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Karl Liebknecht 19121209 Gegen die reaktionäre preußische Verwaltung

Karl Liebknecht: Gegen die reaktionäre preußische Verwaltung

Rede im preußischen Abgeordnetenhaus zu Anträgen der Nationalliberalen Partei

[Nach Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Preußischen Hauses der Abgeordneten, 21. Legislaturperiode, V. Session 1912/13, 7. Bd., Berlin 1913, Sp. 8804-8810 und nach Karl Liebknecht, Gesammelte Reden und Schriften, Band 5, S. 467-478]

Meine Herren, Herr Abgeordneter Schiffer hat zweifellos zu viel gesagt, wenn er behauptet, dass die Zustände, denen er mit seinen Anträgen zu Leibe gehen möchte, wesentlich zu dem Misstrauen der Bevölkerung gegen die heutige Rechtsprechung Veranlassung gäben. Das ist gewiss nicht zutreffend. Dieses Misstrauen hat seine Ursache noch in sehr viel anderen und viel tiefer liegenden Gründen, die gesetzgeberisch gar nicht aus der Welt geschafft werden können, vor allem in der Kompliziertheit unserer gesamten Lebensverhältnisse und dann ganz wesentlich in der Tatsache, dass es dem Einzelnen nahezu unmöglich ist, sich objektiv zu orientieren, weil jeder Einzelne sich im Leben in einem Zwiespalt, in einer politischen und sozialen Kampfstellung befindet, die um so ausgeprägter ist, je lebhafter sich der Einzelne an den öffentlichen Angelegenheiten beteiligt Es ist ganz naturgemäß, dass alle diese Zwiespältigkeiten auch auf die Judikatur übergreifen. Und es ist sicherlich auch nicht die Auffassung des Herrn Abgeordneten Schiffer, dass er mit seinen Vorschlägen etwa den politischen und sozialen Beschwerden, die mit nur allzu viel Recht gegen unsere Justiz als eine Klassenjustiz und unsere Verwaltung als eine Klassenverwaltung erhoben werden, auch nur im mindesten beikommen könnte.

Aber ich gebe sehr gern zu, dass diese aus dem Wesen und den Kompliziertheiten unserer Gesellschaftsordnung sich mit einer gewissen Notwendigkeit ergebenden Missstände ganz überflüssig durch die außerordentliche Kompliziertheit einmal unseres materiellen Rechts und sodann auch unseres formalen Rechts auf dem Gebiete der Verwaltung wie auf anderen Gebieten gesteigert werden. Wenn ich den Herrn Abgeordneten Schiffer richtig verstehe, so umfasst er mit seinen allgemeinen Beschwerden sowohl das Verwaltungsgebiet wie das kriminelle und das zivilrechtliche Gebiet. Aber mit seinen positiven Maßregeln, die er in präziser Weise vorschlägt, sucht er doch mehr den Schwierigkeiten auf dem Gebiete der Verwaltung zu Leibe zu gehen, und ich glaube auch, dass es da in erster Linie notwendig ist, Abhilfe zu schaffen. Es ist nicht wahrscheinlich, dass diese Anträge einen Anstoß geben werden, in das Zivil- und Strafrecht energisch einzugreifen; in diesen Materien wird wahrscheinlich nicht einmal im Sinne des Antrages 640 vorgegangen werden. Aber auf dem Gebiete der Verwaltung, wo es am Allernotwendigsten ist, da allerdings, hoffe ich, wird ein solcher Anstoß hinreichen. Wenn sich die Parteien mit annähernd der Einmütigkeit, mit der hier die Wortführer der Parteien aufgetreten sind, die Auffassung, dass ernsthafte Missstände bestehen, zu eigen machen, dann wird aus der bevorstehenden Kommissionsberatung etwas herauskommen, was der Königlichen Staatsregierung deutlich macht, dass etwas getan werden muss und dass mit allgemeinen Vertröstungen auf eine am Sankt-Nimmerleins-Tag bevorstehende Verwaltungsreform hier nicht mehr auszukommen ist. Wir müssen ja besorgen, dass uns der Einwand der „rechtshängigen Sache", will ich mich mal ausdrücken, der Einwand, dass eine Verwaltungsreform in Aussicht stehe und bereits in Bearbeitung sei, auch hier gemacht wird, soweit es sich um den Vorschlag von Maßregeln für die Verwaltung handelt. Wenn wir Sozialdemokraten uns bereits wiederholt mit aller Schärfe dagegen gewandt haben, dass man diese sogenannte Verwaltungsreform, die wahrscheinlich den Pelz waschen wird, ohne ihn nass zu machen, eine Verwaltungsreform, die sich wahrscheinlich nur mit geringfügigen Äußerlichkeiten begnügen wird, eine Verwaltungsreform, die sich noch in einem so zurückgebliebenen vorbereitenden Stadium befindet, das noch nicht absehen lässt, wann irgend etwas herauskommen wird – wenn wir uns also wiederholt dagegen gewandt haben, dass man diese Verwaltungsreform zum Vorwande nimmt, um alle möglichen gesetzgeberischen Eingriffe zu hintertreiben, so wird bei den vorliegenden Anträgen dieser unser Standpunkt hoffentlich von der Mehrheit des Hauses gebilligt werden. Solange kann auf diese Dinge nicht gewartet werden, bis die „Verwaltungsreform" einmal zur Tatsache werden wird. Ich glaube, die Mehrzahl der preußischen „Untertanen" glaubt an die besondere Verwaltungsreform und an die Existenz der Kommission schon längst nicht mehr.

Meine Herren, Tatsache ist, dass wir heute hier „revolutionäre" Töne gehört haben, „revolutionäre" Töne sogar aus dem Munde des Herrn Schiffer und fast noch mehr aus dem Munde des freikonservativen Abgeordneten Herrn Brütt. Wenn der freikonservative Herr Abgeordnete so weit gegangen ist zu erklären, dass neue Gesetze und Verordnungen von der Bevölkerung entgegengenommen werden wie Misswachs, Hagelschlag und Überschwemmung, und wenn Herr Abgeordneter Schiffer gesagt hat, dass die Bevölkerung die Bestrafungen heute mit philosophischer Gleichgültigkeit über sich ergehen lässt, mit Quietismus, mit Fatalismus, weil sie sich dagegen so wenig wehren könnte wie gegen Frost und irgendwelche Schäden, die durch höhere Gewalt herbeigeführt werden, so ist das ja in der Tat die schärfste Verurteilung, die man diesem Teil unseres staatlichen Lebens zuteil werden lassen kann.

(Abgeordneter Hirsch (Berlin): „Sehr richtig!")

Meine Herren, die Kritiken, die von verschiedenen Rednern hier an unseren Rechtszuständen angelegt worden sind, sind nur allzu berechtigt. Von den Ausführungen des Herrn Abgeordneten Schiffer kann man beinahe jedes einzelne Wort unterstreichen. Alle die Einwendungen, die gegen ihn erhoben worden sind, stellen sich bei der geringsten Nachprüfung als vollkommen haltlos heraus; ich bin insbesondere der Ansicht, dass dasjenige, was von konservativer und freikonservativer Seite eingewendet worden ist, durchaus hinfällig ist. Wenn Herr Abgeordneter Brütt sagt: Wir brauchen keine neuen Gesetze, wir haben schon zu viel Gesetze, und wenn er daran eben die revolutionäre Phrase anknüpft, die ich mir soeben zu erwähnen gestattete, dann übersieht er doch gerade, dass der Vorschlag des Herrn Abgeordneten Schiffer dahin geht, mit dem veralteten Plunder aufzuräumen und eine Vereinfachung des Rechts zu schaffen. Herr Abgeordneter Brütt hat also in diesem seinem Argument nur eine neue Stütze für die Auffassung des Herrn Abgeordneten Schiffer gegeben, er hat freilich außerdem bewiesen, dass er die Anträge Schiffer nicht verstanden hat, sonst hätte er seinen Einwand nicht dagegen erheben können.

Meine Herren, wenn gemeint worden ist, dass diese Anträge etwas zu weit gingen – ich bin der Ansicht, dass sie nicht weit genug gehen. Das sage ich nicht etwa um deswillen, weil ich mich als Sozialdemokrat verpflichtet fühle, immer weiter zu gehen als andere Parteien, sondern ich sage es um deswillen, weil ich bereits früher mir gestattet habe, in diesem Hause auf einige Missstände hinzuweisen, deren mindestens gleichzeitige Behebung sehr wichtig wäre, und was auch bei dieser Gelegenheit erörtert werden muss. Wenn in unserem Antrag 109 vom Jahre 1910 gefordert wird, dass die Verwaltungsverfügungen nur auf Grund eines geordneten Verfahrens, einer mündlichen Verhandlung erlassen werden sollen, so mag man sagen, dass das nicht unmittelbar hierher gehört, obwohl es wichtig und für die Herstellung einer wirklichen Fühlung zwischen dem Volk und der Verwaltung von entscheidender Bedeutung sein kann. Wenn gegenwärtig die Verwaltungsverfügungen auf den einzelnen Bürger herab sausen, ohne dass er weiß, wie die Behörde dazu kommt, ohne dass er ihre Motive erfährt, dann ist es ganz naturgemäß, dass er den Behörden und ihren Maßregeln mit der Fremdheit gegenübersteht, wie irgendeiner unverständlichen Naturgewalt. Wenn er aber die Möglichkeit hätte, Auge in Auge mit denjenigen, die die Verfügung gegen ihn treffen wollen, in einem geordneten Verfahren zu verhandeln, wenn die Motive aufgedeckt werden müssten, die das Vorgehen der Behörde veranlassen oder anregen, dann würde ganz zweifellos auf diese Weise nicht nur bewirkt werden, dass ein besseres Verständnis für die Maßregeln der Behörde herbeigeführt würde, sondern es würden außerdem auch wahrscheinlich sehr viele höchst sinnlose Verfügungen und dergleichen unterbleiben.

Meine Herren, aber besonders wichtig ist es, dass die Verwaltungsverfügungen auch mit einer Begründung versehen werden müssten; das ist eine Sache von außerordentlicher Bedeutung. Ich habe mich in der Verhandlung des Abgeordnetenhauses vom 6. Juni 1910 eingehend mit dieser Frage befasst. Von noch größerer Bedeutung und noch tiefer einschneidend als die Materie, über die wir heute sprechen, ist der Vorschlag, den wir damals machten, ganz allgemein zu bestimmen, dass der Rechtsweg über alle Verwaltungsmaßregeln eröffnet, dass schließlich der zivilrechtliche und strafrechtliche Konflikt beseitigt und damit eine der wesentlichsten Quellen für die Duplizität, für den Dualismus innerhalb unserer Rechtsprechung aus dem Wege geräumt werde. Unser damaliger Antrag ist einfach abgelehnt worden. Ich hoffe, dass die in ihm und in den zu seiner Begründung gemachten Ausführungen niedergelegten Gedanken in der Kommissionsberatung über die Anträge Schiffer mit Berücksichtigung finden werden.

Nun möchte ich die Anträge des Herrn Abgeordneten Schiffer ein wenig im einzelnen erörtern, und zwar zunächst den Antrag 635.1

Wenn Herr Abgeordneter Schiffer die Rechtsmittelbelehrung fordert, so ist das ein Verlangen, das meiner Ansicht nach nur auf das Allernachdrücklichste unterstützt werden muss. Meine Herren, es ist bereits bei früheren Gelegenheiten von mir darauf hingewiesen worden, wie wenig verständlich es ist, dass man hier die Rechtsmittelbelehrung nicht gewähren will, dass man allerhand Einwendungen kleinlichster Art dagegen erhebt, während wir doch auf vielen Gebieten die Rechtsmittelbelehrung bereits vorgeschrieben haben. Ich erinnere nur, wie bereits früher, an die polizeilichen Strafverfügungen, ich erinnere an die zahlreichen Verfügungen und Urteile, die in der Arbeiterversicherungsgesetzgebung vorkommen. Dort hat sich die Rechtsmittelbelehrung zweifellos bewährt und als sehr wertvoll erwiesen.

Meine Herren, wenn demgegenüber eingewandt wird, die Rechtsmittelbelehrung würde nur eine Anregung zum Querulieren bedeuten, so möchte ich diesen Einwand zunächst darum auf das Schärfste zurückweisen, weil er schließlich von dem Gedanken ausgeht, dass die Staatsverwaltung oder, ich weiß nicht, wer sonst, von der Rechtsunkenntnis der Bevölkerung nach Möglichkeit profitieren müsse. Es kann doch wahrlich nicht erwünscht sein, dass nur um deswillen ein Rechtsmittel unterbleibt, weil der Berechtigte es nicht kennt. Ich halte es geradezu für verwerflich, aus einem solchen Gedanken heraus die Bevölkerung in überlegter Weise in Rechtsunkenntnis halten zu wollen, bloß weil man denkt, wenn sie wüsste, welche Rechte sie hat, würde sie uns vielleicht noch etwas unbequemer werden. Meine Herren, das sind bürokratische Staatshämorrhoidalbeschwerden, aus der Psychologie irgendwelcher überheblicher Verwaltungsbeamten heraus, die fürchten, durch ein allzu lebendig nach seinem Rechte greifendes Publikum in ihrer Ruhe gestört zu werden. Wir denken: Das Recht populär machen heißt in erster Linie, dem Volke klarmachen, welche Rechte es besitzt, und jedes Mittel muss ausgenützt werden, um das Volk über sein Recht aufzuklären. Das ist ein nobile officium. Meine Herren, wer leidet denn in erster Linie unter der Rechtsunkunde? Ich bin fest überzeugt, dass wir den Antrag Schiffer hier nicht bekommen hätten, wenn sich die Schwierigkeiten nicht schon bis in die obersten Klassen, bis in die Klassen der Besitzenden hinein erstreckten; aber seit jeher leidet unter diesen Zuständen die ganze große Masse der Bevölkerung, deren Bildung und deren materielle Mittel nicht hinreichen, um sich bei der Unklarheit unserer Verhältnisse den genügenden Rechtsschutz zu sichern. Es ist also in erster Linie ein Interesse der breiten Masse der Bevölkerung, das gerade hier geschützt werden muss, und das zu schützen, wie ich noch einmal hervorheben will, ein nobile officium sein sollte.

Meine Herren, ich darf darauf hinweisen, dass die Rechtsmittelbelehrung ja auch bereits in mehreren deutschen Bundesstaaten vorgeschrieben ist, und wie ich neulich schon erwähnte, kommt die Rechtsmittelbelehrung sogar bei uns in Preußen in gewissen Gebieten vor. In gewissen schlesischen Gebieten habe ich sie zum Beispiel erlebt. Ich glaube doch wahrlich, das beweist, wie unbegründet – ganz abgesehen von ihrer hochgradigen Unvornehmheit – derartige Einwendungen sind.

Herrn Abgeordneten Schiffer möchte ich aber noch das eine sagen. Als ich bei Beratung des Wassergesetzes beantragte, dort die Rechtsmittelbelehrung vorzuschreiben, haben die Herren von der Nationalliberalen Partei diesem meinem Vorschlag nicht zugestimmt, und zwar, weil die Anträge Schiffer gegenwärtig schwebten. Ja, es will mir durchaus nicht in den Kopf, weshalb eine solche spezielle Regelung nicht möglich gewesen wäre. Es ist sehr zweifelhaft, wann aus diesen Anträgen Schiffer etwas herauskommt, wenngleich ich die lebhafte Hoffnung hege, dass etwas dabei herauskommt. In das Wassergesetz hätte unmittelbar praktisch etwas hineingesetzt werden können, was dem Bedürfnis der Bevölkerung entspricht; aber da haben die Herren Nationalliberalen bedauerlicherweise versagt.

Meine Herren, die geringen Bemängelungen, die von Herrn Abgeordneten Bell gegen den Antrag 635 erhoben worden sind, will ich hier nicht näher erörtern; zu einem Teil mögen sie erwägenswert sein, aber sie spielen im Verhältnis zu dem Wesentlichen, um das es sich hier handelt, eine sehr geringe Rolle.

Der Antrag 635 betrifft das Formale, das der Herr Abgeordnete Schiffer anstrebt.

In das Materielle will er eingreifen durch die Anträge 640 und 20. Der Antrag 6402 kann natürlich nur die vollste Sympathie finden, selbst dann, wenn er in der Beschränkung verstanden sein sollte, dass er sich nur beziehen soll auf die Verwaltung, auf den Rechtsstoff über die Verwaltung und den, den die Verwaltung an Polizeiverordnungen usw. geschaffen hat. Dass die Kommission, die von der Staatsregierung einzusetzen sein würde, nicht ohne weiteres legislative Funktionen haben würde, darüber braucht man sich nicht lange zu streiten. Aber die Ausscheidung veralteter und die Klarstellung zweifelhafter Bestimmungen, die Zusammenfassung verstreuter und die Vereinheitlichung gleichartiger Vorschriften, das sind doch alles Dinge, die, soweit es sich um Polizeiverordnungen handelt, von der Regierung unmittelbar gemacht werden können. Es ist ja in unserem Gesetz über die Polizeiverordnungen den Zentralbehörden überall das Recht gegeben, auch in das Verordnungsrecht der unteren Instanzen einzugreifen, und insoweit ist zweifellos in den Händen der Regierung die Fähigkeit und das Recht, auch auf eine Vereinheitlichung unmittelbar hinzuwirken. Natürlich, wenn der Antrag so allgemein verstanden wird, wie er von dem Abgeordneten Dr. Bell verstanden ist, dann würde er etwas zu weit greifen, dann würde zu einem großen Teil nur in Frage kommen, dass die Kommission Anregungen gibt, nach den verschiedenen gesetzgebenden Instanzen hin, dass, soweit deren Eingreifen erforderlich ist, von ihnen auf die Vereinheitlichung und Klarstellung hingewirkt werde. Das wäre aber auch eine durchaus wichtige Funktion, und insofern wäre der Grundgedanke des Antrages auch insoweit durchaus zu bewillkommnen.

Wenn der Herr Abgeordnete Schiffer in diesem Zusammenhang auf die besonderen Schwierigkeiten hingewiesen hat, die das Schiffergewerbe in Bezug auf die Polizeiverordnungen betreffen, so kann ich dem nur energisch beistimmen. Ich darf bemerken, dass ich gerade in Bezug auf diese Verhältnisse der Schiffer bereits dreimal in diesem Hause mit aller Schärfe meine Stimme erhoben habe, ohne dass, soviel ich weiß, bisher von der Staatsregierung auch nur das Allergeringste unternommen worden ist. Ich hoffe, dass, nachdem jetzt von einer weniger verdächtigen Seite die gleichen Bedenken erhoben worden sind, die Staatsregierung sich zu einem energischeren Vorgehen entschließt.

Juristisch am interessantesten ist der Antrag 20, der sich auf die Frage der Lebensdauer der Polizeiverordnung erstreckt, und das erste Mal mit dem Grundsatz der Vererblichkeit in infinitum, der Unsterblichkeit der Polizeiverordnungen brechen will. Auf die Gesetze bezieht sich der Antrag nicht, aber es wäre ganz gut, wenn auch in Bezug auf sie eine ähnliche Bestimmung zustande käme, und alle Gesetze in ihrer Geltung dann limitiert würden. Der Antrag des Herrn Abgeordneten Schiffer – ich hätte beinahe gesagt des Genossen Schiffer, denn dieser Antrag ist mir so sympathisch, dass ich mich nur mit großer Schwierigkeit von dem Gedanken frei machen kann, dass der Abgeordnete Schiffer zu unserer Partei gehört –, dieser Antrag ist in allen seinen Teilen meiner Ansicht nach durchaus begrüßenswert; nur geht er nicht soweit, wie es wünschenswert wäre. Wenn der Abgeordnete Schiffer 25 Jahre wünscht, der Abgeordnete Dr. Bell 30 Jahre, der Abgeordnete Dr. Ehlers 15 oder vielleicht 20 Jahre, so gestatte ich mir als begehrlicher Sozialdemokrat 10 Jahre für ausreichend zu halten3, dann würde sich der Radikalismus der verschiedenen Parteien in dieser Zahlenskala ausdrücken.

Der Paragraph 1 und folgende greifen die Popularklage auf. Dass das ein glücklicher Gedanke ist, ist nicht weiter zu erörtern. Ich habe versucht, beim Wassergesetz einen Antrag durchzubringen, der gleichfalls eine Popularklage vorsah, er wurde mit Nichtachtung behandelt und selbstverständlich abgelehnt. Die Popularklage, die hier vorgeschlagen wird, geht noch weiter als die Popularklage, die von mir beim Wassergesetz vorgeschlagen war. Ich hatte damals vorgeschlagen, ein Klagerecht nur demjenigen zu verleihen, der „betroffen" sei, der an der Klage ein rechtliches Interesse habe. Ich bin fest überzeugt, schon wenn man mit einer derartigen Einschränkung den Gedanken des Paragraphen 1 des Antrags Schiffer zur Durchführung bringen würde, bereits dann wäre ein wesentlicher Schritt der Besserung getan. Aber ich halte es durchaus nicht für bedenklich, in dem weiten Umfange die Popularklage zu gewähren, wie das der Paragraph 1 des Antrags Schiffer vorschlägt.

Es muss noch auf etwas hingewiesen werden, was weder der Abgeordnete Schiffer noch ein anderer der Herren Vorredner erwähnt hat. Der Abgeordnete Schiffer meinte, es sei ein besonderer Missstand, dass, wenn man heute eine Polizeiverordnung los werden wolle, man sich unserer Kriminaljustiz oder der Verwaltung als Objekt anbieten müsse, damit im Kriminalverfahren eventuell im Verwaltungsstreitverfahren über die Rechtsgültigkeit entschieden werde. Das ist noch gar nicht einmal alles. Die Sache liegt doch so, dass wir überhaupt ein wirkliches Für-ungültig-erklären von Polizeiverordnungen gar nicht kennen. Wenn das Kammergericht, das Reichsgericht, wenn das Oberverwaltungsgericht irgendeine Polizeiverordnung für ungültig erklären, dann heißt das bloß, sie wird für ungültig erklärt für diesen speziellen Streitfall, aber die Verwaltungsbehörden sind nicht die Spur gebunden, sich an diese Gerichtsentscheidung zu kehren. Wir haben es wiederholt erlebt, dass von den ordentlichen Gerichten Polizeiverordnungen oder gewisse Bestimmungen darin für ungültig erklärt worden sind und dass sich die Polizeiverwaltungen daran absolut nicht gekehrt haben.

An diesem Antrag des Abgeordneten Schiffer ist also – außer dem Vorschlage eines bestimmten Verfahrens, das den Einzelnen der Notwendigkeit enthebt, sich selbst als Objekt der Straf- und Verwaltungsjustiz preiszugeben, abgesehen davon, dass für die Polizeiverordnungen eine begrenzte Lebensdauer geschaffen werden soll – besonders begrüßenswert, dass überhaupt eine Rechtsinstitution vorgeschlagen wird, durch die es ermöglicht wird, über die prinzipielle Frage der Gültigkeit oder Ungültigkeit einer Polizeiverordnung zu entscheiden mit einer für die Verwaltungsbehörde bindenden Kraft, die trotz all der verschiedenen Methoden, die Rechtsgültigkeit anzufechten, bisher gänzlich fehlt.

Ich betone aber nochmals meine Überzeugung, dass weder die Annahme eines derartigen Gesetzentwurfs noch der übrigen Anträge Schiffer, noch die Durchführung ihrer Gedanken geeignet sein werden, den Druck von der Seele des Volkes zu nehmen, der auf dem Volk ruht infolge einer Verwaltung und Rechtsprechung, die das Volk nicht versteht und die das Volk als etwas Feindliches, als etwas Schädliches empfindet. Um diese Wirkung zu erzielen, müssten ganz andere Reformen, die in die Grundlagen des heutigen staatlichen und sozialen Wesens eingreifen müssten, vorgenommen werden. Aber immerhin lässt sich nicht bestreiten, dass diese Anträge wertvolle Gedanken enthalten und dass sie mindestens dasjenige Bestreben zeigen, das wir auf das lebhafteste begrüßen: alle Kleinlichkeit der Polizeiwirtschaft beiseite zu setzen und großzügig heranzugehen an die Regelung der Verwaltung des Staatswesens. Und wenn auch die Verwaltung des preußischen Staatswesens trotz alledem eine reaktionäre, eine volksfeindliche Verwaltung bleiben wird, die Verwaltung eines kapitalistischen Staatswesens, das noch dazu aufgebaut ist auf dem Dreiklassenwahlrecht, wenn also durch diese Anträge nicht an die Wurzeln gegriffen wird, so kann doch immerhin auf diese Weise mancherlei Gestrüpp aus dem Wege geschafft werden, das dem Volke im Wege ist, und deshalb können wir unsere Zustimmung zu den sämtlichen Anträgen und auch zur Kommissionsberatung geben.

(„Bravo!" bei den Sozialdemokraten.)

1 Antrag 635: „Alle von Behörden oder Beamten ergehenden Entscheidungen, Bescheide, Beschlüsse, Anordnungen, Verbote und anderweiten Verfügungen, deren Anfechtung an die Innehaltung einer Frist gebunden ist, müssen am Schluss die Eröffnung enthalten, innerhalb welcher Frist, in welcher Form und bei welcher Stelle die Anfechtung anzubringen ist. Fehlt die Eröffnung, oder ist sie unvollständig oder unrichtig, so beginnt die Frist erst zu laufen, sobald sie nachgeholt, ergänzt oder berichtigt ist; in den beiden letzteren Fällen jedoch nur dann, wenn inzwischen eine Anfechtung erfolgt ist, die den in der Eröffnung gegebenen Weisungen genügt." Die Red.

2 Antrag 640: „Das Haus der Abgeordneten wolle beschließen: die Königliche Staatsregierung zu ersuchen, unverzüglich eine Sammlung und Sichtung des vorhandenen Rechtsstoffes zu veranlassen, um durch Ausscheidung veralteter, Klarstellung zweifelhafter, durch Zusammenfassung zerstreuter und durch Vereinheitlichung gleichartiger Vorschriften einen möglichst zeitgemäßen, sicheren, übersichtlichen und einfachen Rechtszustand herbeizuführen." Die Red.

3 In Paragraph 1 des Antrags 20 hieß es: „Auf Feststellung der gänzlichen oder teilweisen Rechtsungültigkeit einer Polizeiverordnung kann Klage beim Oberverwaltungsgericht erhoben werden." Paragraph 4 enthielt die Forderung, die Rechtswirksamkeit einer Polizeiverordnung auf 25 Jahre zu begrenzen. Die Red.

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