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Rosa Luxemburg 19010917 Aus dem Nachlass unserer Meister

Rosa Luxemburg: Aus dem Nachlass unserer Meister

[Vorwärts (Berlin), Nr. 217 vom 17. September 1901. Nach Gesammelte Werke, Band 1/2, Berlin 1970, S. 130-141]

Aus dem literarischen Nachlass von Karl Marx, Friedrich Engels und Ferdinand Lassalle. Herausgegeben von Franz Mehring. Bd. I: Gesammelte Schriften von Karl Marx und Friedrich Engels. Von März 1841 bis März 1844, Stuttgart 1902.

I

Vor einem Jahre erst beklagte es ein bürgerlicher Bibliograph des wissenschaftlichen Sozialismus in dem „Handwörterbuch der Staatswissenschaften", dass sowohl „eine ausführlichere Marx-Biographie" wie „eine Gesamtausgabe der Marxschen Werke einschließlich seiner Zeitschriftenartikel" vollständig fehle und dass in absehbarer Zeit nicht daran zu denken sei, „dass diese Arbeit von einem einzelnen geleistet werden könnte". In diesem Augenblick sind wir auf dem besten Wege, mit einem Schlage beides zu bekommen: sowohl die wissenschaftliche Ausgabe der Marxschen Werke wie eine ausführliche Biographie des Schöpfers des wissenschaftlichen Sozialismus.

Laut der Vorrede Mehrings soll zwar seine Veröffentlichung des Nachlasses von Marx und Engels nicht mehr als eine der Vorarbeiten zu einer wissenschaftlichen Gesamtausgabe ihrer Schriften sein, tatsächlich aber ist sie – wenn die weiteren uns vom Verlage Dietz in nächste Aussicht gestellten Bände in demselben Geiste behandelt werden – bereits eine im besten Sinne dieses Wortes wissenschaftliche Ausgabe der Schriften unsrer Altmeister und zugleich das, was wir uns im gegebenen Fall, wo es sich um unsren Marx handelt, als seine beste Biographie denken können.

Allerdings äußerlich bietet der erste uns bereits vorliegende Band nur einige dem Inhalt nach ganz verschiedene und unzusammenhängende Jugendschriften von Marx: seine Doktordissertation über die griechische Philosophie, dann seine Aufsätze über die Zensur und Pressfreiheit, über den Holzdiebstahl, seine Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie und seine Abhandlung über die Judenfrage sowie zwei von Engels über die Nationalökonomie und über England. Allein und für sich gelesen, bieten diese Arbeiten gewiss das größte Interesse als Marksteine in der geistigen Entwicklung Marx', aber sie würden auch für den aufmerksamsten Leser eben Marksteine bleiben, an denen er nur die inzwischen von Marx durchgemachte Entwicklung ahnen könnte, ohne dass ihm diese jemals in ihren inneren und äußeren Zusammenhängen klarwerden dürfte. Aus dem noch so fleißigen und nachdenklichen Studium der Marxschen Parallelen zwischen der Demokritischen und Epikureischen Naturphilosophie dürfte es ohne weiteres äußerst schwer zu entziffern sein, welche Bedeutung die beiden Meister der antiken Philosophie für Marx' geistiges Werden haben noch wie sich andrerseits die Probleme der griechischen Philosophie mit den Problemen der vormärzlichen preußischen Zensur, des rheinischen Holzdiebstahls und der Hegelschen Rechtsphilosophie innerlich vermitteln mochten.

Doch da tritt Mehring mit seinen bescheiden als „Einleitungen" betitelten Ausführungen dazwischen, und aus den bunten, vereinzelten Fragmenten der geistigen Tätigkeit Marx' entsteht allmählich vor unseren Augen ein ganzes volles Leben, eine bis zur Handgreiflichkeit plastische Gestalt des Mannes, der das Zentrum bildete, um ihn herum in geringerer oder größerer Entfernung alle die ihm nahestanden und seine geistige Atmosphäre bildeten, die Verwandten, Lehrer, Freunde, Studien- und Kampfgenossen, die Männer der 30er und 40er Jahre, aus der Vergessenheit herausgerissen, wieder zum Leben beschworen; wir sehen sie alle lebendig, sich bewegen, kämpfen, denken, arbeiten, mit Marx und untereinander in geistigem Kontakt, jeden in seiner Eigenart, mit seinen besonderen geistigen Anlagen und Interessen, sogar mit seinem Charakter und Temperament. Um die zentrale Gruppe, die uns unmittelbar so nahe gerückt ist, dass wir ihre Gedanken und Worte belauschen, baut Mehring amphitheatralisch die ganze historische Szenerie auf – in nächster Perspektive das geistige und politische Milieu, die Zeit- und Streitfragen, Strömungen, Richtungen, Parteien, das akademische Leben, die literarische Welt, die bürgerliche Gesellschaft, die offiziellen Kreise, in weiterer Fernsicht in allgemeinen Zügen die historischen Ereignisse und als Fond des Ganzen in großen, aber deutlichen Linien skizziert er die ökonomisch-sozialen Verhältnisse in ihren Verschiebungen und Wandlungen.

So verwebt er zeitlich wie örtlich die Bruchstücke aus dem geistigen Leben Marx' zu einem Ganzen. Es ist nicht Marx, der, aus seiner Zeit herausgerissen, uns wie ein Fremder, ein Gewesener, ein Verstorbener vor die Augen geführt wird, um uns in wirrer, halb verständlicher Sprache von seinem inneren Streben und Kämpfen zu erzählen. Das sind wir, die Mehring aus unsrer Zeit herausreißt, in die 30er und 40er Jahre versetzt, um uns mitten im Getriebe der Zeit stehen, alles mitleben und mitempfinden, unsren Marx inmitten seiner Zeit und in seinen Kämpfen, in seinem Werden, in seinem Wachstum sehen zu lassen.

Mehring hat sich schon in der „Geschichte der deutschen Sozialdemokratie" als Meister der historischen Milieumalerei gezeigt. Allein in dem gegenwärtig vorliegenden Buche scheint er uns darin noch Größeres erreicht zu haben; vielleicht weil das Bild sich in kleinere Rahmen fassen und deshalb künstlerisch sorgfältiger abtönen ließ, vielleicht weil es sich um eine Gestalt gruppieren ließ, auf die Mehring so sehr viel innige Liebe ausgegossen hat.

Erstaunlich muss aber dieses Resultat gerade deshalb vorkommen, weil Mehring verhältnismäßig so wenig Raum für seine „Einleitungen" in Anspruch genommen hat und weil er äußerlich gezwungen war, sie als einzelne, unabhängige, jedes Mal von ganz andren Materialien handelnde Fragmente einzuschieben, bald die Regierungskunst Friedrich Wilhelm IV., bald die Geschichte der griechischen Philosophie, bald die industrielle Entwicklung des Rheinlands, bald die Geschicke und Missgeschicke der philosophischen und politischen Zeitschriften der 30er und 40er Jahre zu schildern. Er versteht es aber auch, mit ein, zwei Zügen eine Gestalt, mit einigen kräftigen Strichen eine historische Perspektive zu zeichnen. Er befasst sich an sich mit Nebengestalten wenig, fast gar nicht; aber durch unerwartet, in ganz andrem Zusammenhang eingestreute kurze Äußerungen aus ihren eignen Briefen oder aus andren, an sie gerichteten Zuschriften, aus kurzen gelegentlichen, aber treffenden Bemerkungen ersteht vor uns augenblicklich eine Charakterfigur, die wir sehr gut verstehen ebenso wie ihre Beziehungen zu Marx. So sehen wir vor uns in gewisser Ferne die Gestalt Ruges passieren, dessen polternde, etwas philiströse Ehrlichkeit, dessen energisches Streben und Kämpfen uns sicher Sympathie einflößen, von dem wir jedoch deutlich fühlen, dass er geistig keine irgendwie nennenswerte Rolle in Marx' Entwicklung spielen konnte.

Wir begegnen mehrmals in der Nähe Bruno Bauer, dessen geistige Kraft uns zweifellos imponiert, zu dem wir aber ein ganz instinktives Misstrauen fühlen und der uns, trotzdem er seine Umgebung um ein paar Köpfe überragt, neben dem feurigen, noch unfertigen, noch innerlich zerrissenen, suchenden und tastenden Jüngling Marx wie ein Zwerg vorkommt.

Und hätte uns Mehring nicht so ganz in das Leben, Denken und Empfinden jener Zeit versetzt, wie vermochten wir uns wohl mit dem alten grundehrlichen Köppen zu befreunden, der mit jugendlicher Glut den Großen Fritz als die Verkörperung der modernen Aufklärung, des griechischen Stoizismus, Epikurismus und Skeptizismus, der Staatskunst und aller möglichen Tugenden und Talente feiert! Wir verstehen ihn aber ausgezeichnet ebenso wie seinen geistigen Einfluss auf Marx und möchten ihm die ehrliche Hand schütteln dafür, dass er seinem Lieblingswerk die Widmung an den künftigen Schöpfer des wissenschaftlichen Sozialismus vorangesetzt. Die Gestalt Köppens, die Mehring aus dem historisch-literarischen Schutt zum ersten Mal heraus gegraben hat, ist allein eine künstlerische Perle.

Die meisten Farben und die größte Sorgfalt hat aber Mehring auf die Gestalt des alten Marx verwendet. Zum ersten Mal wird wohl hier die deutsche Arbeiterklasse die nähere Bekanntschaft des Vaters ihres größten Vorkämpfers machen. Der treffliche Mann, dessen Intelligenz, geistige Klarheit und sittliche Geradheit, wie sie sich in den Briefen an den Sohn äußern, uns in Bewunderung setzen, wird uns zum lieben und geachteten Freunde.

Und so werden wir ganz in den Bann des Kreises, worin Marx aufwuchs und erstarkte, gezogen. Wir verkehren mit den geistigen Führern jener Zeit in Berlin, verfolgen mit lebhaftem Interesse die Schicksale der „Hallischen" und der „Deutschen Jahrbücher", fechten zusammen mit der Schar der Junghegelianer gegen das Muckertum, nehmen teil an den redaktionellen Kämpfen der „Rheinischen Zeitung" mit den Zensoren in Köln, ziehen mit den schiffbrüchigen Redakteuren nach Paris und sehen mit Spannung der Gründung der „Deutsch-Französischen Jahrbücher" entgegen, neue Probleme und neue Perspektiven ahnend.

Wenn wir unter der Biographie eines Mannes wie Marx die Auferweckung seines geistigen Lebens in allen seinen Farben und in seinem ganzen Werden verstehen, so hat Mehring – für die Zeitspanne, mit der er sich im ersten Bande befasst – die vollendete Biographie von Marx geliefert. Alle Momente, die auf seine Entwicklung haben von Einfluss sein können: persönliche und soziale, ethische und wissenschaftliche, politische und wirtschaftliche, werden – jedes in seinem ganzen Umfang – berücksichtigt. Und dafür, dass jeder dieser Momente in gehöriger Proportion, in dem ihm zukommenden Masse berücksichtigt wurde, bürgt uns gerade der Umstand, dass Mehring nicht im Geringsten eine Biographie im herkömmlichen Sinne dieses Wortes zu geben, dass er nicht im Geringsten den fertigen, gewordenen Marx nach rückwärts zu „erklären" sucht. Er verfährt gerade umgekehrt, indem er von unten auf den unfertigen, den werdenden Marx rekonstruiert, zu jeder Kundgebung seines Geistes schrittweise nur den notwendigen Vorbau liefert und das Ganze von selbst auf den Leser wirken lässt. Und eben in dem harmonischen Eindruck, den wir von dem Bilde der Zeit und des Menschen darin empfangen, in dem Gefühl der Befriedigung, mit der wir sein Werden verfolgen und begreifen, liegt die Gewähr des „zureichenden Grundes" in den Erklärungen zur Marxschen Entwicklung, die Gewähr, dass alles und jedes gerade so und gerade in dem Masse sich zu diesem großen Leben zusammengetan hat, wie Mehring es erläutert.

Marx hat einmal – wir können in diesem Augenblick die Stelle nicht suchen, die irgendwo in den Fußnoten zum I. Band des „Kapitals" stecken muss – gesagt, eine Probe auf die wahre materialistische Erklärung eines Ereignisses sei nie durch das Zurückverfolgen seiner Ursachen in die Vergangenheit, sondern allein durch die Rekonstruktion des Ereignisses aus der Vergangenheit heraus gegeben. So rekonstruierte und dadurch erklärte Marx die französische Februarrevolution und den Napoleonischen Staatsstreich. So rekonstruiert jetzt Mehring nach der Marxschen Methode Marx selbst als leuchtendes Ereignis in der geistigen Geschichte Deutschlands. Und da er dabei zugleich auch historiosophisch Marx treu bleibt und den Menschen aus seinem Milieu, das Milieu aus der Geschichte, die politische Geschichte aus der wirtschaftlichen erklärt, so ist das Mehringsche Buch über Marx die feinste Huldigung des Schülers an seinen Meister.

Wir wüssten auch nicht, was wir unter einer „wissenschaftlichen" Ausgabe der Schriften von Marx und Engels sonst verstehen sollten, als was uns gerade geboten wird. Es ist das oberste Gebot der Wissenschaftlichkeit, jede geistige Schöpfung aus dem Schöpfer und aus seiner Zeit heraus zu beleuchten. Alles, was nun von Marx veröffentlicht wird, erscheint uns vollkommen klar im Zusammenhang einerseits mit seiner individuellen Entwicklung, andrerseits mit den geistigen Strömungen und öffentlichen Zuständen Deutschlands der 30er und 40er Jahre. Mehring erläutert jeden Aufsatz in doppelter Weise: erstens sachlich die Materie in sich selbst, zweitens in Beziehung zu Marx und seiner Zeit. So z. B. bei der zum ersten mal veröffentlichten Dissertation von Marx, wo wir zugleich eine knappe, aber übersichtliche und gründliche Skizze der Geschichte der griechischen Philosophie erhalten bis zu ihrem logischen Abschluss im Epikurismus, Stoizismus und Skeptizismus und eine Skizze der philosophischen Entwicklung in Deutschland bis zu den Berührungspunkten mit den genannten griechischen Schulen. Und endlich eine Würdigung der gegebenen Arbeit von Marx vom Standpunkt des behandelten Gegenstandes selbst. Auf diese Weise erfahren wir jedesmal sowohl was die berührte Frage für Marx und seine Zeit bedeutete, als was Marx für sie getan. Zum Schluss gibt Mehring noch nach jedem veröffentlichten Aufsatz in knapper Form alle zur Orientierung und eventuellen eingehenden Nachforschung des Gegenstandes notwendigen Fingerzeige und bibliographischen Notizen.

Allerdings „wissenschaftlich" in dem Sinne der offiziellen, herkömmlichen, professoralen Ausgaben in der Art – um das erste beste Beispiel zu nehmen – der Wagner-Kozakschen Ausgabe von Rodbertus ist das Mehringsche Werk nicht. Es fehlt hier vollständig das vorlaute, aufdringliche Wesen des Herrn Professors, der in der Vorrede zu den Werken seines „Ricardo des ökonomischen Sozialismus" von diesem Ricardo, seinen Werken, seiner Zeit, seiner Bedeutung kein Sterbenswort mehr zu sagen weiß, als dass er ein großer Klassiker war, dafür in weitschweifiger Weise seine eignen Schmerzen beim Durchkramen der Papiere des Nachlasses und seine Katzbalgereien mit den Konkurrenten-Herausgebern, Rudolf Meyer und Moritz Wirth, dem versammelten Publikum erzählt und sich dabei so ungebärdig benimmt, dass der Leser Lust bekommt, den ihm den Zutritt zum Werke versperrenden Herausgeber mit ungeduldiger Hand zur Seite zu schieben wie einen tollpatschigen Kammerdiener, der, statt uns zu seinem Herrn zu geleiten, uns im Vorzimmer mit unnützem Gerede darüber aufhält, wie er am Morgen die Stiefel des Herrn schlecht gewichst hatte und dafür ausgezankt wurde.

Die Mehringschen Erläuterungen sind so mit den Marxschen Aufsätzen zu einem Ganzen verwoben, dass man sie gar nicht als gesonderte Arbeit empfindet. Der Verfasser geht ganz auf in dem Verfasser, der Kommentar verschmilzt mit dem Gegenstand zu einem Buch. Und dieses Buch lehrt uns Marx verstehen und lieben. Die deutsche Arbeiterklasse kann auf das vor allem ihr zugeeignete Werk stolz sein; ihr größter Meister ist darin meisterhaft gezeichnet.

II

Der Gang der geistigen Entwicklung der beiden Schöpfer des Kommunistischen Manifests ist uns in allgemeinen Zügen aus ihren eignen späteren Äußerungen seit langer Zeit bekannt. Marx als unzufriedener Junghegelianer, dem die Feuerbachsche humanistische Revision Hegels „eine Offenbarung" ward und ein Anstoß zur Konzeption des historischen Materialismus, Engels als Mann der wirtschaftlichen Praxis, angeregt und erleuchtet durch Beobachtungen an den englischen Gesellschaftszuständen, trafen an der Schwelle des wissenschaftlichen Sozialismus zusammen. Allein dieser innere Werdegang, namentlich was Marx betrifft, ist uns nie so deutlich in allen Einzelheiten und im großen Zusammenhang vor die Augen geführt worden wie durch das Mehringsche Buch.

Nach näherer Analyse des nun gebotenen Materials bemerken wir in der ersten Periode der Marxschen Entwicklung, die mit der Herausgabe der „Deutsch-Französischen Jahrbücher" im Jahre 1844 und dem geistigen Kontakt mit Engels abschließt, gleichsam zwei unabhängig voneinander verlaufende Linien. Die eine Linie, das ist die fortlaufende innere Krise, die sich in dem Suchen „nach Wahrheit", konkret gesprochen, in dem Suchen nach der Lösung des philosophischen Konflikts zwischen Denken und Sein, zwischen der materiellen Welt und dem Denkprozess äußerte. Die andre Linie, das ist die Reihe von Kontakten mit der praktischen Welt, mit politischen und wirtschaftlichen Zeit- und Streitfragen. Hierher gehören die Arbeiten Marx' über die Zensur und Pressfreiheit, über den Holzdiebstahl, die redaktionelle Arbeit an der Frage der Moselwinzer, der Aufsatz über die Judenfrage. Diese Arbeiten sollten für Marx' Entwicklung von doppelter Bedeutung sein. Einmal gewann er hier durch die ständige Berührung mit der praktischen deutschen Misere einen Einblick in die gesellschaftlichen Zustände, für die er einige Jahre später das geschichtliche Todesurteil schreiben, hier lernte er den Boden kennen, in den sein philosophischer Gedanke nachher „wie ein Blitz einschlagen" sollte. Während seine ehemaligen Brüder in Hegel: Bauer, Strauß, Feuerbach, nicht aus den Regionen der abstrakten philosophischen Spekulation heraustraten, bildete sich Marx zum praktischen Kämpfer aus. Die lebendige ununterbrochene Fühlung mit der deutschen Wirklichkeit ermöglichte ihm nachher, als Feuerbach die Befreiung des Menschen von dem ihn drückenden Alp der Abstraktion vollzogen hatte, sofort anknüpfend daran die „Kritik des Himmels ... in die Kritik der Erde, die Kritik der Religion in die Kritik des Rechts, die Kritik der Theologie in die Kritik der Politik" zu verwandeln und die Frage zu stellen: „Wo also die positive Möglichkeit der deutschen Emanzipation?"

Zweitens brachte ihm dieser ständige Kontakt mit praktischen Zeitfragen jedes Mal die Unzulänglichkeit seiner idealistischen Weltauffassung empfindlich zum Bewusstsein und trieb ihn so wieder zu Untersuchungen und Versuchen an dem Hauptproblem: dem allgemeinen Gesichtspunkt, von dem aus alle Teilprobleme des praktischen und geistigen Lebens harmonische Beleuchtung und einheitliche Lösung finden.

Mehring sagt mit Recht, Marx wäre mit dem letzten von ihm für die „Rheinische Zeitung" geplanten, doch nicht mehr ausgeführten Artikel über die rein ökonomische Frage der Bauernparzellation vom Hegelschen Standpunkt wohl nicht mehr fertig geworden. Eigentlich ist er von diesem Standpunkt bereits bei den früher von ihm behandelten praktischen Fragen im Stich gelassen worden. Freilich war es die schneidende Waffe der Hegelschen Dialektik, die ihn die Verhandlungen des Rheinischen Provinziallandtags über Pressfreiheit wie über Holzdiebstahl kritisch so glanzvoll abschlachten ließ. Aber es war doch nur die Dialektik, die Methode des Denkens, die ihm hier den Dienst erwies; was den Standpunkt selbst, die sachliche Stellungnahme betrifft, so will es uns scheinen, dass Marx bereits hier, indem er für Pressfreiheit und für das Recht des armen Bauern auf freie Holzlese im Walde eintrat, eher der Hegelschen Rechts- und Staatsphilosophie seine Gesichtspunkte oktroyierte, als dass er sie von ihr ableitete. Es war vor allem, wie Mehring selbst sagt, die tiefe und wahre Sympathie, die Marx für die „arme, politisch und sozial besitzlose Menge" empfand, es war „das Herz" gewesen, das ihn bereits in seinem idealistischen Stadium in den Kampf trieb und ihm die Parteinahme diktierte.

Wir erachten diese Tatsachen, die nun dank den vorliegenden Veröffentlichungen in voller Klarheit erscheinen, für außerordentlich wichtig und für wichtiger als je gerade in diesem Augenblick. Wir wohnen seit einiger Zeit dem Prozess der sogenannten Kritik des wissenschaftlichen Sozialismus in unsren eigenen Reihen bei. Die Haupttendenz dieser „Kritik" ist – praktisch wie theoretisch – die Zersetzung des Marxschen Lehrgebäudes und die Ausscheidung gerade derjenigen Elemente, die bis jetzt als seine Hauptpfeiler galten: der historischen Begründung durch die objektive Notwendigkeit wie der wissenschaftlichen Begründung durch die ökonomische Analyse. Die rein empirische Beobachtung der Tatsache der Ausbeutung, des „Mehrprodukts", soll genügen als Basis, das bloße Bewusstsein der „Ungerechtigkeit" der Verteilung als Legitimation der sozialistischen Arbeiterbewegung.

Nun stellt es sich heraus, dass Marx selbst sowohl die Tatsache der Ausbeutung, die er als höchste Ungerechtigkeit empfand, wie auch die französische und englische Arbeiterbewegung in ihrer ursprünglichen Form bereits anfangs der 40er Jahre sehr wohl kannte. Für das erstere legen z. B. seine Ausführungen über den Holzdiebstahl das Zeugnis ab, für das letztere die Belehrungen, die Marx in der „Rheinischen Zeitung" der Augsburger „Allgemeinen Zeitung" aus Anlass ihrer kontroverse über den Kommunismus gibt. „Dass der Stand, der heute nichts besitzt", schreibt Marx im Oktober 1842, „am Reichtum der Mittelklassen teilzunehmen verlangt, das ist ein Faktum, welches ohne das Straßburger Reden und trotz dem Augsburger Schweigen in Manchester, Paris und Lyon auf den Straßen jedem sichtbar umher läuft."

Die Voraussetzungen, die in Konsequenz der Auffassung der heutigen „kritischen Sozialisten" oder richtiger – um von den Schülern auf die Lehrer zurückzugehen – nach der Auffassung bürgerlicher, in „sozialer Bewegung" krebsender Professoren ausreichen, um die Arbeiterbewegung zu begründen, haben merkwürdigerweise den größten Theoretiker des Sozialismus noch nicht zum Sozialismus bekehren können. In demselben Aufsatz über den Kommunismus zeigt Marx, dass er noch Ende des Jahres 1842 nicht im Geringsten den sozialistischen Bestrebungen huldigte.

Die ,Rheinische Zeitung'", schreibt er als Redakteur des genannten Blattes, „die den kommunistischen Ideen in ihrer jetzigen Gestalt nicht einmal theoretische Wirklichkeit zugestehen, also noch weniger ihre praktische Verwirklichung wünschen oder auch nur für möglich halten kann, wird diese Ideen einer gründlichen Kritik unterwerfen."

Die „empirischen Tatsachen" also, die den heutigen Flachköpfen zum Zurechtstümpern eines flachen „empirischen" Sozialismus genügen, vermochten dem Genius zur Schöpfung des wissenschaftlichen Sozialismus nicht auszureichen. Es fehlte dazu der allgemeine zusammenfassende und befruchtende Standpunkt, es fehlte der Granitblock, auf dem das Gebäude des Sozialismus als Wissenschaft errichtet werden sollte. Und zu diesem musste Marx auf einem andern Wege gelangen, erst nach einer Auseinandersetzung mit dem Hegelschen Idealismus.

Wir besitzen nun drei wichtige Marksteine der inneren Krise, die Marx bis zu der Schöpfung des historischen Materialismus durchmachte: den langen, wundervollen Brief Karls an seinen Vater vom 10. November 1837, der bereits vor einigen Jahren in der „Neuen Zeit" erschienen ist, jetzt aber erst im Zusammenhang mit dem Ganzen der Marxschen Entwicklung zur vollen Geltung kommt, dann die zum ersten mal hier veröffentlichte Dissertation von Marx, endlich die in den „Deutsch-Französischen Jahrbüchern" erschienene Einleitung „Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie". In allen drei Dokumenten sehen wir Marx in verschiedener Form und mit verschiedenem Erfolge nach demselben Problem der Aussöhnung des Bewusstseins mit dem Sein, nach einer monistischen, einheitlichen Auffassung der physischen und geistigen, der moralischen und materiellen Welt suchen. Und es ist klar, dass er sie nicht finden konnte, bis er sie selbst mit entdeckt hatte.

Wir betrachten es als einen besonders glücklichen Umstand vom Standpunkt der späteren Begründung des wissenschaftlichen Sozialismus, dass Marx sich von Anfang an mit dem Recht befasste und gerade an ihm seine wichtigsten philosophischen Versuche machte. Während die andren Junghegelianer sich fast ausschließlich in dem Gebiete der theologischen Spekulationen verschanzten, also in der abstraktesten Form der Ideologie, pochte Marx von Anfang an instinktiv an die nächste, unmittelbarste ideologische Form des materiellen gesellschaftlichen Lebens – an das Recht. Legt es doch stellenweise so deutlich den in ihm steckenden ökonomischen Kern bloß, dass manchmal auch vom historischen Materialismus sonst nicht angekränkelte Rechtsgelehrte auf eine rein ökonomische Erklärung ganzer Abschnitte der Rechtsgeschichte gestoßen werden, wie der Baseler Professor Arnold in den 60er Jahren in seinen Untersuchungen über das mittelalterliche städtische Eigentum.

Marx beginnt gleich noch als blutjunger Student seine ersten inneren Kämpfe mit der philosophisch-kritischen Beleuchtung der gesamten Rechtssphäre. Selbstverständlich scheitert der grandiose Entwurf an der Unmöglichkeit, die materielle mit der formellen Rechtslehre vom idealistischen Standpunkt zu vereinigen. Marx wendet sich dann enttäuscht der reinen Philosophie zu, und wir sehen ihn in seiner Dissertation dasselbe Problem in der Naturphilosophie zu lösen suchen.

Aber die ungelöste Aufgabe der einheitlichen Erklärung des ganzen Rechtsgebietes lässt in ihm tiefe Spuren zurück. Die Fragen der gesellschaftlichen Formen des Lebens bleiben für ihn das Hauptproblem. Kaum hatte deshalb Feuerbach seinen philosophischen coup d'etat gemacht und den bis jetzt von seinen eignen Ideen schamlos gemisshandelten Menschen in seiner ganzen Leibhaftigkeit wieder auf den Thron erhoben und ihm als dem Alleinherrscher auf Erden und im Himmel das Zepter in die Hand gedrückt, als Marx sofort mit dem neugewonnenen Maßstab wieder an seine erste große Frage, an die Rechtsphilosophie, also die gesellschaftlichen Lebensformen, zurückeilte. Wo für Feuerbach die Lösung war, da beginnt für Marx erst die Frage. Wenn Feuerbach den Menschen von dem Spuk seiner eignen Philosophie befreit, so fragt Marx: Wie ist der Mensch als unterdrücktes und misshandeltes Mitglied der Gesellschaft zu befreien?

Das war schon à priori eine Fragestellung, bei der sich nur der Sozialismus als allumfassende, internationale Lehre, als geschichtliche Theorie, als Wissenschaft zur Antwort ergeben konnte.

Und Marx leitet ab von dem neuen Standpunkte in einer Kaskade funkelnder, sich überstürzender, brausender, dialektischer Schlüsse – ein deduktives Schema des proletarischen Klassenkampfes und Sieges!

Wo also", lautet es zum Schluss der Einleitung „Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie", „die positive Möglichkeit der deutschen Emanzipation?

Antwort: In der Bildung einer Klasse mit radikalen Ketten, einer Klasse der bürgerlichen Gesellschaft, welche keine Klasse der bürgerlichen Gesellschaft ist, eines Standes, welcher die Auflösung aller Stände ist, einer Sphäre, welche einen universellen Charakter durch ihre universellen Leiden besitzt — einer Sphäre endlich, welche sich nicht emanzipieren kann, ohne sich von allen übrigen Sphären der Gesellschaft und damit alle übrigen Sphären der Gesellschaft zu emanzipieren, welche mit einem Wort der völlige Verlust des Menschen ist, also nur durch die völlige Wiedergewinnung des Menschen sich selbst gewinnen kann. Diese Auflösung der Gesellschaft als ein besonderer Stand ist das Proletariat... Wie die Philosophie im Proletariat ihre materiellen, so findet das Proletariat in der Philosophie seine geistigen Waffen, und sobald der Blitz des Gedankens gründlich in diesen naiven Volksboden eingeschlagen ist, wird sich die Emanzipation der Deutschen zu Menschen vollziehen."

So schrieb Marx im Anfang des Jahres 1844. Wehe ihm! Er hat damit eine Sünde begangen, die ihm von seinen dankbaren Schülern nach mehr als 50 Jahren noch aufs Konto geschrieben werden sollte. Er hat nämlich eine Deduktion des Sozialismus geschaffen, er hat à priori die Notwendigkeit des sozialistischen Sieges und Kampfes vorausgesehen, statt sich einfach an die empirische Tatsache des „Mehrprodukts" und seiner „Ungerechtigkeit" zu halten.

Umgekehrt, erst in der Beleuchtung der Deduktion sind ihm alle „empirischen Tatsachen" im neuen Lichte erschienen, erst als er den Ariadnefaden des historischen Materialismus in der Hand hatte, fand er durch das Labyrinth der alltäglichen Tatsachen der heutigen Gesellschaft den Weg zu wissenschaftlichen Gesetzen ihrer Entwicklung und ihres Unterganges.

So ward der wissenschaftliche Sozialismus, und gerade weil er so ward, schlug er wie ein Blitz in den proletarischen Boden der bürgerlichen Gesellschaft hinein, dass sie in ihren Grundfesten erzitterte. Und wie jede geschichtliche Erscheinung in sich selbst, in ihrer geschichtlichen Entstehung auch die ausreichende, die einzige wahrhaft „wissenschaftliche" Legitimation mit sich führt, dass sie so und nicht anders hat werden müssen, so bringt auch das uns nun von Mehring dargebotene Buch über die erste Phase der Schöpfung der Marxschen Lehre zugleich eine Urkunde der Rechtmäßigkeit, der historischen Wirklichkeit ihrer Entstehung.

In diesem Sinne unterschreiben wir vollkommen die Worte Mehrings, dass die „geschichtlichen Wurzeln des Marxismus aufdecken heißt die Wurzellosigkeit seiner ,Überwindung' enthüllen"1. Heute mehr als je wird das Bild der Entstehung der wissenschaftlichen Theorie des Sozialismus dem klassenbewussten Proletariat wieder eine Gewähr dafür sein, dass der Marxsche Gedanke trotz aller ohnmächtigen „Überwindungs"versuche sich als jener mächtige Blitz bewahrheiten wird, der die bürgerliche Gesellschaft in die Luft sprengt und „die Deutschen zu Menschen" emanzipiert.

  1. 1 Aus dem literarischen Nachlass von Karl Marx, Friedrich Engels und Ferdinand Lassalle. Herausgegeben von Franz Mehring. Bd. I: Gesammelte Schriften von Karl Marx und Friedrich Engels. Von März 1841 bis März 1844, Stuttgart 1902, S. X.

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