Rosa Luxemburg 19031001 Erklärung

Rosa Luxemburg: Erklärung

[Vorwärts (Berlin), Nr. 231 vom 3. Oktober 1903. Nach Gesammelte Werke, Band 1/2, Berlin 1970, S. 391-393]

Im Bericht des „Vorwärts"1 von der Parteiversammlung im dritten Berliner Wahlkreis vom 29. d. M. ist u. a. nach der Rede von W. Heine folgendes zu lesen:

Während dieser ganzen Debatten herrscht vielfach große Unruhe. Es gibt viele Unterbrechungen. Heine ruft der Genossin Luxemburg zu: Stören Sie mich nicht, Sie gehören gar nicht in den dritten Wahlkreis. (Stürmische Zustimmung.)"

Dieser Passus im Bericht muss beim Leser den bestimmten Eindruck hervorrufen, als wären die tatsächlich beispiellose Unruhe und die stürmischen Unterbrechungen während der Rede Heines hauptsächlich von mir ausgegangen. Demgegenüber habe ich zu konstatieren:

Die Unterbrechungen und leidenschaftlichen Protestkundgebungen gegen W. Heine rührten nicht von mir oder den „herbeigeströmten Gästen" an meinem Tische her, sondern von einem Teil der eignen Wähler Heines, d. h. von den Genossen des dritten Wahlkreises. Ich meinerseits habe im Gegenteil ganz ruhig den Ausführungen Heines, auch den wiederholten persönlichen Anzapfungen mir gegenüber, zugehört, um so mehr als ich sicher erwartete, zu Worte kommen zu können, um ihm eine gründliche Antwort zu erteilen, und nicht darauf gefasst war, dass die Diskussion geschlossen wird, gerade, als nach der vom Büro verlesenen Rednerliste Genosse Zubeil, Clara Zetkin und ich in die Debatte eingreifen sollten.

Ich habe, soweit ich mich erinnern kann, nur einen heftigen Zwischenruf gemacht, und zwar an derjenigen Stelle der Rede Heines, wo er unter andren Gegnern des Revisionismus einen ausländischen, seit kurzem in Deutschland tätigen Genossen2 attackierte, den er notabene nicht andeutend, sondern ganz deutlich und korrekt mehrmals beim Namen nannte und dabei, was der Bericht des „Vorwärts" verschweigt, seinen jetzigen Aufenthaltsort und sein Parteiamt in genauester Weise öffentlich angab.

Da dergleichen bereits zum zweiten Mal dem Rechtsanwalt Heine passiert – zum ersten mal in Lübeck einem andren „Ausländer" gegenüber – und da er auch mich zusammen mit den „Ausländern" systematisch zu verunglimpfen sucht, indem er von „Springinsfeld-Radikalismus" u. dgl. spricht, so muss ich hiermit feststellen, dass sowohl die von Heine genannten lästigen „Ausländer" wie ich für die Verbreitung sozialistischer Ideen tätig waren lange Jahre bevor Heine durch seine Kanonen-Rede sich in der Parteitätigkeit zuerst hervorgetan hat und wahrscheinlich schon zu einer Zeit, wo er noch tief in den Vorurteilen der Pückler-Bande3 stak, die ihm jetzt noch in so hohem Maße anhaften, wie schon sein Auftreten in Lübeck und wieder die einleitenden Worte seiner Rede am 29. beweisen.

Zugleich halte ich es aber für mein Recht und meine Pflicht, hier öffentlich festzunageln, dass trotz der allgemeinen Entrüstung, die Heine mit seinen antisemitischen und ausländerfresserischen Ausfällen auf dem Lübecker Parteitag hervorgerufen hat, er auch jetzt nicht aufhört, den elementarsten Grundsätzen der internationalen Sozialdemokratie ins Gesicht zu schlagen. Ich stelle hier öffentlich die Frage, ob ein Mann geeignet ist, eines der höchsten Vertrauensämter4 in der Partei zu bekleiden, der sich mit seiner Ausländerhetze moralisch auf das Niveau der preußischen Polizei und mit seinen antisemitischen Invektiven auf das Niveau des Grafen Pückler stellt und der zweimal eine Handlung öffentlich begangen hat, die objektiv eine Denunziation von Genossen an die Polizei bedeutet?

Endlich als Teilnehmerin der Versammlung des dritten Kreises protestiere ich öffentlich dagegen, dass W. Heine mit aller Gewalt die Vertagung der Debatten nach einer zweieinhalbstündigen Rede zu hindern suchte und der Versammlung förmlich die Pistole auf die Brust setzte, um sich ein Vertrauensvotum zu sichern. Es war ihm bekannt, dass am nächsten Tage notgedrungene Veröffentlichungen im „Vorwärts" seinerseits erfolgen würden, die ihn als den Hauptregisseur des Hardenschen Überfalls auf den Gen. Mehring in Dresden schwer zu kompromittieren geeignet waren, und da war es seine Pflicht und Schuldigkeit der Versammlung gegenüber, mit dem Vertrauensvotum abzuwarten. Wäre den Mitgliedern der Versammlung die ganze Tragweite der Veröffentlichungen im „Vorwärts" bekannt, so ist es nicht ausgeschlossen, dass sie dann den wiederholten Anträgen auf Vertagung stattgegeben hätte. Ein unter solchen Umständen und unter Androhung der Mandatsniederlegung von der winzigen Versammlung in einem der kleinsten Lokale des Kreises erzwungenes Vertrauensvotum ist in den Augen jedes loyal denkenden Menschen – für die Katze.

Rosa Luxemburg

Berlin-Friedenau, 1. Oktober 1903

1 Der „Vorwärts" vom 1. Oktober 1903 hatte in dem Artikel „Die Berliner Genossen und der Parteitag" über eine Parteiversammlung Informiert, in der Wolfgang Heine die revolutionären Sozialdemokraten verunglimpft hatte, die auf dem Parteitag in Dresden gegen den sich ausbreitenden Revisionismus aufgetreten waren.


2 Wolfgang Heine hatte auf der Parteiversammlung am 29. September 1903 wie auch bereits auf dem Parteitag in Lübeck 1901 Rosa Luxemburg, Haller und besonders Parvus wegen ihres entschiedenen Auftretens gegen die Revisionisten angegriffen und sie als Stützen des Radikalismus bezeichnet.

3 Gemeint ist der Antisemit Walter Graf von Pückler mit seinen Anhängern.

4 Am 16. Juni 1903 war Wolfgang Heine als Abgeordneter des dritten Berliner Wahlkreises in den Reichstag gewählt worden.
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