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Grigori Sinowjew 19190901 Der Parlamentarismus und der Kampf für die Sowjets

Grigori Sinowjew: Der Parlamentarismus und der Kampf für die Sowjets

Rundschreiben des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale.

[Manifest, Richtlinien, Beschlüsse des Ersten Kongresses. Aufrufe und offene Schreiben des Exekutivkomitees bis zum Zweiten Kongress. Hamburg 1920, S. 139-146]

Werte Genossen!

Die gegenwärtige Phase der revolutionären Bewegung hat unter anderen Fragen die Frage des Parlamentarismus äußerst schroff auf die Tagesordnung gestellt. In Frankreich, Amerika, England, Deutschland schließen sich gleichzeitig mit der Verschärfung des Klassenkampfes alle revolutionären Elemente der kommunistischen Bewegung an, indem sie sich vereinen oder ihre Handlungen unter der Parole der Sowjetmacht koordinieren. Die anarchistisch-syndikalistischen Gruppen und die Gruppen, die sich bisweilen einfach anarchistische nennen, schließen sich dabei dem allgemeinen Strom an. Das Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale begrüßt sie aufs Wärmste.

In Frankreich bildet die syndikalistische Gruppe des Gen. Pericat den Kern der kommunistischen Partei; in Amerika, zum Teil aber auch in England, führen den Kampf für die Sowjets solche Organisationen wie die IWW (Industrial Workers of the World). Diese Gruppen und Strömungen sind immer gegen die parlamentarischen Kampfmethoden aktiv aufgetreten. Andererseits sind die Elemente der kommunistischen Partei, die aus dem Schoße der sozialistischen Parteien entstanden sind, meistens geneigt, auch Aktionen im Parlament anzuerkennen (die Gruppe Loriot in Frankreich, die Mitglieder der ASP in Amerika, der ILP in England usw.). Alle diese Strömungen, welche um jeden Preis und möglichst bald in die kommunistische Partei vereinigt werden sollen, bedürfen einer einheitlichen Taktik. Die Frage muss folglich im allgemeinen Maßstabe entschieden werden, und das Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale wendet sich mit vorliegendem Rundschreiben, das insbesondere dieser Frage gewidmet ist, an alle Bruderparteien.

Das allgemeine vereinigende Programm ist im gegenwärtigen Augenblick die Anerkennung des Kampfes für die Diktatur des Proletariats in der Form der Sowjetmacht. Die Geschichte hat die Frage so gestellt, dass gerade in dieser Frage die Grenze zwischen dem revolutionären Proletariat und den Opportunisten, zwischen den Kommunisten und den Sozialverrätern jeglicher Marke gezogen wird. Das sogenannte „Zentrum“ (Kautsky in Deutschland, Longuet in Frankreich, die ILP und einige Elemente der BSP in England, Hillquit in Amerika) ist trotz aller seiner Versicherungen eine objektiv antisozialistische Strömung, weil es den Kampf für die Sowjetdiktatur des Proletariats nicht führen kann und nicht führen will. Im Gegenteil, jene Gruppen und Parteien, die früher jeglichen politischen Kampf verneinten (z. B. einige anarchistische Gruppen), haben, indem sie die Sowjetmacht, die Diktatur des Proletariats anerkannten, dadurch eigentlich ihrem bisherigen antipolitischen Wesen entsagt, weil sie die Idee des Ergreifens der Macht seitens der Arbeiterklasse, der Macht, die notwendig ist zur Unterdrückung der sich widersetzenden Bourgeoisie, anerkannt haben. Dadurch, wiederholen wir, ist ein gemeinsames Programm, das Programm des Kampfes für die Sowjetdiktatur, gefunden.

Die alten Einteilungen in der internationalen Arbeiterbewegung haben sich offensichtlich überlebt. Der Krieg hat eine neue Umgruppierung geschaffen. Viele von den Anarchisten oder Syndikalisten,, die den Parlamentarismus verneinten, haben sich während der fünf Kriegsjahre ebenso niedrig und verräterisch benommen, wie die alten Führer der offiziellen Sozialdemokratie, die unnütz den Namen Marx auf den Lippen führen. Das Zusammenschließen der Kräfte vollzieht sich in einer neuen Richtung-: die einen sind für die proletarische Revolution, für die Sowjets, für die Diktatur, für Massenaktionen bis zum bewaffneten Aufstand, die anderen dagegen. Das ist die Grundfrage unserer Tage. Das ist das Hauptkriterium. Nach diesem Merkmal werden sich die neuen Vereinigungen zusammenschließen und tun es bereits.

In welchem Verhältnis steht die Anerkennung der Sowjetidee zu dem Parlamentarismus? Hier muss man streng zwei Fragen unterscheiden, die logisch mit einander nichts gemein haben: die Frage des Parlamentarismus als einer gewünschten Form der Staatsordnung und die Frage der Ausnutzung des Parlamentarismus zwecks Entwicklung der Revolution. Diese zwei Fragen verwechseln die Genossen oft, was außerordentlich schädlich auf den ganzen praktischen Kampf einwirkt. Wollen wir der Reihe nach jede dieser Fragen erörtern und alle notwendigen Schlüsse ziehen.

Welches ist die Form der proletarischen Diktatur? Wir antworten: die Sowjets. Das ist durch die Erfahrung Russlands bewiesen, die eine Weltbedeutung hat. Lässt sich die Sowjetmacht mit dem Parlamentarismus vereinbaren? Nein, und abermals nein. Mit den vorhandenen Parlamenten ist sie absolut unvereinbar, weil die Parlamentsmaschine die konzentrierte Macht der Bourgeoisie verkörpert. Die Deputierten, die Deputiertenkammern, ihre Zeitungen, das System der Bestechung, die geheimen Verbindungen der Parlamentarier mit den Leitern der Banken, die Verbindung mit allen Apparaten des bürgerlichen Staates, – alles das sind Fesseln für die Arbeiterklasse. Sie müssen gesprengt werden. Die Staatsmaschine der Bourgeoisie, folglich auch die bürgerlichen Parlamente sollen gebrochen, auseinander gejagt, vernichtet werden, auf ihren Trümmern soll eine neue Macht organisiert werden, die Macht der Vereinigungen der Arbeiterklasse, der „Arbeiterparlamente", d. h. der Sowjets. Nur die Verräter der Arbeiterklasse können die Arbeiter mit der Hoffnung auf einen „friedlichen“ sozialen Umsturz auf dem Wege der parlamentarischen Reformen täuschen. Solche Leute sind die grimmigsten Feinde der Arbeiterklasse, und man soll gegen sie den erbarmungslosesten Kampf führen; mit ihnen sind keine Kompromisse zulässig. Daher ist unsere Parole für jedes beliebige bürgerliche Land: „Nieder mit dem Parlament! Es lebe die Sowjetmacht!“

Man kann jedoch eine solche Frage stellen: Gut, ihr verneint die Macht der jetzigen bürgerlichen Parlamente; warum organisiert ihr denn nicht neue, demokratischere Parlamente auf der Grundlage wirklich allgemeinen Wahlrechts? Während der sozialistischen Revolution ist der Kampf dermaßen zugespitzt, dass die Arbeiterklasse schnell und entschieden handeln muss, ohne ihren Klassenfeinden in ihr Lager, in ihre Machtorganisation Zutritt zu gewähren. Solchen Forderungen entsprechen einzig und allein die Sowjets der Arbeiter, Soldaten, Matrosen, Bauern, gewählt in den Fabriken, Werken, Ländereien, Kasernen. So wird die Frage von der Form der proletarischen Macht gestellt. Gestürzt soll jetzt die Regierung werden: Könige, Präsidenten, Parlamente, Deputiertenkammern, Konstituanten. Alle diese Einrichtungen sind unsere geschworenen Feinde, die vernichtet werden müssen.

Jetzt gehen wir über zur zweiten Grundfrage: können die bürgerlichen Parlamente zwecks Entwicklung des revolutionären Klassenkampfes ausgenutzt werden? Diese Frage ist, wie wir eben bemerkten, logisch durchaus nicht mit der ersten Frage verwandt. In der Tat. Man kann ja bestrebt sein, irgend eine Organisation zu vernichten, indem man in dieselbe eintritt, sie „ausnutzt“. Das verstehen auch unsere Klassenfeinde ausgezeichnet, wenn sie die offiziellen sozialdemokratischen Parteien, die Trade-Unions u. dergl. zu ihren Zwecken ausnutzen. Nehmen wir das äußerste Beispiel. Die russischen Kommunisten, die Bolschewiki, wählten in die Konstituante. Sie tagten in ihrem Saal. Doch sie kamen dorthin, um die Konstituante nach 24 Stunden auseinanderzujagen und die Sowjetmacht völlig zu realisieren. Die Partei der Bolschewiki hatte auch in der zaristischen Reichsduma ihre Deputierten. Hat sie damals die Duma als ideale oder wenigstens erträgliche Form der Staatsordnung „anerkannt“? Es wäre Wahnsinn, das anzunehmen. Sie schickte ihre Vertreter dorthin, um auch von dieser Seite gegen den Apparat der zaristischen Macht vorzugehen, um auch zur Vernichtung derselben Duma beizutragen. Nicht umsonst verurteilte die zaristische Regierung die bolschewistischen „Parlamentarier“ für „Hochverrat“ zur Zuchthausstrafe. Die bolschewistischen Führer leisteten, indem sie, wenngleich zeitweilig, ihre „Unantastbarkeit“ ausnutzten, auch eine illegale Arbeit, indem sie die Massen zum Sturm auf den Zarismus zusammenschlossen. Doch eine derartige „parlamentarische“ Tätigkeit wurde nicht nur in Russland beobachtet. Nehmt Deutschland und die Tätigkeit Liebknechts. Der verstorbene Genosse war das Muster eines Revolutionärs, und war denn etwas Anti-Revolutionäres darin, dass er von der Tribüne des verfluchten preußischen Landtags die Soldaten zum Aufstand gegen diesen Landtag rief? Im Gegenteil. Auch hier sehen wir die völlige Zulässigkeit und Nützlichkeit der Ausnutzung. Wenn Liebknecht nicht Deputierter gewesen wäre, hätte er nie eine solche Tat vollbringen können: seine Reden hätten keinen solchen Widerhall gehabt. Das Beispiel der Arbeit der schwedischen Kommunisten im Parlament überzeugt uns auch davon. In Schweden spielte und spielt Gen. Höglund die gleiche Rolle wie Liebknecht in Deutschland. Seinen Deputiertenplatz ausnutzend, hilft er mit dem bürgerlichen Parlamentssystem abschließen; niemand in Schweden hat so viel für die Sache der Revolution und des Kampfes gegen den Krieg getan wie unser Freund. In Bulgarien sehen wir das gleiche. Die bulgarischen Kommunisten haben die Parlamentstribüne mit Erfolg zu revolutionären Zwecken ausgenutzt. Während der letzten Wahlen haben sie 47 Deputiertenplätze erlangt. Die Genossen Blagojew, Kirkow, Kolarow und andere Führer der Kommunistischen Partei Bulgariens verstehen es, die Parlamentstribüne zu zwingen, der Sache der proletarischen Revolution zu dienen. Eine solche „Parlamentsarbeit“ fordert besondere Kühnheit und einen besonderen revolutionären Geist: hier stehen die Menschen auf besonders gefährlichen Posten; sie legen dem Feinde Minen, während sie sich im Lager des Feindes befinden; sie gehen dazu ins Parlament, um diese Maschine in ihre Hände zu bekommen, um den Massen hinter den Mauern des Parlaments zu helfen, dasselbe in die Luft zu sprengen.

Sind wir für das Erhalten der bürgerlichen „demokratischen“ Parlamente als Form der Staatsverwaltung?

Nein, in keinem Fall. Wir sind für die Sowjets.

Sind wir aber für das Ausnutzen dieser Parlamente zu unserer kommunistischen Arbeit, solange wir noch nicht die Kraft haben, das Parlament zu stürzen?

Ja, wir sind dafür – in Anbetracht einer ganzen Reihe von Bedingungen.

Wir wissen sehr gut, dass es in Frankreich, Amerika, England noch nicht solche Parlamentarier aus der Mitte der Arbeiter gegeben hat. Dort beobachten wir bisher ein Bild parlamentarischer Verräterei. Das ist aber kein Beweis der Unrichtigkeit jener Taktik, die wir für richtig halten. Es handelt sich nur darum, dass es dort keine revolutionäre Partei des Proletariats gab in der Art der Bolschewiki oder der deutschen Spartakisten. Wenn es eine solche Partei gibt, kann alles ganz anders werden. Im Besonderen ist notwendig: 1) dass der Schwerpunkt des Kampfes außerhalb des Parlamentes liegt (Streiks, Aufstände und andere Arten des Massenkampfes); 2) dass die Aktionen im Parlament mit diesem Kampf verbunden sind; 3) dass die Deputierten auch illegale Arbeit leisten; 4) dass sie im Auftrag des Zentralausschusses und sich diesem unterordnend handeln; 5) dass sie in ihrem Auftreten nicht auf die parlamentarischen Formen Rücksicht nehmen (nicht direkte Zusammenstöße mit der bürgerlichen Mehrheit fürchten, „über diese hinweg“ reden usw.). Ob an den Wahlen im gegebenen Augenblick, während einer gegebenen Wahlkampagne teilgenommen werden soll, hängt von einer ganzen Reihe konkreter Bedingungen ab, die in jedem Lande in jedem gegebenen Moment besonders erwogen werden müssen. Die russischen Bolschewiki waren für Boykott der Wahlen in die erste Reichsduma im Jahre 1906. Und dieselben Bolschewiki waren für Teilnahme an den Wahlen in die zweite Reichsduma, als es sich gezeigt hatte, dass die bürgerlich-gutsherrliche Gewalt in Russland noch so manches Jahr lang herrschen würde. Vor den Wahlen in die deutsche Nationalversammlung im Jahre 1918 war ein Teil der Spartakisten für die Teilnahme an den Wahlen, der andere Teil dagegen. Die Partei der Spartakisten blieb aber eine einheitliche kommunistische Partei.

Wir können uns im Prinzip nicht von dem Ausnutzen des Parlamentarismus lossagen. Die Partei der Bolschewiki in Russland erklärte im Frühling 1918 auf ihrem 7. Kongress, als sie bereits an der Macht stand, in einem besonderen Beschluss, dass die russischen Kommunisten, falls die bürgerliche Demokratie in Russland durch eine besondere Verknüpfung der Umstände noch einmal Oberhand nähme, gezwungen werden könnten, zur Ausnutzung des bürgerlichen Parlamentarismus zurückzukehren. Man soll sich auch in dieser Hinsicht Spielraum lassen.

Was wir besonders betonen möchten, ist folgendes: die wirkliche Lösung der Frage geschieht unter allen Umständen außerhalb des Parlaments, auf der Straße. Jetzt ist bereits klar, dass Streik und Aufstand die einzigen Methoden des entscheidenden Kampfes zwischen Arbeit und Kapital sind. Daher sollen die Hauptbestrebungen der Genossen in der Arbeit in der Mobilisation der Massen bestehen. Gründung der Partei, Bildung eigener Gruppen in den Gewerkschaften und deren Eroberung; Organisation von Sowjets im Verlauf des Kampfes, Leitung des Massenkampfes, Agitation für die Revolution unter den Massen – alles das in erster Linie; Parlamentsaktionen und Teilnahme an der Wahlkampagne nur als eins der Hilfsmittel bei dieser Arbeit – nicht mehr.

Wenn dem so ist – und es ist zweifellos so – dann versteht es sich von selbst, dass es sich nicht lohnt, sich in Teile zu spalten, die nur in dieser jetzt nebensächlichen Frage verschiedener Meinung sind. Die Praxis des Prostituierens im Parlament war dermaßen ekelhaft, dass sogar die besten Genossen in dieser Frage Vorurteile haben. Diese sollen im Verlauf des revolutionären Kampfes überwunden werden. Wir wenden uns daher eindringlich an alle Gruppen und Organisationen, die einen wirklichen Kampf für die Sowjets führen, und rufen sie zum maximalen Zusammenschluss auf, sogar trotz der Uneinigkeit in dieser Frage.

Alle, die für die Sowjets und die proletarische Diktatur sind, wollen sich baldmöglichst vereinen und eine einheitliche kommunistische Partei bilden.

Mit kommunistischem Gruß

Vorsitzender des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale

G. Sinowjew.

1. September 1919

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