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Karl Liebknecht 19130417 Mächte der Finsternis im preußischen Kultusministerium

Karl Liebknecht: Mächte der Finsternis im preußischen Kultusministerium

Rede im preußischen Abgeordnetenhaus in der dritten Lesung des Kultusetats

[Nach Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Preußischen Hauses der Abgeordneten, 21. Legislaturperiode, V. Session 1912/15, 10. Bd., Berlin 1913, Sp. 14.481-14.488 und nach Karl Liebknecht, Gesammelte Reden und Schriften, Band 6, S. 215-227]

Meine Herren, die Königliche Bibliothek wäre wohl ein Gegenstand, über den man sich eingehender unterhalten könnte; ich will mich aber in diesem Moment nicht damit befassen. Ich will mich auch nicht eingehender mit den Beschwerden befassen, die der polnische Redner erhoben hat und die meiner Ansicht nach im Wesentlichen vollkommen begründet sind und beweisen, wie unsere Kultusverwaltung ihres Amtes unter Außerachtlassung der Verpflichtung der Gerechtigkeit waltet.

Ich möchte mich mit der Schulaufsicht und im Speziellen mit der Rechtsprechung des Reichsgerichts zu den Schulaufsichtsmaßnahmen der preußischen Staatsregierung befassen. Wir haben über diese Dinge wiederholt verhandelt, und es hat zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen mir und dem Herrn Kultusminister geführt. Ich habe die schwersten Vorwürfe gegen den Herrn Kultusminister erhoben, von denen ich selbstverständlich nicht Veranlassung habe, auch nur einen einzigen zurückzuziehen.

Meine Herren, allerdings hat sich die Situation für den Herrn Kultusminister rein formal jetzt günstiger gestaltet. Wir waren in der letzten Zeit in der Lage, uns bei unseren Angriffen gegen den Herrn Kultusminister zu stützen einmal auf den, wie uns scheint, immerhin klaren Wortlaut der Kabinettsorder von 1834 und der dazu ergangenen Anweisung, die eine derartige Handhabung, wie sie bei uns in Preußen Gang und Gäbe ist, schlechterdings ausschließt. Wir konnten so auch mit einer leichten Handbewegung jene Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts abschütteln, die ohne jeden Grund, der auch nur bei den bescheidensten Ansprüchen für genügend erachtet werden konnte, den Begriff der Gewerbsmäßigkeit aus der Kabinettsorder heraus interpretiert hat mit einer Jongleurkunst, die in der Tat ihresgleichen sucht. Wir konnten uns aber darüber hinaus auf eine Entscheidung des Reichsgerichts vom 28. Juni 1910 in einer Strafsache gegen Weber und Wildung berufen. Das Reichsgericht hat damals den Standpunkt, den wir einnahmen, mit einer etwas anderen Formulierung im Wesentlichen gebilligt. Es hat anerkannt, dass nur insoweit ein Eingriff der Aufsichtsbehörde zulässig sei, als entweder eine Schulpflicht bestünde oder darüber hinaus eine Art Ersatzunterricht, indem Privatunterricht geboten werde unter Berücksichtigung der Lebensverhältnisse. Das läuft ja im Schlussresultat für die Masse der Bevölkerung, von der wir insbesondere zu sprechen haben, darauf hinaus, dass die Schulaufsicht nichts mehr mitzureden hat, nachdem die staatliche Schulpflicht aufgehört hat.

Meine Herren, diese Entscheidung des Reichsgerichts ist von der preußischen Staatsregierung missachtet worden. Die Staatsregierung hat sich damit begnügt, nach längerer Zeit – nach dreiviertel Jahren, wie wir feststellen konnten –, ein Zirkular an die Schulaufsichtsorgane zu erlassen, in dem aber auch keineswegs eine Nachachtung der Reichsgerichtsentscheidung anempfohlen, vielmehr nur eine andere Art der Interpretation durch das Kultusministerium unternommen wurde. Diese Interpretation hat der Kultusminister uns hier zum besten gegeben. Sie lief darauf hinaus, dass nunmehr unter Voraussetzung des Begriffs „Ersatzunterricht" auch der Fortbildungsschulunterricht herangezogen werden solle und das fortbildungsschulpflichtige Alter als das der Schulaufsicht unterstehende Alter in Anspruch zu nehmen sei. Meine Herren, es war ausgeschlossen, gegenüber dieser Praxis des Kultusministeriums mit irgendwelchen Gründen der Logik – selbstverständlich, von Gründen der einfachen Gerechtigkeit, des gesunden Menschenverstandes kann man auf diesem Gebiet gar nicht reden – gegen diesen Standpunkt anzukämpfen. Es hatte gar keinen Sinn darzulegen, dass doch ein Ersatzunterricht im Sinne des Fortbildungsschulunterrichts nur dort in Frage kommen kann, wo Pflichtfortbildungsschulen bestehen, und dass dieser Ersatzunterricht nur in Bezug auf solche Unterrichtszweige in Betracht kommen kann, die wirklich in der Fortbildungsschule, und zwar obligatorisch, nicht fakultativ gelehrt werden, jedenfalls aber überhaupt gelehrt werden müssen.

Auf alle diese Einwendungen ist der Herr Kultusminister nicht eingegangen. Er hat es ja nicht nötig, Rede und Antwort zu stehen, er ist souverän, er ist Despot auf seinem Gebiete. Es gibt gar keine Rechtskontrolle seiner Maßregeln, und wir haben dulden müssen, dass in Orten, in denen es überhaupt keine Fortbildungsschule gibt, oder wo, soweit Fortbildungsschulen bestehen, der betreffende Unterrichtszweig in der Fortbildungsschule überhaupt nicht gelehrt wird, der Kultusminister trotz alledem unter Heranziehung, man kann beinahe sagen, Missbrauch des Begriffs „Ersatzunterricht" die Schulaufsichtsmaßregeln ergriffen hat. Ich darf weiter darauf hinweisen, dass der Herr Kultusminister es auch dort, wo die Schulpflicht nur bis zum 17. Lebensjahr dauert, als selbstverständlich in Anspruch genommen hat, bis zum 18. Lebensjahr, also darüber hinaus, seine Aufsicht auszuüben, was in der Tat auf eine Vergewaltigung der Arbeiterbildungsbestrebungen hinausläuft.

Nun hatte der Herr Kultusminister gegenüber dem Reichsgerichtsurteil und gegenüber dieser Rechtslage, nach dem von ihm eingenommenen Rechtsstandpunkt, wahrlich keine leichte Position. Es war ja klar für jeden, der nicht absichtlich blind sein wollte, dass dieses Verhalten des Kultusministers mit dem Standpunkt des Reichsgerichts im Widerspruch stand. Wenn schon das Reichsgericht einmal der Rechtsauffassung, die von einer oppositionellen Partei vertreten wird, in wesentlicher Beziehung recht gibt, dann ist das natürlich für uns nicht erst ein Beweis dafür, dass unsere Rechtsauffassung richtig ist, aber es ist ein schlagender Beweis dafür, dass die Gründe für die Richtigkeit unserer Auffassung so deutlich vor Augen liegen, dass selbst bei dem begrenzten Klassenstandpunkt, den naturgemäß die Richter im heutigen Staat einnehmen, die Berechtigung unserer Argumentation nicht verkannt werden kann. Das war das Unangenehme für die Position des Herrn Kultusministers. Er fürchtet sich aber nicht vor dem Reichsgericht, denn er weiß von seinem Kollegen aus dem Ministerium des Innern, dass man noch längst nicht die Waffen vor dem Gericht zu strecken braucht, denn für den preußischen Minister des Innern gelten preußische Gerichte nichts, und mögen es die höchsten sein. Wie oft hat nicht der Minister des Innern es sich bereits gefallen lassen müssen, dass das Kammergericht ihn selbst desavouiert hat, zum Beispiel in der Frage des Streikpostenstehens und in vielen anderen Dingen. Aber der Minister des Innern forcht sich nit, er ist tapfer darauf losgegangen und hat die Judikatur des Kammergerichts durch seinen Ansturm über den Haufen geworfen. Der Herr Kultusminister kann auch, was der Minister des Innern kann. Er hat das Reichsgericht von Neuem bemüht, und das Reichsgericht hat eine Entscheidung gefällt, die Ihnen allen aus der Presse bereits bekannt ist, die nicht nur dem Herrn Kultusminister recht gibt, sondern darüber hinaus ein Gnadengeschenk des Reichsgerichts an die preußische Kultusverwaltung darstellt, ihr Pleinpouvoir gibt, ihr die Jugend mit Haut und Haar einfach auf Gnade und Ungnade hilflos ausliefert. Meine Herren, die Entscheidung des Reichsgerichts in der Strafsache gegen den Zahnarzt Jonathan Smith ist ergangen, nachdem die vereinigten Strafsenate ihr Votum abgegeben hatten, da der dritte Strafsenat seine Neigung von der Ansicht des zweiten Senats abzuweichen zum Ausdruck gebracht hat. Diese Entscheidung des Reichsgerichts, der Beschluss der vereinigten Zivilsenate, ist in der Art seiner Begründung in so hohem Maße charakteristisch, dass es notwendig ist, auf einige Teile der Begründung einzugehen.

Das Reichsgericht bemerkt zunächst einmal, als das Allgemeine Landrecht erlassen worden sei, habe man noch keineswegs daran gedacht, die öffentlichen Schulen als die Regel zu betrachten, und deshalb auch nicht daran gedacht, den Privatunterricht im Sinne nur eines Ersatzunterrichts aufzufassen. Infolgedessen müsse der Begriff des Ersatzunterrichts als der Entstehungsgeschichte des Gesetzes zuwiderlaufend hier abgelehnt werden. Wenn dieser historische Grund auch eine gewisse Berechtigung haben mag für die Entstehung des Allgemeinen Landrechts, so hat er im Übrigen natürlich keine Berechtigung für diejenigen Interpretationsmaterialien, die wir nun heranziehen. Das Reichsgericht findet sich in der entscheidenden Frage kurz mit einigen allgemeinen Redensarten ab und weist nur darauf hin, dass offenbar der Grundgedanke der betreffenden Kabinettsorder in Übereinstimmung mit den früheren Bestimmungen des Allgemeinen Landrechts dahin gegangen sei, dass die Jugend geschützt werden solle vor schädlichen Einflüssen. Das Reichsgericht sagt wörtlich folgendes:

Besteht der Zweck des Gesetzes nicht sowohl in der Verhinderung eines unzulänglichen, hinter dem Bildungsgrade der öffentlichen Schulen zurückbleibenden Privatunterrichts als vielmehr in dem Schutze der Jugend vor den Gefahren eines schädlichen Unterrichts und der Einwirkung übelgesinnter Lehrer, so führt auch dieser Zustand zu einer Gesetzesauslegung, die der Auffassung des zweiten Strafsenats entgegenläuft. Stellt Paragraph 8 eine Maßregel zur Erhaltung des äußeren.und inneren Wohls der Jugend dar, so wäre es mit der Erfüllung dieser Aufgabe schlechthin unvereinbar, den Privatunterricht, soweit er nicht zum Ersatze des Schulunterrichts dient, aus dem Bereich der staatlichen Fürsorge auszuscheiden. Noch weniger kann der Staat, wenn er durch Fernhaltung ungeeigneter und schädlicher Elemente von Ausübung der Lehrtätigkeit der Jugendverführung vorbeugen will, denjenigen Teil der jugendlichen Bevölkerung schutzlos lassen, der unmittelbar von der Volksschule vor Vollendung der körperlichen und geistigen Entwicklung ins tätige Leben tritt und in Ermangelung eines häuslichen Gegengewichts am wenigsten in der Lage sein wird, der Verführung Widerstand zu leisten. So folgt aus dem Zweck des Gesetzes, dass zur Jugend im Sinne der preußischen Bestimmungen über den Privatunterricht alle diejenigen Personen gehören, die in einem noch schutzbedürftigen Alter Privatunterricht erhalten, ohne Rücksicht darauf, ob sie nach dem regelmäßigen Lauf der Dinge eine öffentliche Schule besuchen würden oder als Ersatz hierfür sich den Privatunterricht erteilen lassen."

Diese Begründung ist in hohem Maße verwerflich, sachlich verwerflich und verwerflich nach der sittlichen Grundauffassung, von der hierbei ausgegangen ist. Hier wird mit dem Wort „Jugendverführung" operiert; zweimal gebraucht das Reichsgericht das schwere Wort Jugendverführung, um als den Zweck der Kabinettsorder die Verhinderung der Jugendverführung zu bezeichnen.

Um was handelt es sich hierbei? Das Reichsgericht weiß ganz genau, dass eine Jugendverführung in dem Sinne, in dem dieses Wort gebraucht zu werden pflegt, nicht in Frage steht. Das Reichsgericht weiß ganz genau, dass es sich vielmehr darum handelt, der Jugend in körperlicher und geistiger Beziehung eine größere Selbständigkeit, einen festeren inneren Halt zu gewähren, und sie damit vor denjenigen sittlichen Gefahren, die man im allgemeinen unter dem Begriff der Verführung fasst, zu sichern und zu schützen. Das Reichsgericht weiß das ganz genau und entblödet sich trotz alledem nicht, hier von Jugendverführung zu sprechen. Das Reichsgericht weiß ganz genau, so gut wie der Herr Kultusminister, dass, wenn irgendwo von Verführung die Rede ist, dies Wort gemeint ist im Sinne der politischen Verführung, nicht im Sinne einer sittlichen Verführung der Jugend. Das Reichsgericht hat also, indem es dieses Wort von der Jugendverführung hier aufgenommen hat, die Verhinderung der politischen Verführung der Jugend unter diesen Begriff einzuschmuggeln und damit den Anschein zu erwecken gesucht, als ob seine Entscheidung nicht eine rein politische Entscheidung wäre, getragen von der wohlüberlegten Absicht der höchsten deutschen Richter, der Arbeiterklasse in ihrem Befreiungskampf, in ihrem geistigen und sittlichen Emanzipationskampf in die Arme zu fallen und der preußischen Kultusverwaltung beizustehen in ihren Kämpfen, die geführt werden im Namen der „Mächte der Finsternis", die im preußischen Kultusministerium verkörpert sind.

Was an diesem Reichsgerichtsurteil besonders empört, ist nicht so sehr das Schlussresultat; denn wir sind daran gewöhnt, dass das Reichsgericht schließlich ad nutum der Staatsräson urteilt.

(Rufe bei den Freikonservativen: „Unerhört!")

Wir wissen aber des weiteren, meine Herren, dass der Regel nach doch wenigstens versucht wird, Begründungen zu finden, die sich in irgendeiner Weise halten lassen, und juristische Verbrämungen zu finden für die politische Tendenz irgendwelcher Urteile. Hier hat das Reichsgericht, indem es das Wort „Verführung" aufgreift, eine Art der Begründung gefunden, die zu der rechtlichen Unhaltbarkeit seiner Entscheidung noch den Spott, geradezu den Hohn gegen die Emanzipationsbewegung des Proletariats fügt. Es wird verschleiert, dass eine rein politische Tendenz in diesem Urteil steckt, eine politische Tendenz allerbedenklichster und allerbedauerlichster Art.

Nun, meine Herren, die „Schutzbedürftigkeit" soll maßgebend sein. Was ist nun schutzbedürftig? Darüber wird die Staatsverwaltung zu entscheiden haben. Es gibt ja keinen Richter über die Kultusverwaltung. Der Kultusminister ist souverän und kann für schutzbedürftig erklären, was er für schutzbedürftig erklären will, und kein Mensch kann ihm dazwischenreden. Das ist Recht in Preußen! Was heißt „schutzbedürftiges Alter" nach den Mitteilungen, die wir schon jetzt haben? Bei der Verhandlung in der Strafsache gegen Smith vom 20. Februar 1913 hat der Reichsanwalt in seinem Plädoyer folgendes erklärt:

Was den Begriff ,Jugend' anbelangt, so könne der dritte Senat denselben noch schärfer präzisieren, als es in dem Plenarbeschluss geschehen sei. Insbesondere könne der Senat eine Altersgrenze festsetzen. Notwendig sei dies jedoch nicht, da Personen unter 18 Jahren, die hier in Frage kämen, jedenfalls zur Jugend gehören. Die preußische Regierung, deren Anschauung natürlich für das Gericht nicht maßgebend sei, sei der Meinung, dass es von Fall zu Fall entschieden werden müsse, was Jugend sei. Gegebenenfalls könnten auch Studenten, die großjährig wären, dazu gerechnet werden.“

(„Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

Meine Herren, daraus geht hervor, dass der Reichsanwalt mit der preußischen Regierung über diese Angelegenheit konferiert hatte, dass er also als ausführendes Organ der preußischen Regierung bei diesem Akt der Rechtspflege mitgewirkt hat. Ich weiß nicht, inwieweit nicht dem Beschluss der vereinigten Strafsenate auch solche Verhandlungen vorausgegangen sind. Nach Vorgängen, die ich vom Oberverwaltungsgericht her glaube als möglich ansehen zu dürfen, wird man damit rechnen können, dass auch die vereinigten Strafsenate, bevor sie sich entschieden haben, sich Material von der preußischen Staatsregierung haben geben lassen und deren Meinungsäußerungen über diesen Punkt eingezogen haben. Wie dem aber auch sei: Die Entscheidung des Reichsgerichts liegt vor, und sie ist weit über alles Erwarten des Herrn Kultusministers ausgefallen. Er kann nur sagen: Gelobt sei das Reichsgericht in alle Ewigkeit.

Aber, meine Herren, wenn das Reichsgericht hier in seinem Urteil die Beschimpfung der Sozialdemokratie und aller selbständigen Bewegung des Proletariats, der Arbeiterklasse, aufnimmt, wenn es sie als etwas bezeichnet, was eine Verführung darstelle, wogegen mit staatlichen Maßnahmen eingeschritten werden solle – gegenüber dieser Beschimpfung der Arbeiterklasse erheben wir auf das schärfste Protest, und wir betonen und haben das Recht, gegenüber diesem Standpunkt zu betonen, dass wir es vielmehr als eine Regierungsmaxime insbesondere Preußens betrachten, die Jugend politisch zu verführen, politisch zu ihrem Schaden zu beeinflussen im Interesse der herrschenden Klassen, und dass man, wenn man überhaupt einmal an diese Art der politischen Maßregeln den Maßstab der Sittlichkeit anlegen will, dann von sittlichen Regierungsmaximen doch wohl nicht wird sprechen können. Meine Herren, wir weisen diese Bemerkungen des Reichsgerichts mit derselben inneren Sicherheit zurück, mit der wir uns gegenüber den merkwürdig grotesk anmutenden Entscheidungen des Oberverwaltungsgerichts verhalten konnten, nach denen ein Sozialdemokrat schon um deswillen, weil er Sozialdemokrat ist, die sittliche Qualifikation zum Erteilen von Unterricht nicht besitzen soll. Meine Herren, dass die Sozialdemokratie solche Auffassungen der Klassenjustiz niemals als für sich beleidigend, ich meine, niemals ernstlich ihre Ehre tangierend betrachten kann, dass sie sie immer nur als neue Beweise erkennt für die unglaubliche Beschränktheit in Klassenvorurteilen und für den Übermut der herrschenden Klassen in Preußen, das haben wir Ihnen ja oft genug deutlich gemacht.

Das einzige Fazit, das wir aus dieser Reichsgerichtsentscheidung ziehen können, ist: Sie haben die Macht in den Händen, die Macht, die Sie ja schon ausgeübt haben, als sie vom Reichsgericht noch als ungesetzlich bezeichnet war – und nun haben Sie die Möglichkeit, mit dem Stempel der Gesetzlichkeit, der Ihnen vom Reichsgericht in die Hand gedrückt worden ist, diese Macht auszuüben. Aber auch dadurch ist diese Macht noch nicht Recht geworden, und diese Maßregeln der Schulaufsichtsbehörden werden nach wie vor aufreizend wirken und werden in erhöhtem Maße dazu beitragen, dass Sie an dieser Sorte von Jugendpflege keine Freude haben werden, dass die Früchte von uns eingeheimst werden. Wir werden alles dazu tun, dass die Früchte für uns möglichst reichlich ausfallen und dass Sie möglichst blamiert werden bei Ihrem großen Kampf um die Seele der proletarischen Jugend.

Aber, meine Herren, nun sehen Sie aus dieser Reichsgerichtsentscheidung, dass auch die Studenten von der preußischen Kultusverwaltung für schutzbedürftig gehalten werden, dass also die Unterrichtserlaubnisscheine auch für Unterricht an Studenten gefordert werden und dass die Studenten, wenn sie Vorträge anhören, irgendwo, in irgendeiner Versammlung, künftig nicht mehr ohne weiteres dem Zuge ihres Herzens werden folgen dürfen, sondern dass dann der betreffende Vortragende oder Redner einen Unterrichtserlaubnisschein haben muss. Meine Herren, das ist ja außerordentlich ehrenvoll für die preußische Universitätsjugend, von der Staatsregierung ihre Schutzbedürftigkeit bescheinigt zu bekommen. Sie verwenden ja schon die Gymnasiasten, die Universitätsjugend zu Schlepperdiensten bei den Wahlen. Sie benutzen sie zur politischen Agitation, als Mitglieder in den Flottenvereinen1, zu allen möglichen Dingen. Aber selbstverständlich, „schutzbedürftig" ist die Jugend. Aus welchem Grunde? Damit die Regierung in der Lage ist, alle unliebsamen Strömungen in der studentischen Jugend noch bequemer überwachen zu können, als es ihr bisher mit dem Mittel der Universitätsdisziplin möglich war. Meine Herren, die Universitätsdisziplin könnte unter Umständen versagen. Das ist nämlich des Pudels Kern. Bisher haben die Universitäten nur die freistudentische Bewegung und die Finkenschaft2 bewachen können, soweit es sich um Veranstaltungen der Studentenschaft als solche handelte, sie waren aber nicht in der Lage zu verhindern, dass außerhalb der Universitäten stehende Personen Kurse und Vorträge einrichteten. Nun ist offenbar hier der Weg gefunden, der es der Staatsregierung ermöglichen soll, auch zu verhindern, dass außerhalb der Universitäten die Studenten irgendwelche unliebsame politische oder sonstige geistige Beeinflussungen erfahren können. Das ist charakteristisch. Der Geist der Karlsbader Beschlüsse mit seiner ganzen Demagogenriecherei, mit seiner Hatz gegen jeden freien Geist in der Studentenschaft, er ist lebendig in dieser Entscheidung des Reichsgerichts. Und, meine Herren, allein damit schon sind die allerschlimmsten Angriffe, die wir gegen den Geist der preußischen Kultusverwaltung, speziell gegen die Universitätsverwaltung, gerichtet haben, gerechtfertigt.

Meine Herren, man kann als Motto über diese Tragödie unserer Justiz – es ist eine Tragödie der Justiz, denn die Gerechtigkeit liegt am Boden – nicht setzen: fiat justitia et pereat mundus, sondern: pereat justitia fiat Judicium. Das ist das, was man von diesem Urteil des Reichsgerichts sagen kann. Meine Herren, es hat hier eine Dissonanz bestanden zwischen Justiz und Verwaltung. Ein Fall, in dem bei einer solchen Dissonanz die Verwaltung der Justiz nachgegeben hätte, ist mir aus der preußischen Geschichte nicht bekannt. Die Justiz hat sich bisher stets der Verwaltung schließlich gebeugt; so auch hier. Die Justiz ist eben der Verwaltung gegenüber der schwächere Teil, der minder selbstbewusste; und alle die logischen Gründe, die für die Aufrechterhaltung eines missliebig gewordenen Urteils sprechen, können niemals standhalten den starken Impulsen, die den Richtern von der Verwaltung aus im Sinne der Staatsräson gegeben werden, ohne dass sie sich natürlich der Regel nach dessen bewusst sind; das vollzieht sich zumeist unterhalb der Bewusstseinsschwelle. Wir können immerhin sagen: Das neue Reichsgerichtsurteil, das ist der Leichenstein für jenes Stück deutscher Justiz, deutscher Gerechtigkeit, an dem man sich nur genau zweieinhalb Jahre freuen konnte. Laudabiliter se subiecit – gegenüber der Kultusverwaltung. Das wird und darf der Herr Kultusminister vom Reichsgericht denken.

Meine Herren, gegen mich sind in der Presse schwere Angriffe gerichtet worden wegen meiner Bemerkungen über Münster. Der Rektor der Universität Münster hat sogar an mich geschrieben und mich um Auskunft gebeten über meine Quelle in Bezug auf die Unsittlichkeit unter der münsterschen Studentenschaft. Meine Herren, ich habe dem Herrn Rektor geantwortet, dass ich Angriffe gegen die sittliche Führung der münsterschen Studentenschaft überhaupt nicht erhoben habe, sondern nur die sittlichen Zustände in kleinen Städten im Gegensatz zu großen Städten erörtert habe, und zwar speziell an dem Beispiel von Münster, um darzutun, wie falsch es ist, größere Städte an und für sich wegen mangelnder sittlicher Qualifikation für minder geeignet für Universitäten zu halten. Damit könnte dieser Punkt erledigt sein. Aber in der katholischen Presse, in der Zentrumspresse, wird gegen mich gehetzt. Besonders in Münster werden meine Bemerkungen als ganz besonders beleidigend für Münster verschrieen. Ich glaube, meine Worte so gefasst zu haben, dass daran in der Tat nichts auszusetzen ist. Ich habe meine Worte so gefasst, dass sie jeder persönlichen Spitze entbehrten, dass sie nur die Bedeutung der Feststellung einer gewissermaßen soziologischen Tatsache hatten, und ich habe des weiteren ausdrücklich erklärt, dass mir jeder Pharisäismus fern läge und jede Splitterrichterei, dass ich ausschließlich aus dem einen Gedanken heraus festzustellen, ob es denn wahr ist, dass kleine Städte so viel besser für Universitäten geeignet seien, diese Frage erörtert habe.

Aber, meine Herren, angesichts der heftigen Angriffe gegen mich ist es doch nun wohl nötig, darauf hinzuweisen, dass wir in der Lage sind, schwer belastendes Material gegen Münster vorzubringen. Ich möchte es aber nicht tun, meine Herren. Sie wissen genauso gut wie ich, dass aus dem Mund eines Staatsanwalts nach einem Prozess ein Wort gefallen ist über die Zustände in Münster, das man sich nicht hinter den Spiegel stecken könnte. Sie wissen, dass wir auch von autoritativer kirchlicher Seite Worte über diese Zustände haben, die ernst genug sind. Meine Herren, ich will nicht den Anschein erwecken, als ob mir daran läge, Münster herabzusetzen. Ich empfehle Ihnen, den Artikel in der „Dortmunder Arbeiterzeitung" zu lesen, der vor drei Tagen erschienen ist, in dem das Material zusammengestellt ist. Mir liegt nicht daran, dieses Material hier auszupacken; aber ich habe es in der Hand. Ich möchte nur noch einmal feststellen, dass auch hier wiederum, in diesem Artikel, der diese Missstände aufdeckt, nicht der Vorwurf erhoben wird, dass irgendwelche mindere Qualifikation der Bevölkerung an und für sich den Anlass zu diesen Zuständen gegeben hätte. Nicht einmal der Vorwurf wird erhoben, dass hier der katholische Glaube der Bevölkerung eine entscheidende Rolle gespielt habe. Es wird vielmehr als entscheidender Grund für diese Zustände darauf hingewiesen, dass die Garnison von Münster einen im Verhältnis zur Zivilbevölkerung so ungeheuer großen Umfang habe und die Zahl der Studenten dazugekommen sei und damit eine Zusammensetzung der Einwohnerschaft eingetreten sei, wie sie sehr häufig zu einer Korrumpierung der geschlechtlichen Sitten führt.

Meine Herren, ich hoffe, dass man nach dem, was ich eben gesagt habe, nicht mehr unternehmen wird, mir Vorwürfe zu machen über das, was ich damals aus einem Anlass gesagt habe, dessen Berechtigung Sie selbst nicht bezweifeln können. Ich möchte insbesondere auch hoffen, dass nicht noch einmal irgendein Redner vom Zentrum auftritt und den in diesem Zusammenhang geradezu komisch anmutenden Einwand gegen mich erhebt, dass ich wohl deshalb gegen Münster wüte, weil es eine sichere Zentrumshochburg sei. Meine Herren, davon kann natürlich gar keine Rede sein, dass wir aus solchen Erwägungen heraus unsere Angriffe erheben. Wir haben auch gar keine Veranlassung, mit der politischen Haltung der Bevölkerung Münsters allzu unzufrieden zu sein.

Meine Herren, ich bin an dieser Stelle auf diesen Punkt zurückgekommen, um Ihnen zu zeigen, dass ich nicht aus blauer Luft heraus damals meine Bemerkungen gemacht habe, und damit gleichzeitig mit aller Entschiedenheit der geradezu frivolen Ausnützung meiner Worte entgegenzutreten, wie das in der Presse draußen, speziell in der Zentrumspresse, geschieht. Ich habe die Wahrheit gesagt und möchte denen, die so heftig gegen mich anrennen, dringend empfehlen, mich nicht zu zwingen, mit meinem Material herauszurücken.

(„Bravo!" bei den Sozialdemokraten.)

1 Der Deutscher Flottenverein war eine am 30. April 1898 im Interesse der imperialistischen deutschen Schwerindustrie gegründete Propagandaorganisation zur ideologischen und politischen Unterstützung des Aufbaus einer starken deutschen Kriegsflotte. Führende Finanziers waren die Monopolisten Krupp und Kirdorf. Seine Entstehung ist untrennbar mit dem Beginn des deutschen Flottenbaus verknüpft: Am 10. April 1898 hatte der Deutsche Reichstag das erste Gesetz über die Verstärkung der Kriegsflotte beschlossen. Der Deutsche Flottenverein entwickelte sich zu der wohl größten Massenorganisation des Finanzkapitals in der Zeit vor dem ersten Weltkrieg. 1908 hatte er über eine Million Mitglieder. Eine führende Rolle spielte General Keim, der erste Präsident war Fürst zu Wied, sein Nachfolger Fürst Salm-Horstmar.

2 Bürgerliche Studentenorganisationen, in denen sich die nicht korporierten Studenten, die sogenannten Finken, organisierten. Entsprechend ihrer Gegnerschaft zu den reaktionären Korporationen wurden in ihnen oft liberale Auffassungen vertreten. Ihren Höhepunkt erreichte die freistudentische Bewegung um 1910, als an 36 deutschen Hochschulen solche Organisationen bestanden.

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