die in der Presse vor einiger Zeit berichtet worden ist, dass sie den preußischen Staub von ihren Pantoffeln geschüttelt habe, sich jetzt wiederum mit Genehmigung der Polizei in Charlottenburg aufhält. Mir ist die Adresse dieser Dame bekannt, und ich bin gern bereit, sie dem Herrn Polizeiminister zur Verfügung zu stellen.

(Glocke des Präsidenten.)

Vizepräsident Dr. Porsch: Herr Abgeordneter, der Amtstitel des Herrn Ministers ist Minister des Innern. Ich möchte Sie bitten, sich an den zu halten.

(Zuruf des Abgeordneten Dr. Liebknecht.)

Sie haben sich an den Herrn Minister gewandt. Der Herr Polizeipräsident ist hier nicht vertreten.

Liebknecht: Ich habe das nur um deswillen getan, weil der Herr Minister sich gerade umsah, als ich meine letzten Worte sagte, und ich glaubte, eine Antwort auf eine stumme Frage geben zu müssen.

Es ist ja bekannt, dass diese Sinaida Jutschenko eines der jämmerlichsten, moralisch korrumpiertesten Individuen ist, die es wohl jemals in der politischen Geschichte gegeben hat. Sie hat dem Zarismus alle möglichen Opfer an den Galgen geliefert, sie hat in der unerhörtesten Weise Provokation getrieben, sie hat es fertiggebracht, sich im Auslande und in Russland verehren zu lassen von der russischen Jugend, von den freiheitlichen russischen Parteien als eine Märtyrerin, als eine Vorkämpferin für die russische Freiheit; und sie hat im gleichen Atem als ein weiblicher Judas, viel schlimmer als der Judas der biblischen Geschichte, diejenigen, denen sie den Bruderkuss gab, verraten, dem russischen Henker in die Hand geliefert. Diese Person, mit der in der Tat kein Kulturmensch irgendeine Gemeinschaft wird haben mögen, wird in Charlottenburg geduldet, wenigstens mit Wissen der Charlottenburger Polizei, über die in diesem Falle das Berliner Polizeipräsidium ja die höhere Instanz ist, und es ist kein Zweifel, dass sie ihre Anwesenheit hier ausnutzen wird, um ihre verderbliche, verbrecherische, gemeine und niederträchtige Tätigkeit fortzusetzen.

(Heiterkeit rechts.)

Lachen Sie nur und identifizieren Sie sich damit mit derartigen Personen; wir können es Ihnen nur gönnen, wenn Sie sich auch sonst in dieser Weise weiter bloßstellen, obgleich Sie sich auch in der Öffentlichkeit wahrlich bereits genug bloßgestellt haben.

Ich habe des weiteren die Frage an den Herrn Polizeipräsidenten zu richten, ob der Herr Polizeipräsident darüber unterrichtet ist, dass nach unwidersprochenen Zeitungsmeldungen die russische politische Polizei unter der Leitung des berühmten Harting-Landesen jetzt wieder in Brüssel und Namur eine Zentrale für auswärtige russische Spitzelei eingerichtet hat und dass in Berlin eine Unterzentrale eingerichtet worden ist zu denselben Zwecken für Deutschland, Österreich und sämtliche skandinavischen Länder. Ich begreife ja nach den früheren Erfahrungen, die die russischen Spitzel in Deutschland gemacht haben, durchaus, dass sie Preußen und Berlin sozusagen als ein Eldorado für russische Spitzelei betrachten. Wenn sich die russischen Spitzel in Belgien aufhalten, dann halten sie sich dort ohne Kenntnis der Regierung auf, und sie müssen ihre Tätigkeit vor den Augen der Öffentlichkeit sorgfältig verbergen, sonst würden sie sich nicht halten können. In Preußen dagegen, speziell in Berlin, dürfen sie ihre Tätigkeit ungehindert entfalten, nicht nur ungehindert und mit Kenntnis der Behörden, sondern mit Unterstützung der Behörden, und – ich gehe noch weiter – unsere Berliner Polizei arbeitet auf dem Gebiete der Bespitzelung der im Auslande lebenden Russen geradezu in Kompanie mit den erbärmlichsten russischen Spitzeln.

(„Hört! Hört!")

Bei einer späteren Gelegenheit werde ich noch die Einzelheiten dieser Vorgänge zu erörtern haben und dieses in der Tat die preußischen Zustände in ihrer ganzen Kulturwidrigkeit enthüllende Blatt der Polizeigeschichte Berlins und Preußens noch einmal vor Ihren Augen aufschlagen.

Meine Herren, ich will auf ein anderes Gebiet übergehen, das damit aber in einem sehr engen Zusammenhange steht. Die Berliner Polizei hat etwa im Jahre 1907 eine Razzia gegen die Berliner russische Lesehalle begonnen. Die russische Lesehalle wurde schließlich aufgelöst und ein großer Teil derjenigen Russen, die an dieser Lesehalle teilgenommen hatten, ausgewiesen. Meine Herren, nachdem es der Berliner Polizei gelungen war, diese so nützliche Institution, die den im Auslande lebenden Russen gleichzeitig einen geselligen Zentralpunkt gab und wo Russen aller politischen Anschauungen zu verkehren pflegten, zu zertrümmern, hat nun die Polizei gesehen, dass sie sich damit in gewisser Beziehung in das eigne Fleisch geschnitten hatte – immerhin gab ihr das Bestehen der Lesehalle die Möglichkeit, die hier anwesenden und der revolutionären Tätigkeit verdächtigen Russen in einer ziemlich bequemen Weise beobachten zu können; dies war den Russen auch bekannt, aber sie hatten keine Veranlassung, das Licht der Öffentlichkeit zu scheuen. Nun ist man ganz inoffiziell an die Russen herangetreten, sie möchten wieder eine Lesehalle gründen, die Polizei würde nichts dagegen haben. Da man naturgemäß in diesen Kreisen nicht gewillt ist, derartige Institutionen auf Wunsch der Polizei einzurichten, so lehnte man das freundliche, ganz inoffizielle Ansinnen der Berliner Polizei ab. Aber, meine Herren, nun ist etwas anderes geschehen. Inzwischen ist in Berlin eine Lesehalle gegründet worden. Ich bin verpflichtet, hier in der Öffentlichkeit den allerdringendsten Verdacht auszusprechen, der allenthalben hier in Berlin in russischen Kreisen geteilt wird, dass diese Lesehalle eine Gründung russischer Spitzel im Einverständnis mit dem Berliner Polizeipräsidium ist. Es sind Untersuchungen über die Herkunft der Materialien, die Herkunft des Geldes und die Herkunft der Bücher angestellt worden, und allenthalben haben sich die betreffenden Personen in grobe Widersprüche verwickelt und sich faustdicke Unwahrheiten, die sofort aufgedeckt werden konnten, zuschulden kommen lassen. Man muss danach den dringenden Verdacht hegen, dass man es hier mit unsauberen Persönlichkeiten, mit Angehörigen der echtrussischen Spitzelgesellschaft1 zu tun hat, die sich in trauter Eintracht mit der Berliner Polizei in Berlin aufhält. Des weiteren ist festgestellt, dass in dieser Lesehalle eine Persönlichkeit sitzt, die schon seit langem als Spitzel entlarvt ist. Die Einzelheiten darüber werden in der Öffentlichkeit noch näher dargelegt werden. Es wird eine genaue Untersuchung darüber stattfinden. Ich möchte aber schon von dieser Stelle aus an alle Russen in Berlin die Mahnung richten, sich dieser Lesehalle gegenüber mit der äußersten Vorsicht zu verhalten, um in diese Polizeifalle, die hier gestellt ist, nicht hineinzugeraten.

Meine Herren, ich möchte mir des weiteren noch erlauben, auf einen Vorgang aufmerksam zu machen, der sich vor einiger Zeit hier in Berlin abgespielt hat und den ich bereits bei Gelegenheit der Kattowitzer Affäre erwähnt habe. Hier ist der Ort, diese Angelegenheit etwas ausführlicher zu erörtern. Es befand sich im Februar 1909 hier in Berlin ein russischer Schriftsteller namens Ananjin, um einige Vorträge ganz unpolitischen Inhalts über Leonid Andrejew und Gorki, kurzum durchaus literarischen Charakters zu halten. Nun erließ dieser Herr an verschiedene russische Studentengruppen in Deutschland ein Zirkular, ob sie von ihm Vorträge haben möchten. Als dieser Herr gerade die Antworten erhalten hatte und hübsch aufbewahrte, kam die Berliner Polizei, verhaftete ihn und nahm ihm alle Schriftstücke ab. Nun wurde durch ganz Deutschland hindurch telegrafiert, und es wurde eine Razzia auf russische Geheimbünde veranstaltet. Man wollte nämlich konstruieren, dass allerhand geheime politische russische Organisationen in den verschiedenen Städten Deutschlands existierten. Der Prozess, der auf diese Intervention des Berliner Polizeipräsidiums inszeniert wurde, hat unter dem Namen Grienblatt und Genossen im Juni des vergangenen Jahres in Dresden stattgefunden und hat – das will ich hier gleich hervorheben – mit der Freisprechung einer Anzahl der Angeklagten geendet. Die übrigen Angeklagten sind zu geringen Strafen verurteilt worden. Das Urteil ist rechtskräftig geworden. Das Dresdner Landgericht hat in einem gewissen beschränkten Umfange einen Geheimbund angenommen, aber zu milden Strafen verurteilt, weil es anerkannt hat, dass irgendwelche schädlichen oder bedenklichen Zwecke durch den Geheimbund nicht verfolgt werden sollten, sondern dass der einzige Grund für die Geheimhaltung die Angst vor den russischen Spitzeln in Preußen gewesen sei. Das Gericht stellt da nun fest, dass die Geheimhaltung vor russischen Spitzeln in Preußen und in Deutschland identisch sei mit der Geheimhaltung vor der deutschen und preußischen Polizei. Damit hat das Gericht in diesem Fall ebenso wie das Landgericht I Berlin in dem im Dezember 1907 verhandelten Fall Trafimow erklärt, dass die Solidarität zwischen den in Deutschland lebenden russischen Spitzeln und der preußischen Polizei eine Selbstverständlichkeit sei. Meine Herren, dieses gerichtliche Attest missgönnen wir der preußischen Polizei und dem Berliner Polizeipräsidium wahrhaftig um alles in der Welt nicht.

Nun aber weiter, meine Herren! Bei diesem Prozess wurde vom Berliner Polizeipräsidium auch eine sehr dringende Mahnung nach Österreich geschickt an verschiedene österreichische Polizeiverwaltungen, bei denen man mit einer Verfolgung von irgendwelchen sogenannten revolutionären Russen auch glaubte, Erfolg haben zu können. Meine Herren, die österreichische Polizei hat in dem vorliegenden Falle das Berliner Polizeipräsidium verdientermaßen ebenso abblitzen lassen, wie bei dem bekannten Königsberger Prozess das Berliner Polizeipräsidium abgeblitzt worden ist von den schweizerischen Behörden.

Dem Verfahren lag im Wesentlichen folgendes Schriftstück zugrunde. In einem Brief, den der Angeklagte Peskin an den Schriftsteller Ananjin geschrieben haben sollte, hieß es nach der Übersetzung, die das Berliner Polizeipräsidium beglaubigt nach Dresden an das Gericht geschickt hatte, folgendermaßen:

Da die Vorträge hier geheim (konspirativ) veranstaltet werden, so bitten wir, uns mitzuteilen, unter welchem Namen Sie hier auftreten wollen und, falls angefragt wird, von wo Sie kommen, welchen Ort Sie angeben wollen."

Meine Herren, diese von der VII. Abteilung des Berliner Polizeipräsidiums beglaubigte Abschrift gab besonders Veranlassung zu dem raschen Einschreiten und zur Verhaftung einer großen Anzahl der später unter Anklage genommenen Personen. Am zweiten Tage der Verhandlung in Dresden verlangt Peskin, der die ganze Zeit über bestritten hatte, einen solchen Brief geschrieben zu haben, dass ihm nun einmal das Original dieses Briefes vorgelegt werde. Das Original wird ihm vorgelegt, und es stellt sich heraus und wird durch die an Gerichtsstelle zugezogenen Dolmetscher bestätigt, dass der Brief tatsächlich so gelautet hat:

Da die Vorträge hier legal öffentlich mit Anmeldung bei der Polizei veranstaltet werden, so bitten wir Sie, mitzuteilen, unter welchem Namen Sie auftreten"

usw.

Es hat also hier irgendein Mensch, den ich nicht Anstand nehme, als einen Halunken zu bezeichnen, um diese Russen hineinzulegen, diesen Brief genau in sein Gegenteil gefälscht, und zwar mit dem Erfolge, dass er in der Tat die Anklage in den wesentlichsten Beziehungen dadurch herbeigeführt und die Angeklagten in die schwersten Misshelligkeiten gebracht hat. Das Gericht, das kann ich Ihnen sagen, war so konsterniert über diese bewiesene Fälschung des Berliner Polizeipräsidiums, dass der Vorsitzende des Gerichts seit diesem Augenblick einen ganz anderen Ton den Angeklagten gegenüber anschlug und nicht umhin konnte, bei der Begründung des Urteils hervorzuheben, dass allerdings mildernd in Betracht gezogen werden müsse, wie auch durch diese falsche Übersetzung erwiesen sei, dass die im Auslande und in Deutschland lebenden Russen allerdings in einer Weise behandelt würden, die ihnen die allergrößte Vorsicht zur Pflicht machte.

Meine Herren, ich möchte gern wissen, ob der Berliner Polizeipräsident oder vielleicht der Herr Minister des Innern als der Vorgesetzte des Herrn Polizeipräsidenten über diese infame Fälschergeschichte, die sich würdig den Fälschungen aus dem Königsberger Hochverratsprozess und dem Falle Schöne-Brockhusen anreiht, orientiert und in der Lage ist, befriedigende Erklärungen dahin abzugeben, dass Remedur stattgefunden hat und dass der erbärmliche Schuft, der diese Fälschung verübt hat, zum Teufel gejagt worden ist, wie es die Pflicht und Schuldigkeit einer vorgesetzten Behörde sein würde. Meine Herren, allerdings, die Möglichkeit, dass er statt dessen befördert wurde, kann ja – bei den preußischen Verhältnissen – nicht von der Hand gewiesen werden.

Meine Herren, ich glaube, wir haben ein Recht darauf zu verlangen, dass das Berliner Polizeipräsidium, nachdem es gegenüber den anständigen, Ihnen eben politisch missliebigen Russen hier eine so unerhörte Praxis zur Anwendung gebracht hat, wie wir sie aus den ganzen Ausweisungsaffären, die ja nun bereits viele Jahre spielen, zur Genüge kennen – dass das Berliner Polizeipräsidium nun andererseits nicht jenen höchst unsauberen Individuen, die aus Russland kommen, Unterschlupf gewährt und bequeme Gelegenheit, ihre verwerfliche Tätigkeit zu entfalten.

Meine Herren, wir sind Gegner jeglicher Ausländerausweisung, aber das dürfen wir ohne weiteres erklären: Wenn man einmal überhaupt Ausländerausweisungen für zulässig hält und wenn man von diesen Ausweisungen gegenüber anständigen Persönlichkeiten, die politisch missliebig sind, im Interesse und als Schleppträger der russischen Regierung so ausgiebig Gebrauch macht zur Schande Deutschlands und nur zur Ehre der russischen Knute, wie das in Berlin üblich ist, dann haben wir mindestens das gute Recht zu verlangen, dass das Berliner Polizeipräsidium die Schufte, die aus Russland nach Deutschland kommen, um hier ihr Judashandwerk zu treiben, nicht duldet. Dann haben wir ein Recht zu verlangen, dass das Berliner Polizeipräsidium hier reinen Tisch macht, dass es diese ganze Bande zum Tempel Preußen hinauswirft.

II

28. Februar 1910

Meine Herren, am vergangenen Donnerstag hat der Herr Unterstaatssekretär auf einige Bemerkungen des Herrn Abgeordneten Switala über den Fall Rakowski bemerkt:

Was den Herrn Rakowski betrifft, so ist es ganz richtig, dass ihn die Polizei in Posen einige Zeit in politischer Beziehung verwendet hat. Sie hat indessen davon Abstand genommen, weil der Mann als unzuverlässig erkannt worden ist. Auf das entschiedenste muss ich bestreiten, dass Rakowski zu Fälschungen und zu Provokationen gemissbraucht ist."

Im Übrigen hat sich der Herr Unterstaatssekretär auf Äußerungen einiger polnischer Blätter bezogen, die sich Herrn Rakowski gegenüber auch kritisch stellen.

Meine Herren, ich habe hier die Nummern der Zeitung, in der der Rakowski seine Bekenntnisse niedergelegt hat, und ich halte hier in der Hand eine wörtliche Übersetzung dieser Bekenntnisse in das Deutsche, die ich jedem, der den Wunsch hat, zur Einsicht zur Verfügung stelle. Meine Herren, ich habe lebhafte Bedenken, mich mit demjenigen zu begnügen, was der Herr Unterstaatssekretär über Rakowski gesagt hat. Ich werde mir erlauben, Ihnen etwas ausführlicher, aber nicht allzu ausführlich, aus den Bekenntnissen von Rakowski vorzutragen. Ich bemerke, dass Rakowski mir persönlich für alles Wesentliche, was er in diesen Bekenntnissen niedergelegt hat, eidesstattliche Versicherungen gegeben hat. Ich bemerke weiter, dass Rakowski mir auch Beweismittel für alles Wesentliche angegeben hat, nicht nur sein eigenes Zeugnis, sondern auch das einer Anzahl anderer Personen. Des weiteren liegt unzweifelhaft bei verschiedenen Punkten die Möglichkeit eines dokumentarischen Nachweises vor.

Der Herr Unterstaatssekretär hat sein Bestreiten ausschließlich auf Fälschungen und Provokationen beschränkt. Die Enthüllungen des Rakowski gehen aber erheblich weiter und beanspruchen ein Interesse auch dort, wo er nicht von Fälschungen und Provokationen spricht.

Was zunächst die Organisation der politischen Polizei in Posen betrifft, so behauptet er, dass nach einem Dekret des Ministers für innere Angelegenheiten von Hammerstein vom 10. Mai 1904 das Polizeibüro von Zacher in Posen kein einfaches Polizeibüro unter der Aufsicht der Regierung, sondern ein Zentralpolizeibüro für polnische Angelegenheiten ist, das direkt dem Ministerium untersteht. Das Ministerium hat Zacher erlaubt, ständige Polizeiagenten nicht nur in Deutschland zu halten, sondern in allen polnischen Ländern wie Galizien, Russisch-Polen und auch dort, wo ausgewanderte Polen sich in größerer Zahl befinden: in der Schweiz, in Paris, in den Vereinigten Staaten Nordamerikas usw. Alle Polizeiämter in Preußen müssen alles, was polnische Angelegenheiten betrifft, direkt Herrn Zacher mitteilen; er ist in dieser Beziehung die Zentralinstanz für ganz Preußen. Rakowski schildert, in welcher Weise dieses Zentralbüro, dessen Chef der Herr Zacher ist, im einzelnen gegliedert ist. Da gibt es ein Büro in Posen für polnische Angelegenheiten und Spionageangelegenheiten in Russland; diesem Büro steht vor der Kriminalkommissar Paul Frost, der inoffiziell Kopejka, das heißt Kopeke, genannt wird, wahrscheinlich, weil man annimmt, dass der Herr nicht ganz widerstandsfähig gegen Versuche ist, auf ihn einzuwirken.

(„Oho!" rechts.)

Ich werde mir erlauben, darüber Material beizubringen, meine Herren.

(Zuruf.)

Ich werde Details darüber beibringen.

(Zuruf.)

Sie werden hören.

(Heiterkeit.)

Offiziell nennt er sich Rentier. Er hat Kaiserin-Viktoria-Straße 33 gewohnt und hatte die Telefonnummer 594. Früher ist er Grenzgendarm gewesen. Er wird den unteren Polizeibeamten gegenüber nach Möglichkeit unbekannt gehalten, damit er seine geheime Tätigkeit möglichst wirksam ausüben kann. Eine ganze Anzahl von herumreisenden Spitzeln steht ihm zur Verfügung. Außerdem gibt es in Oberschlesien in einem Ort, dessen Namen ich hier nicht genau entziffern kann –

(Zuruf bei den Polen.)

also in Beuthen – ein Büro speziell für oberschlesische Angelegenheiten und provokatorische Agitation unter der Leitung des Polizeirats Mädler, der ja bekannt genug ist. Auch in Berlin gibt es eine ganze Anzahl von Spitzeln, die von dem Frostschen Polizeibüro, von Herrn Zacher unterhalten und geleitet werden.

Diese Organisation, die unter anderem auch die Aufgabe hat, ein Album mit Fotografien herauszugeben, in dem sich im Jahre 1907 264 Fotografien von allerhand Personen befanden, die angeblich in der polnischen Bewegung hervorragend tätig sind, gibt unter anderem auch ein Amtswochenblatt für polnische Angelegenheiten heraus unter dem Titel: „Gesamtüberblick der polnischen Tagesliteratur". Dieses Wochenblatt wird in ungefähr 600 Exemplaren verbreitet, allerdings der Öffentlichkeit nicht zugänglich gemacht. Der Inhalt dieser Zeitung wird auch als Waschzettel an allerhand polenfeindliche Blätter geleitet und dort ziemlich viel benutzt.

Meine Herren, ich will Einzelheiten weglassen und will mich auch im Einzelnen nicht auslassen über die Art, in der die Spionage gegen die zu Preußen gehörenden Polen in Galizien betrieben wird. Ich will nur erwähnen, wie unter anderem auch das Gewand eines Pfarrers missbraucht sein soll, um auf diese Weise die Bespitzelung von in Galizien wohnenden Polen zu ermöglichen.

Rakowski beschuldigt sich selbst, dass er der Polizei wichtiges und reichliches Material in Sachen der Nationalliga2 geliefert habe, dass er dem in Lemberg wohnenden Redakteur der „Allpolnischen Rundschau" – ich weiß nicht genau, wie der Name ist, ich glaube, er heißt Poptawski – wichtiges und reichliches Material fortgenommen und für diesen Diebstahl des Materials 800 Mark erhalten hat. Er behauptet auch, in einer Buchhandlung von Wojnar gearbeitet und dort eine große Anzahl von Broschüren und allerhand geheimen Schriften gestohlen und für 300 Mark an das Büro abgegeben zu haben. Er macht des weiteren eingehende Mitteilungen darüber, wie in Posen falsche Berichte über allerhand politische Angelegenheiten gemacht worden sind. Er macht nicht irgendwelchen anderen Beamten den Vorwurf, dass sie das allein getan hätten, sondern er behauptet ohne weiteres offen heraus, selbst bei diesen Fälschungen mit tätig gewesen zu sein.

Dieser Rakowski ist – und das ist es, was mir Veranlassung gibt, ihm ein beträchtlich höheres Maß von Glaubwürdigkeit beizumessen, als es an und für sich wohl angemessen sein mag – an mich mit dem Ersuchen herangetreten, ich sollte gegen ihn, als er noch hier in Berlin war, eine Anzeige erstatten. Er wollte auch eine Selbstanzeige gegen sich machen. Ich habe ihn davon abgehalten, weil ich mich zunächst erst vergewissern wollte, mit welcher Sorte von Menschen ich es zu tun hätte.

Die falschen Berichte sind nach der detaillierten Darstellung des Rakowski in einem in der Bukowskistraße, Ecke der Kaiser-Wilhelm-Straße zu Posen gelegenen leerstehenden Restaurationslokal geschrieben worden. Er sagt:

Dort schrieb ich zusammen mit … (einer andern Person, die ich nicht nennen will) fast alle Berichte, die die polnische Bewegung betrafen."

Meine Herren, es sind wiederholt Berichte aus Lemberg, aus Krakau von allerhand Kongressen angeblich von Vertretern gegeben worden, die Frost dorthin gesandt haben wollte, während tatsächlich – nach der Behauptung des Rakowski – diese Berichte in Posen fabriziert worden sind. Die Reisespesen für diese Geschäftsreisen haben allerdings die Herren Frost und seine Kumpane in die Tasche gesteckt. In einem Falle ist von Frost für die angebliche Reise ein Betrag von 450 Mark in die Tasche gesteckt worden. Den Bericht über den allpolnischen Kongress in Lemberg hat ein Agent des Frost in Posen geschrieben. Es ist auch auf diesem Kongress kein Vertreter der Posener Polizei anwesend gewesen. Die Originale dieser Berichte wurden nach Berlin in das literarische Büro des Ministeriums des Innern gesandt und sind dann von der Regierung im Kampf gegen die Polen verwendet worden.

Auf die Einzelheiten, die sich auf das Bemühen der Regierung, speziell der Posener Polizei, beziehen, Zwietracht zwischen Ruthenen und Polen zu säen und die Ruthenen gegen die Polen zur Bewachung und Bespitzelung der polnischen Bewegung auszunutzen, will ich hier nicht weiter eingehen. Es ist auch in Berlin nach Behauptung des Rakowski unter Führung der Polizei ein ruthenisches Komitee zu diesem speziellen Zweck gegründet worden.

Was die Nationalliga anbetrifft, so behauptet Rakowski, man müsste Bücher schreiben, wollte man alle falschen Berichte nennen, die über den Nationalfonds und die Nationalliga geschrieben sind, und er erwähnt dann einige besonders wichtige Tatsachen. Ich will davon einiges referieren. Er hebt hervor: Frost lernte durch seine, Rakowskis, Vermittlung eine Person kennen, die sich verpflichtete, falsche Aufrufe der Liga zu schreiben. Diese Proklamationen wurden von der betreffenden Person – es war eine weibliche Person, der Name steht dem Herrn Minister zur Verfügung – auf Pergament geschrieben und mit einem gefälschten Stempel versehen. Insbesondere handelte es sich dabei um zwei Aufrufe, einen von den Sokoli3, einen andern an die Posener Delegierten der Liga. Diese lithographierten Aufrufe verbreitete Frost in der polnischen Presse. Einen schickte er an Zacher, welcher ihn sofort nach Berlin sandte. „Dziennik Poznanski" druckte den Aufruf sofort ab und kritisierte ihn streng. Der Minister Hammerstein hat den einen Aufruf im Landtag vorgelesen. Es handelt sich um die Sitzung des Abgeordnetenhauses vom 10. Mai 1904. Da wurde von dem Herrn Minister von Hammerstein ein Aufruf vorgelesen, der allerdings so blutrünstig war wie nur irgend möglich. Dieser Aufruf wurde sofort von den hier anwesenden Polen als gefälscht bezeichnet. Sie fragten: Wo ist das erschienen? Unter lebhaften Zwischenrufen nur konnte der Herr Minister seine Ausführungen beenden. Rakowski hat jetzt das Bekenntnis abgelegt, dass dieser Aufruf mit seiner Kenntnis, zum Teil unter seiner Beihilfe von einer von ihm namhaft gemachten weiblichen Person fabriziert worden ist.

Rakowski behauptet, bald nachdem diese gefälschten Aufrufe von Frost in dieser Weise fabriziert waren, hätte Frost in seiner Gegenwart die Originale zerrissen mit dem Bemerken: es ist besser, dass solche Dokumente nicht existieren. Für die Redaktion dieser gefälschten Berichte sind in diesem Falle an die Frauensperson 60 Mark gezahlt worden.

Bald danach ist dann Frost nach Behauptung des Rakowski mit einem ziemlich hohen preußischen Orden versehen worden. Ebenso ist bald danach Zacher – behauptet Rakowski, ich kann es nicht nachprüfen – zum Polizeidirektor ernannt worden. Bekannt ist, dass ja Zacher auch den russischen St. Annen-Orden bekommen hat, ebenso wie der frühere Polizeipräsident von Posen, Herr von Hellmann, den russischen Stanislaus-Orden bei Gelegenheit eines Besuches des Gouverneurs Daragan in Kalisch bekommen hat. Meine Herren, diese Dekorierungen erinnern lebhaft an den bekannten Roten Adlerorden, den der berüchtigte russische Oberspitzel Harting sich ja auch nach den Behauptungen der Presse, die bisher unwidersprochen geblieben sind, in Preußen verdient haben soll. Meine Herren, ob durch derartige Dekorierungen der Wert von Orden und Ehrenzeichen, der ja in der Auffassung weitester Kreise des Volkes an und für sich schon ein recht geringer ist, gesteigert wird, das möchte ich dem Urteil aller einsichtigen Menschen überlassen.

Meine Herren, Rakowski beschuldigt sich weiter selbst, über die revolutionäre Bewegung in Galizien angeblich authentische Berichte geschrieben zu haben, die dann in die Zeitungen hinein lanciert worden sind, Berichte, die durchaus nicht auf eigenen Informationen beruhen, sondern zum Teil von Frost einfach nach Zeitungsmeldungen, die er irgendwoher bekommen hatte, inspiriert waren.

Ich will mich sofort zu einem anderen besonders wichtigen Punkte wenden. Rakowski behauptet, dass in seiner Gegenwart eine Anzahl gefälschter Aufrufe des Straz, die Enteignungsfrage betreffend, verfasst und gedruckt worden sei; er behauptet des weiteren, dass einige Artikel einer Zeitung – „Das polnische Wort", auf polnisch „Slowo polskie" –, als sie nicht so ganz den Wünschen des Herrn Frost entsprachen, das heißt nicht scharf genug waren, auf Veranlassung des Frost bei der Übersetzung künstlich umgestaltet und verfälscht worden sind, damit sie den Zwecken der politischen Polizei brauchbar wurden. Rakowski gibt an, drei von den gefälschten Exemplaren gestohlen zu haben. Er bekennt sich auch hierbei ganz offen des Diebstahls schuldig. Besonders interessant ist die Behauptung, dass Frost, um darzutun, dass die politische Spionage in Russland in größerem Umfange betrieben werden müsse, zu einer groben Fälschung gegriffen habe. Er suchte, der Regierung darzulegen, dass ja auch die russische Regierung über die internen preußischen Verhältnisse ganz ausgezeichnet und viel besser orientiert sei als die deutsche Regierung über die russischen. Die Broschüre eines Majors Wajczakow, die allerdings ganz geheim gehalten werde, lasse die genaue Kenntnis der russischen Regierung über die preußischen Verhältnisse ersehen. Als nun das Ministerium verlangte, dass diese Broschüre, über die Frost berichtet hatte, vorgelegt werde, hat Frost nach Behauptung des Rakowski die Broschüre nun erst auf Grund der gefälschten Mitteilungen, die vorher dem Ministerium gemacht worden waren, in verschiedenen Druckereien in Posen herstellen lassen. Das so gefertigte Exemplar soll dann dem Ministerium übermittelt worden sein. Bei der Herstellung in verschiedenen Druckereien sollen verschiedene Lettern benutzt worden sein, und das habe den Frost dermaßen erregt, dass er die Frauensperson, die speziell damit beschäftigt gewesen sei, geohrfeigt habe; er habe sich aber beruhigen lassen, als ihm gesagt worden sei, man könne ja behaupten, die Broschüre sei von polnischen Revolutionären unter allerhand erschwerenden Umständen nachgedruckt worden, wobei von verschiedenen Druckereien verschiedene Lettern hätten benutzt werden müssen. So habe man dem Ministerium glaubhaft zu machen gesucht, dass die Form, in der das Druckwerk vorgelegt wurde, keinen Anlass zum Verdacht gebe.

Meine Herren, es wird des weiteren zugegeben, dass ein Plan über das angebliche Manöver des Sokol in Galizien von Rakowski in Gemeinschaft mit einem andern Herrn, den ich hier nicht nennen will, dessen Name aber dem Herrn Minister zur Verfügung steht – ich habe ihn hier –, gefälscht worden sei. Es habe sich dort um nichts anderes als um harmlose Turnspiele gehandelt, die in diesen Berichten künstlich zu einer Art kriegerischen Manövers umgestaltet und umgefälscht worden seien. Meine Herren, Sie wissen ja, welche ungeheure Rolle diese angeblich kriegerischen Manöver der Polen allenthalben in der antipolnischen Agitation gespielt haben und gegenwärtig noch spielen. Meine Herren, der Rakowski behauptet des weiteren, dass gefälschte Berichte über die revolutionäre Bewegung im Königreich Polen jeden Tag in Frosts Büro, Moltkestraße 11, für das Ministerium in Berlin geschrieben worden seien.

Diese Berichte wurden in folgender Weise verfasst: Zacher, Polizeirat, jetzt Polizeidirektor oder noch mehr, lieferte jeden Tag die „Schlesische Zeitung", in der er mit Rotstift anstrich, worauf er besonderen Wert legte; dann erzählte Frost allerhand Geschichten hinzu, und aus dem ganzen Zeug zusammen haben dann Rakowski und sein Spießgeselle einen Bericht fabrizieren müssen, der angeblich authentisch sein sollte und der dem Ministerium vorgelegt wurde. Rakowski gibt hier eine Äußerung des Frost wieder: „Wenn man schon die kleinen Räder so drehen und schmieren muss, wie müssen dann erst die großen Mühlen mahlen?!" Das soll die ungeheuerlichen Fälschungen und Entstellungen charakterisieren, die schon in der ersten Quelle, bei Entstehung dieser Berichte, die schließlich hier im Landtage und anderwärts gegen die polnische Bevölkerung ausgenutzt werden, allenthalben stattfinden.

Meine Herren, auf Grund jener Berichte über die revolutionäre Bewegung im Königreich Polen wurde damals tatsächlich eine Verstärkung des Kordons an der preußischen Grenze vorgenommen.

Meine Herren, Rakowski berichtet auch, wie von der politischen Polizei die Kontrollstationen ausgenutzt würden, um Personen, die in Russland wegen irgendeines politischen Vergehens verfolgt werden, einzufangen, an der Flucht nach Amerika zu hindern und sie an die russische Polizei auszuliefern. Er behauptet, es sei auf diese Weise der Polizei in Posen gelungen, viele polnische und russische Revolutionäre einzufangen und dem russischen Henker auszuliefern. Meine Herren, das kann sehr wohl der Fall sein, ohne dass die Öffentlichkeit allzu viel davon erfährt; denn bekanntlich ist die Möglichkeit, jemanden an der Grenze zurückzuweisen, auch wenn er sie bereits passiert hat, einer Kontrolle überhaupt nicht unterworfen. Dass all das Unrecht, das an den östlichen Grenzen, besonders in der Periode der revolutionären Bewegung in Russland, geschehen ist und auch noch gegenwärtig geschieht, keineswegs in die Öffentlichkeit dringt, darüber ist jeder unterrichtet, der einigermaßen Fühlung mit den russischen Verhältnissen hat.

Meine Herren, es wird von Rakowski noch auf tausend andere Einzelheiten hingewiesen, die von großem Interesse sind, zum Beispiel auf das Bemühen der politischen Polizei, die Auswanderung der Polen nach Amerika zu begünstigen, einerseits, weil man die Polen in den „Ostmarken" auf diese Weise gern vermindern möchte, und andererseits, um den Agenten des Norddeutschen Lloyd und der Hapag, mit denen diese politischen Polizeibeamten nach Behauptung des Rakowski zusammenarbeiten, einen Vorteil zuzuschanzen.

Meine Herren, von besonderem Interesse ist noch folgender Fall; ich gebe auch ihn unter Vorbehalt wieder. Rakowski behauptet, dass bei dem Prozess des Sokols die Rechtsmittelfrist versehentlich versäumt worden sei; da sei er nun selbst, mit Hilfe eines nachgemachten Schlüssels in die Kanzlei der Amtsanwaltschaft eingedrungen und habe die Akten des Sokols fortgenommen und dem Polizeirat Zacher ausgehändigt. Dieser soll sie wiederum in derselben Weise haben zurück befördern lassen. Auf diese Weise sei die Fortführung des Rechtsmittels gegen den Sokol ermöglicht worden.

Meine Herren, auf Veranlassung Zachers, so wird behauptet, sei auf Grund eines dem Ministerium des Innern gesandten Rapports im Mai 1909 der russischen Regierung vorgeschlagen worden, in Berlin für polnische Angelegenheiten ein spezielles Büro einzurichten, das unter gleichzeitiger preußischer und russischer Aufsicht stehen sollte. Russland soll sein Einverständnis erklärt haben. Meine Herren, ich habe bei Beratung des Etatkapitels 91 in Bezug auf das Berliner Polizeipräsidium behauptet, dass ein echtes Kompaniegeschäft zwischen der deutschen Polizei und den russischen Spitzeln in Preußen stattfinde. Der Herr Minister hat es nicht für nötig gehalten, auf diese Behauptung einzugehen, und nicht eine sozialdemokratische Zeitung, sondern das beim Herrn Strosser ja jetzt so sehr beliebte „Berliner Tageblatt" knüpfte daran die Folgerung, der Minister des Innern habe damit also wohl die Berechtigung meiner Vorwürfe zugestanden. Wenn das, was Rakowski hier behauptet, wahr ist, dann konnte natürlich die Regierung das, was ich behauptet habe, nicht wohl abstreiten; dann würde buchstäblich ein direktes offizielles polizeiliches Kompaniegeschäft zwischen der russischen und der preußischen Regierung vorliegen.

Damit will ich den Inhalt der Artikel der „Rzecz-Pospolila Republik" 1909 Nummer 17 bis 19 zunächst einmal verlassen.

Nach Behauptungen, die Rakowski mir gegenüber aufgestellt hat, ist der Bericht über den allslawischen Kongress, der bei Gelegenheit der Weltausstellung in St. Louis stattgefunden hat, obwohl er den Anschein erweckte, als ob er von einem Augen- und Ohrenzeugen verfasst worden sei, in Posen fabriziert worden, und zwar von Rakowski. Auch Herr Polizeirat Zacher soll durch wesentliche Korrekturen an der Abfassung mitgewirkt haben, ehe dieser angeblich authentische Bericht dem Ministerium vorgelegt worden ist. Ganz ähnlich behauptet Rakowski, die Berichte über die angeblichen polnischen Milizen und Manöverübungen angefertigt zu haben.

Meine Herren, wenn der Herr Minister behauptet, Rakowski sei wegen Unzuverlässigkeit von der Polizei entlassen, so erlaube ich mir, demgegenüber nur das offene Bekenntnis Rakowskis zu setzen, in dem dieser sich selbst ohne weiteres preisgibt; er hat mir erklärt:

Ich bin mit Frost in finanzielle Differenzen gekommen wegen des Berichts über den allslawischen Kongress in Prag, den ich für Frost gemacht habe, natürlich ohne dagewesen zu sein. Ich wollte mehr haben, als Frost mir gegeben hat. Darüber ist es zum Streit und zum Bruch gekommen. So bin ich aus der Polizei ausgeschieden."

Er bekennt also ganz offen, dass er wegen finanzieller Differenzen mit Frost, die sich aus der Unsauberkeit seines Gewerbes ergaben, aus der Polizei ausgeschieden ist.

Meine Herren, nun noch eine Kleinigkeit! Rakowski behauptet, dass der Herr Polizeirat Zucker in Breslau, der dort der Chef der politischen Polizei ist, ganz besonderes Interesse für die antimilitaristische Propaganda hege. Es sei auf Grund eines Berichtes der Breslauer Polizei ein Rundschreiben an alle Polizeidirektionen erlassen worden, wonach auf die antimilitaristische Propaganda ein besonders scharfes Auge gerichtet werden solle. In Posen war Frost speziell mit dieser Aufgabe betraut. Meine Herren, Rakowski behauptet nun, von Frost 150 Mark zur Verfügung gestellt bekommen zu haben, um mit Hilfe dieses Geldes zwei Unteroffiziere des 46. und 6. Infanterieregiments durch Traktieren und andere Zuwendungen zu gewinnen, um so die Möglichkeit zu schaffen, eine antimilitaristische Propaganda provokatorisch zu erzeugen oder vorzutäuschen. Ich nehme absichtlich davon Abstand, die Namen der Unteroffiziere namhaft zu machen. Ich will mir nur diese allgemeinen Andeutungen erlauben. Die Namen und alles weitere steht natürlich dem Herrn Minister jederzeit zur Verfügung, mein gesamtes Material soll er unverkürzt in die Hände bekommen. – Es wird behauptet, dass auf Grund dieser von Rakowski nach seinem eigenen Geständnis entfalteten provokatorischen Tätigkeit tatsächlich Opfer gefallen seien.

Unter anderem führt Rakowski auch an, dass er gefälschte Berichte über das Internationale Sozialistische Büro und seine Sitzungen in Brüssel angefertigt habe. Es wurde auch dort vorgetäuscht, als ob Augen- oder Ohrenzeugen den Bericht erstattet hätten, während Rakowski im Auftrag des Frost den gefälschten Bericht wiederum in Posen, ganz friedlich in der von mir schon erwähnten Wirtschaft sitzend, angefertigt hat. Dass bei den letzterwähnten Machenschaften auch meiner Person mit besonderer Freundlichkeit und Aufmerksamkeit gedacht ist, kann natürlich nach dem eben Erwähnten nicht wundernehmen; so behauptet Rakowski unter anderem, dass gelegentlich ein Spitzel in meinem Büro als Angestellter untergebracht worden sei.

Wie man speziell gegen die Sozialdemokraten auch in der Posener Polizei vorgeht, wie die Posener Polizei nach Behauptung des Rakowski die Militärbehörde jederzeit von solchen Personen notifiziert, die sozialdemokratischer oder sonstiger Gesinnung verdächtig sind, wie meiner Parteifreundin Rosa Luxemburg Briefe gestohlen wurden und der Posener Polizei zur Verfügung gestellt sind, das sind Sachen, die Rakowski, ohne sie in seinem Bericht verwertet zu haben, mir mitgeteilt hat.

Ein besonders ernster Punkt ist noch, dass nach Behauptung des Rakowski ein Polizeibeamter, dessen Name mit D. beginnt – ich will seinen Namen auch in diesem Fall schonen, aber der Herr Minister soll ihn wiederum jeden Augenblick zur Verfügung haben –, nicht nur mit der besonderen Aufsicht über die mit der Post ankommenden Pakete aus Galizien betraut war und nicht nur den Inhalt dieser Pakete regelmäßig einer besonderen polizeilichen Revision unterzog, sondern auch eine besondere Beobachtung des sonstigen Postverkehrs der politisch Verdächtigen geübt und sich immer auf dem Postamt herumgetrieben haben soll. Rakowski behauptet, dass dieser Beamte vor einigen Jahren ihm gegenüber auf dem alten Markt in Posen erklärt habe: die Zollbeamten sind dazu – nämlich zur Auslieferung der Sendungen an die Polizei – leichter zu gewinnen, die Postbeamten sind dazu schwerer zu gewinnen. Ich behaupte, dass man diese Angaben des Rakowski durchaus nicht mit einer Handbewegung zurückweisen darf. Wer über das gerichtlich festgestellte Material unterrichtet ist, das im Jahre 1904 im Königsberger Prozess gerade in Bezug auf die Bespitzelung von Postbeamten und die Versuche, Postbeamte zu bestechen und zu politischer Spionage zu bewegen, zutage gefördert wurde, der wird nicht imstande sein, sich auf das hohe Pferd zu setzen und mit der allgemeinen Erklärung zu beruhigen: Diese Anschuldigungen des sozialdemokratischen Hetzers und Verleumders Liebknecht prallen natürlich an der absolut unbefleckten Ehre der Postbeamten usw. ab. Meine Herren, wir richten unsere Angriffe nicht gegen die Postbeamten, sondern gegen die Versuche von Agenten der politischen Geheimpolizei, Postbeamte zu bestechen und zu Pflichtwidrigkeiten zu verleiten. Diese Versucher, die in gemeiner Weise die wirtschaftliche Notlage der unteren Beamten auszunutzen suchen, verdienen die schärfste Missbilligung und Brandmarkung.

Meine Herren, ich erkenne vollständig an, dass man das, was Rakowski gesagt hat, nicht ohne weiteres als bare Münze hinnehmen darf. Nachdem aber der Herr Unterstaatssekretär neulich gemeint hat, gegenüber den Behauptungen des Abgeordneten Switala mit einer solchen allgemeinen Bemerkung davonkommen zu können, habe ich mich für verpflichtet gehalten, der Öffentlichkeit die Einzelheiten zu unterbreiten. Ich weiß sehr wohl, dass sich gerade innerhalb der politischen und besonders der Geheimpolizei die allgemeine moralische Versumpfung und Korruption auch darin äußert, dass die einzelnen Mitglieder dieser Polizei gegeneinander intrigieren. Das ist ein Zustand, der sich ganz besonders in Russland herausgebildet hat, wie Fürst Krapotkin bekanntlich in seinem jüngst erschienenen Buche „Terror in Russia" in Bezug auf den Gegensatz zwischen der Ochrana und der offiziellen staatlichen Geheimpolizei darlegt. In ähnlicher Weise behauptet auch Rakowski, dass Frost den Polizeirat Zacher überwacht habe, dass wiederum im Auftrage von Zacher Frost den Polizeipräsidenten von Hellmann überwacht habe und dass Frost ihn zu veranlassen versucht habe, allerlei blamable Notizen über seinen Vorgesetzten Zacher und den Polizeipräsidenten von Hellmann in die Zeitungen hinein zu lancieren.

Selbstverständlich ist hier Schmutz in einem solchen Umfange angehäuft, dass man nur mit der allergrößten Vorsicht positive Feststellungen treffen kann; das unterliegt nicht dem geringsten Zweifel. Aber, meine Herren, wie kann der Herr Unterstaatssekretär ohne weiteres erklären – ich wiederhole seine Worte noch einmal wörtlich –:

Auf das entschiedenste muss ich bestreiten, dass Rakowski zu Fälschungen und Provokationen gemissbraucht ist."

Auf Grund welcher Ermittlungen bestreitet der Herr Unterstaatssekretär – so darf ich ihn fragen – die Richtigkeit dieser Angaben? Hat ein förmliches Verfahren stattgefunden, oder hat etwa der Herr Unterstaatssekretär oder sein Beauftragter den Frost gefragt, ob die Behauptungen richtig sind? Wenn das etwa die Quelle des Herrn Unterstaatssekretärs sein sollte, dann dürfen wir wohl sagen: Diese Quelle ist uns nicht zuverlässig genug, denn Frost ist ja der Hauptbeschuldigte dabei. Was wir fordern dürfen und fordern, ist, dass die Regierung gegenüber den Behauptungen des Rakowski Veranlassung nimmt, ein Ermittlungsverfahren unter allen erdenklichen Garantien einzuleiten, es sofort aus den Händen der Polizei zu nehmen und wenn nicht in parlamentarische, so in richterliche Hände zu geben. Nur auf diese Weise wird das Ministerium die Überzeugung erwecken können, dass die Behauptungen des Rakowski allenthalben falsch sind.

Ich weiß, dass auch die polnischen Zeitungen sich gegen Rakowski ausgesprochen haben, und es war sehr geschickt vom Herrn Unterstaatssekretär, dass er gegen den Abgeordneten Switala die polnischen Zeitungen ausspielte. Aber, meine Herren, die polnischen Zeitungen haben sich zum Teil auch ganz anders ausgelassen. Sie haben zum Teil auch erklärt, dass sie bisher noch nicht imstande gewesen seien, Feststellungen zu treffen, dass aber weitere Ermittlungen angestellt werden müssten, um dasjenige, was Rakowski behauptet, zu prüfen. Nach Mitteilungen, die mir von anderer Seite gemacht worden sind, ist in der Tat eine ganze Menge von dem, was Rakowski behauptet hat, bereits gegenwärtig schlechterdings als erwiesen anzusehen, soweit eben überhaupt etwas als erwiesen angesehen werden kann, ohne die Garantie eines geordneten richterlichen Untersuchungsverfahrens. Ein solches Untersuchungsverfahren anzustellen, hat die Regierung meiner Überzeugung nach die Pflicht; und so kann sie von sich den Verdacht ablenken, als ob sie die polizeilichen Ausschreitungen billige. Meine Herren, darüber sind wir uns vollständig klar: So sehr wir Sozialdemokraten der Regierung selbst einen Vorwurf aus diesen Missständen machen, weil wir behaupten, dass die Missstände mit dem System der politischen Geheimpolizei zusammenhängen, sowenig behaupten wir im Einzelnen, dass alle diese Niederträchtigkeiten und Schmutzereien der politischen Geheimpolizei mit Wissen und Willen der Zentralbehörden stattfinden. Da wachsen aus diesem Sumpf so manche Sumpfblüten heraus, von denen die Regierung nichts weiß und deren Duft der Regierung sogar sehr widerwärtig sein mag. Es ist infolgedessen möglich, dass das, was Rakowski über sich selbst sagt, Wahrheit ist, ohne dass die Herren in den Zentralinstanzen, ohne dass vielleicht Herr von Hellmann und ohne dass vielleicht sogar Polizeirat Zacher eine Ahnung davon haben. Aber das kann nicht genügen, jede Untersuchung für überflüssig zu halten. Es muss dafür gesorgt werden, dass in diesen Sumpf genau hineingeleuchtet werde und auch den unteren Polizei-Organen der politischen Geheimpolizei die Möglichkeit genommen wird, durch derartige Machenschaften preußische Staatsbürger zu gefährden und das Ansehen des preußischen Staates in aller Welt auf das Schnödeste herabzusetzen.

Nun verlasse ich diesen Punkt und gehe zu einem zweiten Punkt über. Ich möchte auf Frankfurt zu sprechen kommen. Meine Herren, es ist mir von Herrn Abgeordneten Ecker-Winsen neulich der Vorwurf gemacht worden, ich hätte die Kammergerichtsentscheidung über die Straßendemonstrationen missverstanden. Meine Herren, der Abgeordnete Ecker-Winsen hat die Kammergerichtsentscheddung nicht bis zum Schluss zitiert, es heißt darin:

Wie einerseits die Betätigung des Entschlusses, eine Ansicht in öffentlich bemerkbarer und dadurch besonders eindringlicher Weise auch anders Denkenden kundzutun, nicht allein an sich als Gefährdung der öffentlichen Ordnung erscheine, so könne auch andererseits das politische Problem der Reform des preußischen Landtagswahlrechts die demonstrative parteipolitische Behandlung auf offener Straße nicht rechtswidrig machen. Vielmehr komme es lediglich darauf an, ob der Angeklagte durch sein Benehmen an und für sich die öffentliche Ordnung gefährdet habe. Da dies aber nach den getroffenen Feststellungen nicht geschehen sei, müsse der Angeklagte freigesprochen werden."

Meine Herren, ich glaube also die Kammergerichtsentscheidung richtig verstanden zu haben. Von dem Herrn Abgeordneten Cassel ist der formale Rechtsstandpunkt in außerordentlicher Schärfe hervorgekehrt worden, und zwar in einer Weise, die ihm das Lob des Herrn Strosser und des Freiherrn von Zedlitz eingetragen hat, ein Lob, um das ich den Herrn Cassel, politisch betrachtet, keineswegs beneide.

Meine Herren, im Übrigen hat der Herr Abgeordnete Strosser gemeint, dass die Bezugnahme auf die englischen Zustände durchaus unberechtigt sei. Meine Herren, die Bezugnahme auf die englischen Zustände war durchaus nicht unberechtigt. Es ist richtig, dass ein Gesetz besteht, nach dem Zusammenrottungen zum Zweck der Bedrohung des Parlaments unter Strafe gestellt sind. Aber, meine Herren, dieses Gesetz ist, wie ich bereits dem Herrn Abgeordneten Strosser einwarf, in der Tat obsolet, und derartige politische Manifestationen, wie sie gegenwärtig in Deutschland und besonders in Preußen allenthalben unternommen werden, sind in der Tat in England an der Tagesordnung. Wie kann sich der Herr Abgeordnete Strosser aber überhaupt auf das englische Parlament beziehen? Das englische Parlament ist in der Tat ein Parlament, es ist nicht nur ein zerschlissener Spinnwebschleier, der über den Absolutismus der Exekutive und einer übermütigen Klasse gebreitet ist, wie man von diesem Hohen Hause sagen darf. Das englische Parlament hat seinen Einfluss gerade durch außerparlamentarische Mittel gegen die Exekutive erkämpft, deren Repräsentant der preußische Landtag geradezu allein ist.

Meine Herren, ich will mich auch nicht näher auf die Versuche des Herrn Abgeordneten Strosser einlassen, der die Straßendemonstrationen als Exerzitien zur Revolution, und auf die Auffassung des Herrn Abgeordneten von Zedlitz, der den Massenstreik als eine moderne Form der Revolution, als Hoch- und Landesverrat, bezeichnet hat.

(„Sehr richtig!" bei den Freikonservativen.)

Meine Herren, Sie bewegen sich ja hier in sonderbaren Widersprüchen. Wenn auf der einen Seite immer und immer wieder über die Bedeutung der Straßendemonstrationen gehöhnt und darauf hingewiesen wird, dass sie nie und nimmer imstande seien, Ihren Pulsschlag auch nur ein klein wenig zu beschleunigen, so wird sich andererseits doch wohl nicht bestreiten lassen, dass alle Ihre Versuche, jetzt mit dem schwersten Geschütz, das Ihnen hier im Parlament zur Verfügung steht, gegen die Straßendemonstrationen anzugehen, auf das deutlichste beweisen, wie wenig ernst es um die äußerlich zur Schau getragene Ruhe gegenüber der Machtentfaltung des Proletariats bestellt ist.

Meine Herren, gewisse Parteien pflegen sich um Gesetz und Gerechtigkeit im Allgemeinen wenig zu scheren; und wenn von diesen gewissen Parteien nach dem Gesetz gerufen wird, dann pflegt es stets einen ganz besonderen Grund zu haben. Wir entnehmen aus alledem, dass diese Straßendemonstrationen denjenigen Eindruck auf Sie gemacht haben, den wir gewünscht haben.

Meine Herren, es ist seit langer Zeit ein wunderlicher Ehrgeiz jeder Reaktion gewesen, ihre engbrüstigen und barbarischen Maßnahmen durch allerhand philosophischen und literarischen Flitter zu bedecken und zu bemänteln. Da zitiert man den Geist Fichtes, da bemüht man Goethe, da bemüht man Kant, man bemüht Schiller, man bemüht schließlich sogar den alten Plato aus dem Grabe heraus. Alle diese großen Männer der Vergangenheit wälzen sich gewiss im Grabe herum, wenn sie hier als Schwurzeugen für Ihre reaktionäre Wirtschaft aufgerufen werden. Und, meine Herren, wenn der Herr Abgeordnete Freiherr von Zedlitz gemeint hat, hier in der Attitüde des Attinghausen auftreten zu können, und als ein neuer Attinghausen das preußische Volk zur Einigkeit aufrufen will, dann darf demgegenüber darauf hingewiesen werden, dass kein anderer so beharrlich und so zähe und mit einer solchen Rücksichtslosigkeit seit jeher gerade die herrschenden Klassen zum Kampfe gegen das Proletariat aufgerufen hat wie Freiherr von Zedlitz, dass gerade das Programm des Abgeordneten Freiherr von Zedlitz seit je dahin zielt, die feindselige Stimmung innerhalb der Bürgerschaft, innerhalb des Volkes auf das äußerste zu steigern, den Hass und die gemeinschaftliche Aktion des ganzen Bürgertums gegen das Proletariat zu schüren und zu Gewalttätigkeiten zu entflammen. Wie der Abgeordnete Freiherr von Zedlitz, dessen Programm geradezu die prinzipielle Uneinigkeit des Volkes ist, dessen Ziel es ist, die Masse des Volkes dauernd von einer kleinen Minderheit der herrschenden Klassen gewalttätig unterdrücken zu lassen – wie dieser Mann es fertigbringt, das Wort des Attinghausen zu zitieren, wie dieser Mann es fertigbringt, sich überhaupt auf den Teil, auf die freie, demokratische Schweiz zu berufen, das verstehe, wer da kann.

Meine Herren, geradeso beschaffen ist es mit der Berufung auf Plato. Hat doch Graf Moltke es sogar unternommen – nebenbei gesagt unter einem vollständigen Missverständnis –, durch das berühmte siebente Kapitel vom Platoschen „Staat" die Sozialdemokratie bekämpfen zu wollen! Wie kann Herr Graf Moltke, der Vertreter einer Partei, die man wohl als die preußische Polizeipartei katexochen bezeichnen kann,

(Heiterkeit.)

sich gegen die Sozialdemokratie auf den idealsten aller Philosophen und einen Vorläufer des Sozialismus berufen, und noch dazu auf ein Werk des Plato, das den Untertitel trägt „Über die Gerechtigkeit"!

Meine Herren, ich will mich mit Einzelheiten hier nicht weiter befassen. Ich darf aber wohl darauf hinweisen, dass, wenn der Herr Abgeordnete Graf Moltke die Behauptung aufgestellt hat, der preußische Staat sei schon lange kein Polizeistaat mehr, sondern ein Rechtsstaat, und wir könnten unser Leben lang daran kratzen, ohne dass der Polizeistaat herauskäme, Herr von Zedlitz es gewesen ist, der kurze Zeit darauf von dieser Stelle aus erklärt hat, es müsse ein geordnetes Rechtsmittelverfahren im Verwaltungswesen eingeführt werden – wörtlich! –: „sonst kommen wir nicht aus dem Polizeistaate heraus"!

Meine Herren, im Übrigen hat uns ja selbstverständlich all dasjenige, was Herr Graf Moltke hier vorgetragen hat, mit der Überzeugung erfüllt, dass … er uns doch sicherlich über ist in seiner Fähigkeit der Spaßmacherei, der Parteiakrobatik, um die wir ihn freilich schwerlich beneiden.

Meine Herren, es ist über die Frankfurter Demonstrationen von dem Herrn Minister des Innern eine Darstellung gegeben worden, der in der schärfsten Weise widersprochen werden muss. Diese Frankfurter Demonstrationen, so darf ich behaupten, sind nicht – ich wiederhole die Behauptung – durch Schuld der Bevölkerung, der Demonstranten, zu irgendwelchen Exzessen ausgeartet, sondern diese Exzesse sind ausschließlich durch das Vorgehen der Polizei veranlasst worden. Und das werde ich Ihnen jetzt beweisen.

Meine Herren, Sie wissen, dass in Frankfurt mehrfach Demonstrationen stattgefunden haben, zunächst am 13. Februar. Bei dieser Demonstration, an der eine gewaltige Volksmasse teilnahm, sind ausschließlich Verletzungen im Volke selbst vorgekommen, da sind die Polizeiattacken geritten worden, da ist die Bevölkerung von der Polizei in schroffster Weise malträtiert worden. Nun ist einige Tage darauf als Protest gegen dieses Vorgehen der Polizei von neuem eine Demonstration erfolgt, und diese Demonstration ist es, von der der Herr Minister des Innern neulich ausschließlich gesprochen hat. Diese Demonstration erfolgte also, meine Herren, nachdem bereits vorher eine Demonstration stattgefunden hatte, wo die Polizei in unerhörtester Weise eingegriffen hatte. Wenn nun etwa bei dieser zweiten Demonstration – ich setze den Fall – irgendeiner oder der andere aufgeregte, sich selbst nicht beherrschende Mensch vielleicht gedacht hat: Wer weiß, vielleicht wirst du jetzt wieder angegriffen, nimm dir irgendeine Waffe mit, kann man da sagen, dass dieses Verhalten aus der Spontaneität der Bevölkerung hervorgegangen sei; dass es nicht vielmehr provoziert sei durch das Verhalten der Polizei?

Die Berichte, die über den angeblichen Anfang der Gewalttätigkeiten durch die Bevölkerung in Frankfurt herausgegeben worden sind, widersprechen sich in schärfster Weise. Von dem Herrn Minister des Innern ist ein Bericht vorgelesen worden, den er selbst als den amtlichen Bericht bezeichnet. Was auf amtliche Berichte dieser Art zu geben ist, dafür haben wir Beweise genug in Händen. Gerade jetzt ist auch ein solcher amtlicher Bericht über die Vorgänge bei den Demonstrationen in Halle herausgegeben worden, und dieser amtliche Bericht wimmelt von solchen Entstellungen, dass nicht der geringste Zweifel besteht, dass dieser amtliche Bericht bei den demnächstigen Gerichtsverhandlungen ganz wesentlich rektifiziert werden wird.

Im Übrigen haben wir ja doch die allerbeste Gelegenheit, die Zuverlässigkeit der amtlichen Berichte gerade für Berlin beurteilen zu können. Ich erinnere Sie an die amtlichen Berichte über die Vorgänge aus Anlass der Ferrer-Versammlungen4. Nach einer Zeitungsmeldung sollen die Berichte über die Gerichtsverhandlungen auf den preußischen König einen so unangenehmen Eindruck gemacht haben, dass er selbst auf eine Änderung im Verhalten der Polizei gegenüber dem Publikum hingewirkt hat. Nachdem dann das Polizeipräsidium versucht hat, gegenüber den gerichtlichen Entscheidungen seine Haltung zu rechtfertigen – vergeblich, darf ich behaupten –, hat vor wenigen Tagen, am vorigen Sonnabend oder Freitag, eine erneute Verhandlung stattgefunden, die dieselben Vorgänge betraf. Bei dieser Gelegenheit sind vom Gericht ausschließlich die Belastungszeugen, die Zeugen, die von der Polizei selbst namhaft gemacht waren, vernommen worden, und bereits die Vernehmung dieser Anklagezeugen hat hingereicht, um das Gericht zu einem Freispruch und dazu zu veranlassen, die gesamten Kosten, einschließlich der Kosten der Verteidigung und der notwendigen Auslagen des Angeklagten, der Staatskasse aufzuerlegen, weil auch in diesem Falle wiederum die Schuld der Polizei und ein ganz unerträgliches provokatorisches und unangemessenes Verhalten der Polizei von einem königlich preußischen Schöffengericht als erwiesen angesehen worden ist. Nach alledem müssen wir wohl amtlichen Berichten gegenüber große Vorsicht obwalten lassen.

Nun aber, meine Herren, hat denn der Herr Minister vollständig vergessen, dass das, was er uns aus dem „Berliner Tageblatt" vorgelesen hat, nicht vollständig war? Hat der Herr Minister vergessen oder ist er vielleicht nicht orientiert darüber gewesen, dass in der Frankfurter Stadtverordnetenversammlung eine Verhandlung über diese Vorgänge stattgefunden hat und dass in dieser Verhandlung alle Parteien, abgesehen von einigen nationalliberalen Vertretern, die überwältigende Mehrheit auch der bürgerlichen Stadtverordneten, eine Resolution angenommen haben, in der die schärfste Missbilligung über das Vorgehen der Polizei gerade bei dieser zweiten Demonstration, aber auch bei der ersten, zum Ausdruck gebracht und genau derselbe Standpunkt vertreten worden ist, den ich Ihnen als den Standpunkt der „Frankfurter Zeitung" neulich mitteilen konnte; dass nämlich die einzigen, die sich hier nichts vorzuwerfen haben, die Demonstranten sind? Ist der Beschluss der bürgerlichen Parteien des Frankfurter Stadtparlaments für Sie so absolut gleichgültig? Dann darf ich darauf hinweisen, dass inzwischen auch bereits die Frankfurter Justiz begonnen hat zu mahlen. Es hat eine Verhandlung stattgefunden gegen denjenigen, den man in einer gewissen Presse bereits als den Rädelsführer bezeichnet und in blutrote bengalische Beleuchtung gesetzt hatte, meinen Parteigenossen Herget, der unter anderem der Leiter der Frankfurter Jugendbewegung ist. Meine Herren, er sollte sich des Auflaufs schuldig gemacht haben, ursprünglich auch des Landfriedensbruchs, des Aufruhrs und aller möglichen Sachen. Was hat die Verhandlung, die am 24. Februar stattfand, zutage gefördert? Ich habe hier einen Bericht aus dem „Berliner Tageblatt" vom 25. Februar dieses Jahres; danach ist nichts herausgekommen, als dass er 120 Mark Geldstrafe wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt und 30 Mark Geldstrafe wegen groben Unfugs, also insgesamt eine Strafe von ganzen 150 Mark, zu zahlen hat! Meine Herren, in diesem Verfahren sind einige Tatsachen hervorgetreten, die ich nicht versäumen werde, in einem anderen Zusammenhange Ihnen vorzutragen. Hier will ich nur noch festnageln, dass, nachdem Herget verhaftet worden war, man in seiner Wohnung haussuchte, und da man nichts fand, was auf irgendeinen Aufruhr, auf irgendeine Revolution oder dergleichen schöne Sachen schließen ließ, wurde eine Unmasse politischer Schriftstücke mit Beschlag belegt, besonders solche, die sich auf die Jugendbewegung beziehen; sie sind inzwischen wohl wieder zurückgebracht worden, tragen aber noch deutliche Zeichen der polizeilichen Durchsuchung. Es wird mir telegrafisch mitgeteilt, dass allenthalben die Auffassung herrscht, als ob man geradezu mit Gewalt einen großen politischen Prozess habe konstruieren wollen.

Aber damit noch nicht genug, meine Herren. Wenn sich gelegentlich bei Straßendemonstrationen Radaumacher zeigen, so lässt sich das selbstverständlich nicht vermeiden. Meine Herren, wollen Sie denn bestreiten, dass bei großen Menschenansammlungen, wenn sie anderen Zwecken als denen der Demonstration dienen, nicht auch hier und da irgendwelche Radaumacher, irgendwelche unsaubere Elemente hineingeraten? Es wird von der Sozialdemokratie in Frankfurt am Main nachdrücklich behauptet, dass man alle Handlungen jetzt fälschlicherweise den Demonstranten in ihrer Gesamtheit aufzumutzen sucht, dass alle Waffen usw., die mitgeführt worden sein sollen, nicht in den Händen von Demonstranten gewesen sind, sondern von irgendwelchem Gesindel, das sich möglicherweise den Demonstranten angeschlossen hat. Meine Herren, des weiteren besteht ja der dringendste Verdacht, dass, wenn überhaupt tatsächlich aus der Masse heraus Gewalttätigkeiten verübt worden sein sollten, dann diese Gewalttätigkeiten nicht von Demonstranten verübt worden sind, vielleicht auch nicht einmal von irgendwelchen Radaumachern, sondern dass es sich dabei um polizeiliche Provokationen, um Spitzelmacherei handelt. Meine Herren, Sie mögen darüber lachen, soviel Sie wollen; aber es ist in früheren Prozessen, in Bezug auf die ersten Berliner Straßendemonstrationen, mit aller Deutlichkeit bewiesen worden, dass dort polizeiliche Provokateure ihre Hand im Spiele hatten, dass sie am lautesten gerufen und die Massen aufgefordert haben, gegen die Polizei vorzugehen. Meine Herren, woher die ersten Schüsse gefallen sind, wird sich nicht mehr feststellen lassen; hier sind die Ansichten durchaus verschieden. Aber es muss auf das energischste bestritten werden, dass es erwiesen sei, dass die ersten Schüsse aus den Reihen der Demonstranten heraus gefallen sind. Alle Wahrscheinlichkeit spricht dafür – das ist, wie gesagt, nicht nur die Auffassung der Sozialdemokratie, sondern überhaupt der bürgerlichen Parteien in Frankfurt am Main –, dass die Straßendemonstrationen dort absolut friedlich verlaufen wären, wenn die Polizei nicht dazwischengetreten wäre.

Noch folgendes: Man will hier der Sozialdemokratie vorwerfen, sie habe die Bevölkerung in unverantwortlicher Weise aufgeregt und trage die Blutschuld auf ihrem Gewissen. Die bürgerlichen Parteien in Frankfurt am Main aber sind davon, dass die Sozialdemokratie ein sinnloses Blutvergießen veranlasst habe, so wenig überzeugt, dass sie sich nicht nur in der Stadtverordnetenversammlung der Sozialdemokratie Seite an Seite gestellt, sondern sich auch mit der Sozialdemokratie zu einer neuen gewaltigen Demonstration gegen die jetzige Regierungsvorlage, gegen die Beschlüsse der Kommission in Bezug auf das Wahlrecht und gegen das Vorgehen der Frankfurter Polizei vereinigt haben. Diese Demonstration hat am gestrigen Sonntag stattgefunden, und alle Zeitungen, die Sie darüber lesen, sind erfüllt von Bewunderung über den glänzenden Verlauf dieser gemeinschaftlichen Demonstration der bürgerlichen Parteien und der Sozialdemokratie.

(Lachen im Zentrum und rechts.)

Alle Zeitungen sind erfüllt von Anerkennung über den glänzenden und friedlichen Verlauf. Und dabei eins ad notam! Es war gestern in Frankfurt nicht beabsichtigt, einen Demonstrationszug zu unternehmen. Die bürgerlichen Parteien, die daran teilgenommen haben, konnten aber nicht umhin, eine Demonstration zu unternehmen. Die Verhältnisse haben es so mit sich gebracht, unabhängig davon, ob man es wollte oder nicht. Ein gewaltiger Zug von vielen Tausenden ist in das Innere der Stadt vor das Polizeipräsidium gezogen und hat dort demonstriert. Die Polizei war verständig; sie hat ihre Mannschaft zurückgehalten, und es ist nicht eine Fliege getötet worden, geschweige denn, dass ein Tropfen Menschenblut vergossen wäre. Schon einige Tage vorher ist in dem bekannten Halbtagsstreik, bei dieser Wochentagsdemonstration, an der ungefähr 25.000 Menschen teilnahmen, trotz der gewaltigen Erregung der Menschenmassen, nicht die geringste Unruhe vorgekommen, da die Polizei sich zurückhielt.

Damit ist wiederum der schlagendste Beweis erbracht worden, dass die Demonstrationen an und für sich eine Störung der öffentlichen Ordnung in keiner Weise herbeizuführen geeignet sind. Wenn Sie den gegenteiligen Standpunkt vertreten, dann haben Sie die Güte, einen einzigen Fall hier detailliert darzulegen, in dem ohne das Dazwischentreten der Polizei auch nur die allergeringste Unruhe stattgefunden hat. Kommen Sie mir nicht wieder mit der bekannten Geschichte, dass hier in Berlin einmal ein paar Omnibusfahnen heruntergeholt worden sind. Dass das keine Demonstration war, dass die Sozialdemokratie und die organisierte Arbeiterschaft mit diesen Vorgängen nichts zu tun hatte, das ist schon so oft nachgewiesen worden, dass jede erneute Hervorkehrung dieses Falles nicht mehr im guten Glauben erfolgen kann.

Nun, meine Herren, darf ich mir wohl erlauben, darauf hinzuweisen, dass sich gestern ja auch in Berlin von neuem Demonstrationen abgespielt haben, die lehrreich sind für die Art, wie Demonstrationen entstehen. Der Herr Abgeordnete Cassel wird wahrscheinlich von einer Gänsehaut überlaufen worden sein, als er den Bericht über die gestrigen Vorgänge in Berlin gelesen hat. Am Ende ist er sogar an der Spitze des Demonstrationszuges nach dem Schloss marschiert? Der Herr Abgeordnete Cassel hat gestern sehen können, dass ganz friedliche preußische Staatsbürger, die zum Teil der Nationalliberalen Partei angehören, in der lebhaften Erregung, in der sie sich befanden, spontan zu einer Kundgebung kamen, die gar nicht vorbereitet war und die sogar bis an das Schloss vordrang. Da mag das loyale Herz des Herrn Abgeordneten Cassel erzittert und erbebt sein, das Herz des Abgeordneten Cassel, das ja eben erst durch das Lob aus dem Munde des Herrn Abgeordneten Freiherrn von Zedlitz mit Balsam beträufelt, ja mit Balsam überschüttet worden ist, kann ich wohl sagen.

Meine Herren, Sie haben also jetzt – darf ich den bürgerlichen Parteien zurufen – am eigenen Leibe gesehen, dass Straßendemonstrationen entstehen. Sie haben am eigenen Leibe gesehen, dass Straßendemonstrationen, wenn die Polizei sich zurückhält, absolut friedlich verlaufen. Die ganze Geschichte der bisherigen Straßendemonstrationen ist ein einziger laufender Beweis für diese These. Meine Herren, wenn Sie die politische Polizei abschaffen und wenn Sie dafür sorgen, dass die Provokateure aus den Demonstrationen wegfallen, wenn Sie weiter dafür sorgen, dass die Polizei sich vollständig zurückhält – Sie können fest überzeugt sein: All die Straßendemonstrationen und all die Aktionen des Proletariats, die um das allgemeine, gleiche, geheime und direkte Wahlrecht geführt werden, werden friedlich verlaufen, wie denn überhaupt die Sozialdemokratie den dringenden Wunsch und das dringende Bestreben hat, ihre Ziele auf friedlichem Wege zu erreichen. Seien Sie einsichtig genug zu verstehen, dass man ein großes Volk nicht dauernd durch den Polizeibüttel in eine Hürde zusammentreiben und vom Kopf bis zum Fuß reglementieren kann; geben Sie dem Volke Bewegungsfreiheit, und Sie werden sehen, dass das Volk mehr Vertrauen zur Regierung gewinnen wird, als es bisher in Preußen gehabt hat und haben kann.

1 Mit der Bezeichnung „echtrussisch" sind die Mitglieder des Verbandes des russischen Volkes gemeint, einer 1905 zum Kampf gegen die Revolution gegründeten monarchistischen Schwarzhunderterorganisation in Russland. An der Spitze dieses von Gutsbesitzern, Kaufleuten, Polizeibeamten, Kulaken und Priestern geführten konterrevolutionären Verbandes standen I. Dubrowin, N. E. Markow II. und (bis 1907) W. M. Purischkewitsch. 1907 spaltete sich, hervorgerufen durch Streitigkeiten in Fragen der III. Staatsduma, ein neuer reaktionärer Verein ab, der „Verband des Erzengels Michael", geführt von W. M. Purischkewitsch.

2 Polnischer Geheimbund in Russisch-Polen. Die Red.

3 Sokol – Name für verschiedene slawische Turnvereine. Die Red.

4 Ferrer, Guardia Francisco, geb. 1859, bedeutender spanischer Publizist und Pädagoge, beschuldigt, am Aufstand in Katalonien (an der sogenannten Blutwoche vom 26. bis 31. Juli 1909) maßgeblich beteiligt gewesen zu sein, wurde unschuldig zum Tode verurteilt und am 15. Oktober 1909 erschossen. In Frankreich, Deutschland, Italien und anderen Ländern fanden große Protestdemonstrationen gegen dieses Schandurteil statt.

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