Rückblicke und Ausschau

Rückblicke und Ausschau

I.

Wir wollen versuchen, einen zusammenfassenden Rückblick zu werfen Die Geschichte des Petersburger Delegiertenrates – das ist die Geschichte von 50 Tagen. Am 26. Oktober fand die konstituierende Versammlung des Rates statt – und am 16. Dezember wurde die Sitzung des Rates durch eindringende Regierungstruppen gesprengt.

An der ersten Sitzung nahmen nur ein paar Dutzend Personen teil. Gegen Ende November stieg die Mitgliederzahl der Delegierten auf 562, darunter 6 Frauen. Sie vertraten insgesamt 147 Fabriken und Industrieetablissements, 34 Werkstätten und 16 Gewerkschaften. Das Hauptkontingent der Delegierten – 351 Personen – stellten die Metallarbeiter; sie spielten im Rat die ausschlaggebende Rolle. Die Textilarbeiter hatten 57 Delegierte entsandt, die Druckerei- und die Papierarbeiter 32, die Handelsangestellten 12 die Kontoristen und die Pharmazeuten 7. Als Ministerium des Rates fungierte das Exekutivkomitee; es wurde am 30. Oktober im Bestande von 31 Mitgliedern errichtet, 22 davon waren Ratsdelegierte, die übrigen 9 gewählte Parteivertreter – 6 von den Sozialdemokraten, 3 von den Sozialrevolutionären.

Was stellte nun im Grunde diese Körperschaft dar, die in einem kurzen Zeiträume, während der Revolution, sich eine so hervorragende Stellung erwarb und der Periode ihrer höchsten Machtentlastung den Stempel des eigenen Namens ausdrückte?

Der Rat organisierte die Arbeitermassen, leitete ihre politischen Streiks und Demonstrationen, bewaffnete die Arbeiter, schützte die Bevölkerung vor Pogromen. …

Aber das gleiche hatten schon vor ihm andere revolutionäre Organisationen getan, taten es zur selben Zeit mit ihm und setzten diese Tätigkeit auch nach seiner Auflösung fort, nur mit dem Unterschied, dass diese ihre Tätigkeit ihnen auch nicht einmal annähernd jenen Einfluss verschaffte, den der Rat in seinen Händen konzentrierte. Das Geheimnis dieses Einflusses ist darin zu suchen, dass der Rat als naturgemäßes Organ des Proletariats in dem Moment seines unmittelbaren, durch den ganzen Gang der Ereignisse bedingten Kampfes um die Macht entstanden war. Wenn die Arbeiter selbst einerseits und die reaktionäre Presse andererseits den Rat die „proletarische Regierung" nannten, so entsprach dies der Tatsache, dass der Rat in Wirklichkeit die Institution einer revolutionären Regierung darstellte. Der Rat realisierte die Gewalt, insoweit ihm durch die revolutionäre Macht der Arbeiterviertel die Möglichkeit dazu gegeben wurde; er kämpfte unmittelbar um die Gewalt, insoweit sie sich noch in den Händen der militär-polizeilichen Monarchie befand.

Bereits vor der Einsetzung des Rates finden wir in den Kreisen des industriellen Proletariats zahlreiche revolutionäre Organisationen, deren Leitung hauptsächlich von der Sozialdemokratie besorgt wurde. Aber das waren Organisationen im Proletariat; ihr unmittelbares Ziel war – der Kampf um den Einfluss aus die Massen. Der Rat aber schwang sich mit einem Schlage zur Organisation des Proletariats auf, sein Ziel warder Kampf um die revolutionäre Macht. Indem er zum Brennpunkt der revolutionären Kräfte des Landes wurde, ging er dennoch in dem Chaos der Revolution nicht auf, er war und blieb der organisierte Ausdruck des Klassenwillens des Proletariats. In seinem Kampfe um die Macht bediente er sich der Methoden, die sich naturgemäß aus dem Charakter des Proletariats als einer Klasse ergeben: aus seiner Rolle in der Produktion, seiner Zahl, seiner sozialen Gleichartigkeit. Noch mehr: den Kampf um die Macht an der Spitze aller revolutionären Kräfte verband er mit der allseitigen Leitung der Klassenselbsttätigkeit der Arbeitermassen, – nicht nur förderte er die Organisierung der Gewerkschaften, sondern mischte sich sogar in die Konflikte einzelner Arbeiter mit ihren Arbeitgebern. Und eben weil der Rat als demokratische Vertretung des Proletariats in einer revolutionären Epoche im Kreuzpunkt aller seiner Interessen stand, geriet er sofort unter den allbestimmenden Einfluss der Sozialdemokratie. Diese erhielt die Möglichkeit, mit einem Male die Summe der gewaltigen Vorzüge zu verwerten, die für sie aus der marxistischen Schulung flossen, und dank ihrer Fähigkeit, sich in dem großen Chaos politisch zu orientieren, wandelte sie fast ohne jede Anstrengung den formal parteilosen Rat in den organisatorischen Apparat ihres Einflusses um.

Das Hauptkampfmittel des Rates war der politische Massenstreik. Die revolutionäre Wirkung eines solchen Streiks besteht darin, dass sie über den Kopf des Kapitals hinweg die staatliche Gewalt desorganisiert. Je größer und allgemeiner die von ihm herbeigeführte Anarchie wird, um so näher dem Siege ist der Streik. Aber nur in dem einen Falle: wenn diese Anarchie nicht mit anarchistischen Mitteln herbeigeführt wird. Die Klasse, die aus dem Wege der einmaligen Arbeitseinstellung den Produktionsapparat und zu gleicher Zeit den zentralisierten Apparat der Staatsgewalt lahm legt, indem sie die einzelnen Teile des Landes von einander isoliert und eine allgemeine Unsicherheit erzeugt, muss selbst genügend organisiert sein, wenn sie nicht als erstes Opfer der von ihr geschaffenen Anarchie fallen will. In je höherem Maße der Streik die bestehende Staatsorganisation paralysiert, in um so höherem Maße muss die Organisation des Streiks selbst die Ausübung der Staatsfunktionen auf sich nehmen.

Die Bedingungen des allgemeinen Streiks als proletarischen Kampfesmittels waren zugleich die Bedingungen des gewaltigen Machteinflusses des Arbeiterdelegiertenrates.

Mit Hilfe des im Streik selbst liegenden Druckes erkämpfte der Rat die Pressefreiheit. Er organisiert reguläre Straßenpatrouillen, um die Sicherheit der Bürger zu gewährleisten. Mehr oder minder bemächtigt er sich der Post, des Telegraphen und der Eisenbahnen. Er greift gebieterisch in die Konflikte zwischen Arbeitern und Unternehmern ein. Er macht den Versuch, durch direkten revolutionären Druck den Achtstundentag obligatorisch einzuführen. Indem er das Getriebe des absolutistischen Staatsmechanismus durch die Streikbewegung lähmt, trägt er seine eigene demokratische Ordnung in das Leben der arbeitenden Bevölkerung der Städte.

Nach dem 22. Januar zeigte die Revolution, dass Sie das Bewusstsein der Arbeitermassen beherrsche. Am 27. Juni zeigte die Revolution durch den Aufstand auf dem Panzerschiff „Potemkin Tawritscheski", dass sie zu einer materiellen Kraft werden könne. Durch den Oktoberstreik zeigte sie, dass sie den „Feind zu desorganisieren", seinen Willen zu lähmen und ihn zur völligen Demut zu zwingen vermag. Endlich zeigte die Revolution durch die allerorts geschaffenen Arbeiterräte, dass sie wohl fähig sei, eine revolutionäre Macht zu etablieren. Eine revolutionäre Macht kann sich aber nur auf eine revolutionäre Kraft stützen. Unter welchem Gesichtswinkel auch immer wir die weitere Entwicklung der russischen Revolution betrachten mögen – Tatsache bleibt, dass bisher keine einzige gesellschaftliche Klasse, mit Ausnahme des Proletariats, die Fähigkeit und die Bereitschaft offenbart hat, eine Stütze der revolutionären Macht zu werden. Der erste Akt der Revolution war die Straßenbekanntschaft zwischen Proletariat und Monarchie, der erste ernste Sieg der Revolution wurde durch ein echtes Klassenwerkzeug des Proletariats, den politischen Streik, errungen; endlich ersteht als erstes Keimorgan der revolutionären Macht eine proletarische Vertretung. In der Gestalt des Rats tritt vor uns zum ersten Male auf dem Boden der neuen russischen Geschichte die demokratische Macht – die Macht der Masse selbst über ihre einzelnen Teile. Das ist in Wahrheit die echte unverfälschte Demokratie – ohne Doppelkammer, ohne Berufsbürokratie, mit dem Recht der Wähler, zu jeder beliebigen Zeit ihrem Deputierten den Abschied zu geben. Der Rat leitet unmittelbar, durch seine Mitglieder, den proletarischen Kampf in allen seinen Erscheinungsformen, die allgemeinen politischen Aufstände und die partiellen ökonomischen Konflikte.

Nach der Volkszählung von 1897 wies Petersburg 820.000 Köpfe „selbsttätiger" Bevölkerung auf; darunter 433.000 Arbeiter und Dienstboten; somit beträgt die proletarische Bevölkerung der Residenz 53 Prozent. Berücksichtigen wir auch die nicht selbsttätigen Elemente, So erhalten wir für das Proletariat die etwas niedrigere Ziffer von 50,8 Prozent. Jedenfalls gehört mehr als die Hälfte der Bevölkerung Petersburgs dem Proletarierstande an.

Der Arbeiterdelegiertenrat war nicht der offizielle Vertreter der fast eine halbe Million starken Arbeiterbevölkerung der Hauptstadt; seine Organisation umfasste etwa 200.000 Personen, hauptsächlich Fabrik- und Industriearbeiter, und wenn auch sein politischer Einfluss, der direkte wie der indirekte, sich auf einen umfangreicheren Kreis erstreckte, so blieben doch noch sehr bedeutende Schichten des Proletariats (Bauarbeiter, Dienstboten, Tagelöhner, Fuhrleute) sehr wenig oder gar nicht von ihm berührt. Unzweifelhaft aber darf man behaupten, dass der Rat die Interessen dieser ganzen Proletariermasse vertrat. Wenn es auch auf den Fabriken an sogenannten schwarzhundertlerischen Elementen nicht fehlte, so schmolz ihre Zahl sichtlich nicht nur von Tag zu Tag, sondern von Stunde zu Stunde. In den Proletariermassen Petersburgs konnte die politische Herrschaft des Rats nur Freunde und keine Feinde haben. Eine Ausnahme hätte nur die privilegierte Dienstbotenschaft bilden können, die Lakaien der würdengeschmückten Lakaien aus der hohen Bürokratie, die Kutscher der Minister, der Börsianer und der Kokotten – diese Konservativen und Monarchisten von Beruf.

Unter der Intelligenz, die in Petersburg so zahlreich vorhanden ist, zählte der Rat viel mehr Freunde als Feinde. Taufende der studierenden Jugend erkannten die politische Leitung des Rats an und unterstützten mit dem größten Eifer seine Schritte. Die diplomierte und beamtete Intelligenz mit Ausnahme der hoffnungslos im Sumpfe des Wohllebens versunkenen Elemente stand völlig auf seiner Seite.

Die energische Unterstützung des Post- und Telegraphenbeamtenstreiks ließ auch die niedrigeren Schichten des Beamtentums auf den Rat aufmerksam werden.

Alles, was es in der Stadt Geknechtetes, Enterbtes, Ehrliches, Lebensfähiges gab – alles das fühlte sich bewusst oder instinktiv zum Rat hingezogen.

Wer war gegen ihn? Die Repräsentanten des kapitalistischen Räubertums, die in Hausse machenden Börsianer, die Unternehmer, die Kaufleute und Exporteure, die durch die Streiks zum Ruin getrieben wurden, die Lieferanten des goldenen Pöbels, die Banditen vom Petersburger Stadtrat, diesem Syndikat von Hauseigentümern, die hohe Bürokratie, die im Reichsbudget bedachten Kokotten, die Ordensträger, die gut bezahlten öffentlichen Männer, die Schutzabteilung, – alles Habgierige, Brutale, Liederliche und dem Tode Geweihte.

Zwischen der Armee des Rats und seinen Feinden standen die politisch indifferenten, unschlüssigen oder unzuverlässigen Elemente. Die am meisten rückständigen Gruppen des Kleinbürgertums, die noch nicht mit in die Politik hineingezogen waren, kamen nicht dazu, den Rat genügend kennen zu lernen und für ihn Interesse zu fassen. Die Besitzer der Handwerkstätten waren beunruhigt und eingeschüchtert. Die Empörung über die den Ruin bringenden Ausstände kämpfte in ihnen mit der unklaren Erwartung einer besseren Zukunft.

Die aus dem Geleise geschleuderten professionellen Politiker der Intelligentenkränzchen, die radikalen Journalisten, die nicht wissen, was sie wollen, die vom Skeptizismus angefressenen Demokraten, kritisierten herabziehend den Rat, zählten an den Fingern seine Fehler auf und ließen durchblicken, dass wenn sie an der Spitze dieser Körperschaft stünden, das Proletariat für ewige Zeiten beglückt wäre. Als Entschuldigung für diese Herren kann nur ihre Ohnmacht gelten.

Jedenfalls war der Rat faktisch oder potentiell das Organ der weit überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung. Seine Feinde in den Kreisen der hauptstädtischen Bevölkerung hätten für seine politische Herrschaft keine Gefahr bedeutet, wenn sie nicht einen Rückhalt gehabt hätten an dem noch lebendigen Absolutismus, der sich seinerseits aus die rückständigsten Elemente in den Reihen der bäuerlichen Armee stützte. Die Schwäche des Rats war nicht seine eigene Schwäche – es war die Schwäche der städtischen Revolution.

Die Periode der fünfzig Tage war die Periode ihrer höchsten Macht. Der Rat war ihr Organ in dem Kampfe um die Gewalt. Der Klassencharakter des Rats wurde bestimmt durch die schroffe Klassengliederung der städtischen Bevölkerung und den tiefen politischen Antagonismus zwischen dem Proletariat und der kapitalistischen Bourgeoisie sogar in dem historisch beschränkten Rahmen des Kampfes mit dem Absolutismus Die kapitalistische Bourgeoisie bremste nach dem Oktoberstreik mit vollem Bewusstsein die Revolution, das Kleinbürgertum erwies sich als zu unbedeutend, um eine selbständige Rolle durchzuführen, das Proletariat war der unbestreitbare Heerführer der städtischen Revolution, seine Massenorganisation war ihr Organ im Kampfe um die Macht.

Je demoralisierter die Regierung war, desto stärker war der Rat. Je hilf- und ratloser neben ihm sich die alte Staatsmacht zeigte, in desto höherem Maße konzentrierte er die Sympathien der nichtproletarischen Schichten auf sich.

Der politische Massenstreik war die Hauptwaffe in den Händen des Rats. Dank dem Umstand, dass er alle Gruppen des Proletariats durch ein unmittelbares revolutionäres Band vereinigte und die Arbeiter eines jeden Betriebs durch die Autorität und Kraft der Klasse aufrecht erhielt, war ihm die Möglichkeit geboten, das ganze wirtschaftliche Leben des Landes zum Stillstand zu bringen. Obgleich die Produktions- und Kommunikationsmittel nach wie vor als Privatbesitz in den Händen der Kapitalisten und des Staates ruhten, obgleich die staatliche Gewalt bei der Bürokratie verblieb, stellte es sich dennoch heraus, dass die Verfügung über die nationalen Produktions- und Kommunikationsmittel, wenigstens insoweit es sich darum handelte, das regelmäßige Wirtschafts- und Staatsleben stillstehen zu lassen, in den Händen des Rats war. Und eben diese durch die Tat erhärtete Fähigkeit des Rats, den wirtschaftlichen Apparat zu desorganisieren und das Leben des Staats in den Zustand der Anarchie zu versetzen, machten ihn zu dem, was er war. Unter diesen Bedingungen wäre es die hoffnungsloseste Utopie gewesen, nach einem Mittel zu forschen, das eine Parallelexistenz des Rats und des alten Regimes ermöglicht hätte. Und doch haben alle gegen die Taktik des Rats erhobenen Einwendungen, wenn man ihnen auf den Grund gehen wollte, gerade diese eine phantastische Idee zum Ausgangspunkt: nach den Oktobertagen hätte der Rat, sich auf den dem Absolutismus abgerungenen Boden stützend, an die Organisation der Massen gehen müssen, ohne an irgend welche aggressiven Schritte zu denken.

Worin bestand aber dieser Oktobersieg?

Unzweifelhaft steht fest, dass der Absolutismus nach dem Oktobersturm sich selbst verloren gab. In Wirklichkeit aber hatte er die Schlacht keineswegs verspielt: er hatte nur den ihm hingeworfenen Fehdehandschuh nicht aufgenommen. Er unternahm keinen ernsten Versuch, seine bäuerliche Armee den vom Streikaufruhr erfassten Städten entgegen zu werfen Selbstverständlich ließ er sich hierbei nicht etwa von irgend welchen Humanitätsrücksichten leiten; er hatte einfach allen Mut und alle Geistesgegenwart verloren. Die liberalen Elemente der Bürokratie, die ruhig abwarteten, bis die Reihe an sie käme, erhielten das Übergewicht und veröffentlichten in dem Augenblick, wo der Streik schon im Abflauen war, das Manifest vom 30. Oktober, diesen prinzipiellen Verzicht auf den Absolutismus. Aber die ganze materielle Organisation der Gewalt: die Beamtenhierarchie, die Polizei, die Justiz, die Armee, blieb wie zuvor ungeteiltes Eigentum der Monarchie. Welche Taktik konnte und musste der Rat angesichts einer solchen Sachlage entfalten?

Seine Stärke ruhte darin, dass er, auf das produzierende Proletariat gestützt, dem Absolutismus die Möglichkeit nehmen konnte (insoweit er es konnte), den materiellen Apparat seiner Macht zu benutzen. Von diesem Standpunkt aus bedeutete die Tätigkeit des Rats die Organisierung der „Anarchie". Sein weiteres Bestehen und seine weitere Entwicklung bedeuteten die Festigung der „Anarchie". Eine Parallelexistenz von Fortdauer lag ganz und gar außer dem Bereich der Möglichkeit. Der künftige Konflikt war schon im Halbsieg vom Oktober, als besten materielle Grundlage, eingeschlossen.

Was blieb da dem Rat zu tun übrig? Sollte er sich stellen, als ob er das Unvermeidliche des Konflikts nicht einsehe? Sollte er so tun, als ob er die Massen um der Herrlichkeiten der Verfassung willen organisiere? Wer hätte ihm Glauben geschenkt? Gewiss weder der Absolutismus noch die Arbeiterklasse.

Wie herzlich wenig äußere Korrektheit, die leere Form der Loyalität im Kampfe gegen die Autokratie nützen, das hat uns später das Beispiel der beiden Dumen gezeigt. Um die Taktik der konstitutionellen Heuchelei in einem absolutistischen Lande einzuschlagen und mitzumachen, hätte der Rat aus anderem Teig gemacht sein müssen. Was hätte er aber in einem solchen Falle erreicht? Nichts anderes, als was später die Duma erreicht hat: nämlich den Bankrott.

Dem Rat blieb nur das Eine: anzuerkennen, dass der offene Zusammenstoß in der allernächsten Zukunft unvermeidlich sei; und er hatte keine andere Taktik bei der Hand, als die Vorbereitung zum Aufstand.

Worin aber konnte diese Vorbereitung bestehen, wenn nicht in der Vertiefung und Festigung gerade jener Eigenschaften, die ihm gestatteten, die Staatsmaschinerie abzustellen, und die seine Stärke bildeten? Aber die naturgemäßen Anstrengungen des Rats, diese Eigenschaften zu vertiefen und zu festigen, waren nur dazu angetan, den unvermeidlichen Konflikt zu beschleunigen

Der Rat machte es sich – je weiter, desto mehr – zur Aufgabe, seinen Einfluss auf die Armee und die Bauernschaft auszudehnen. Im November rief der Rat die Arbeiter auf, ihrer Brüderschaft mit der aus ihrem Schlaf erwachenden Armee in der Person der Kronstädter Matrosen aktiven Ausdruck zu verleihen. Dies unterlassen, hieß sich der Sorge um die Vergrößerung seiner Macht entschlagen. Dies tun, hieß jedoch dem Konflikt entgegengehen.

Oder gab es vielleicht irgend einen dritten Weg? Hätte der Rat etwa zusammen mit den Liberalen an die sogenannte „Staatsräson" der Regierung appellieren sollen? Ober hätte er die Scheidegrenze finden können und müssen, die die Rechte des Volks von den Prärogativen der Monarchie trennt, um an dieser geheiligten Schwelle halt zu machen? Wer aber hätte dafür gutstehen mögen, dass die Monarchie sich auf der anderen Seite verharren würde? Wer hätte sich der Mission unterzogen, den Frieden oder wenigstens einen temporären Waffenstillstand zwischen den kämpfenden Seiten herzustellen? Der Liberalismus? Eine seiner Deputationen machte am 31. Oktober dem Grafen Witte den Vorschlag, zum Zeichen der Aussöhnung mit dem Volk die Truppen aus der Residenz entfernen zu lassen. „Lieber ohne Elektrizität und Wasserleitung bleiben als ohne Militär", erwiderte der Minister. Offenbar hatte die Regierung auch nicht im Entferntesten im Sinn, abzurüsten. Was blieb somit dem Rat zu tun übrig? Entweder still abzudanken und die Sache der Versöhnungskammer, der Reichsduma, zu überlassen, wie im Grunde der Liberalismus forderte; oder aber sich darauf vorzubereiten, um mit bewaffneter Hand die Errungenschaften des Oktobers zu schützen und wenn möglich, einen weiteren Vorstoß in Feindesland zu unternehmen. Heute wissen wir sehr wohl, dass aus der Versöhnungskammer die Arena eines neuen revolutionären Konflikts wurde. Folglich hat die objektive Rolle, die die beiden ersten Dumen spielten, nur die Richtigkeit jener politischen Voraussetzung bestätigt, die das Proletariat seiner Taktik zugrunde gelegt hatte. Aber man braucht nicht einmal so weit zu gehen. Man braucht nur zu fragen: Was konnte und musste die bloße Entstehung dieser „Versöhnungskammer" garantieren, der es nicht beschieden war, auch nur irgend jemand zu versöhnen? Etwa immer noch dieselbe „Staatsräson" der Monarchie? Oder ihre feierliche Verpflichtung? Oder das Ehrenwort des Grafen Witte? Oder die Verbindungen der Semtzi in den Gesindestuben von Peterhof? Oder die warnende Stimme des Herrn Mendelssohn? Öder endlich jener „natürliche Gang der Dinge", auf den der Liberalismus alle politischen und ökonomischen Aufgaben gemächlich abladet, sobald die Geschichte von ihm selbst, von seiner Initiative, seiner Kraft, seiner Vernunft eine Lösung fordert?

Wenn aber der Zusammenstoß vorn Dezember unvermeidlich war –, ist nicht vielleicht der Grund seiner Niederlage in der Zusammensetzung des Rates selbst zu suchen? Es gab Stimmen, die behauptetem dass die Hauptsünde des Rats sein Klassencharakter gewesen sei. Um das Organ der nationalen Revolution zu werden, hätte der Rat seinen Rahmen erweitern müssen, damit in ihm die Vertreter aller Bevölkerungsschichten Platz fänden. Dadurch wäre die Autorität des Rats gefestigt und seine Macht vergrößert worden. Trifft dies zu?

Die Macht des Rats wurde durch die Rolle des Proletariats in der kapitalistischen Wirtschaft bestimmt. Die Aufgabe des Rats bestand nicht darin, sich in die Parodie eines Parlaments zu verwandeln, sondern darin, die Bedingungen für den Parlamentarismus zu schaffen; nicht darin, die gleichmäßige Vertretung der Interessen verschiedener sozialer Gruppen zu organisieren, sondern darin, in den revolutionären Kampf des Proletariats Einheit zu bringen. Das Hauptkampfmittel, das dem Rat zu Gebote stand, war der politische Streik, – eine Methode, die ausschließlich dem Proletariat als der Klasse der Lohnarbeit eigentümlich ist. Die Homogenität der Klassenzusammensetzung beseitigte die inneren Reibereien im Rat und befähigte ihn zur revolutionären Initiative.

Wie wäre denn die Zusammensetzung des Rates zu erweitern gewesen? Man hätte die Vertreter der liberalen Verbände hinzuziehen können und damit im besten Falle erreicht, dass die Mitgliederzahl des Rates um etliche Intellektuelle größer gewesen wäre. Ihr Einfluss im Rat wäre der Rolle des „Verbandes der Verbände" in der Revolution proportional gekommen, das heißt, er wäre eine unendlich kleine Größe gewesen.

Welche gesellschaftliche Gruppen aber hätten sonst noch im Rat vertreten sein können? Der Semstwokongress? Die Handels- und Industrieorganisation?

Der Semstwokongress tagte im November in Moskau; er befasste sich eingebend mit der Frage über Unterhandlungen mit dem Ministerium Witte, ließ es sich aber beileibe nicht in den Sinn kommen, die Frage über Unterhandlungen mit dem Arbeiterdelegiertenrat auf die Tagesordnung zu setzen.

Während dieser Kongress in vollem Gange war, brach der Aufstand in Sewastopol aus. Das war, wie wir ja sahen, für die Semtzi sofort ein Grund, nach rechts abzuschwenken, und Herr Miljukow ließ zur Beruhigung der Gemüter eine Rede vom Stapel, deren Inhalt darin gipfelte, dass der Aufstand gottlob bereits unterdrückt sei. In welcher Form hätte da ein revolutionäres Zusammengehen zwischen diesen Herren und den Arbeiterdelegierten, die die Sewastopoler Meuterer begrüßten, erzielt werden können? Diese Frage hat bis heute niemand befriedigend zu beantworten vermocht. Eines der zur Hälfte aufrichtigen, zur Hälfte heuchlerischen Dogmen des Liberalismus bildet das Postulat, dass die Armee außerhalb der Politik gelassen werden müsse. Der Rat aber verwandte im Gegenteil eine gewaltige Energie, um die Armee in die revolutionäre Politik hineinzuziehen. Oder hätte der Rat vielleicht, voller Vertrauen zu dem Manifest, die Armee der vollen Verfügung Trepows überlassen sollen? Und wenn nicht – auf Grund welches Programms wäre ein Zusammenwirken mit den Liberalen in dieser den Ausschlag gebenden Frage denkbar gewesen? Was hätten diese Herren in die Tätigkeit des Rates hineinbringen können außer systematischer Opposition, uferlosen Debatten und innerer Demoralisation? Was hätten sie uns geben können außer Ratschlägen und Fingerzeigen, die ohnehin schon bis zum Überdruss die Spalten der liberalen Presse füllten? Mag auch die wahre „Staatsräson" den Kadetten und Oktobristen innegewohnt haben – der Rat durfte sich nicht in einen Klub politischer Kannegießerei und gegenseitiger Belehrung verwandeln. Er musste ein Organ des Kampfes sein und das musste er auch bleiben.

Was hätten die Vertreter des bürgerlichen Liberalismus und der bürgerlichen Demokratie zur Macht des Rates beitragen können? Womit hätten sie seine Kampfmethoden bereichert? Man braucht sich nur ihre Rolle im Oktober, November und Dezember vor Augen zu halten, man braucht sich nur das Maß des Widerstandes vorzustellen, das diese Elemente der Auflösung ihrer Duma entgegenzustellen vermochten, um einzusehen, dass der Rat eine Klassenorganisation, das heißt Kampfesorganisation, bleiben konnte und musste. Die bürgerlichen Delegierten hätten ihn zahlreicher machen können, ihn jedoch mächtiger zu gestalten, dazu fehlte ihnen alle Fähigkeit und revolutionäre Energie.

Zugleich damit fallen alle jene rein rationalistischen, ungeschichtsmäßigen Anschuldigungen gegen die unversöhnliche Klassentaktik des Rates, die die Bourgeoisie in das Lager der Ordnung zurückwarf. Der Streik der Lohnarbeiter, der sich als mächtiges Werkzeug der Revolution erwies, brachte jedoch die „Anarchie" in die industrielle Wirtschaft. Schon dies allein bestimmte das oppositionelle Kapital, über alle Losungen des Liberalismus hinweg die Losung der Staatsordnung und der Kontinuität der kapitalistischen Exploitation zu erheben. Die Unternehmer beschlossen, dass der „herrliche" Oktoberstreik der letzte sein müsse – und organisierten den antirevolutionären Verband vom 30. Oktober. Grund genug dazu war für sie vorhanden. Jedem von ihnen war aus seiner Fabrik die Gelegenheit geboten, sich zu überzeugen, dass die politischen Eroberungen der Revolution unzertrennbar sind mit der Festigung der Position der Arbeiter gegen das Kapital.

Manche Politiker glaubten den Hauptfehler des Kampfes um den Achtstundentag darin erblicken zu müssen, dass dieser Kampf die Opposition endgültig zersplittert und das Kapital zu einer konterrevolutionären Macht vereinigt habe. Diese Kritiker möchten die Klassenenergie des Proletariats in der Verfügung der Geschichte wissen – jedoch ohne die Folgen des Klassenkampfs. Dass die eigenmächtige Einführung des Achtstundentags eine energische Reaktion seitens der Unternehmer hervorrufen musste und auch hervorrief, darüber braucht man nicht viel Worte zu verlieren. Kindisch aber ist die Annahme, als ob gerade diese Kampagne nötig gewesen sei, um die Kapitalisten mit der börsenkapitalistischen Regierung Wittes zu verbrüdern. Die Vereinigung des Proletariats zu einer selbständigen revolutionären Macht, die an die Spitze der Volksmassen tritt und eine ständige Bedrohung der „Ordnung" bildet, war an sich selbst ein ausreichendes Argument, um die Koalition des Kapitals mit der staatlichen Gewalt in die Bahnen zu leiten.

In der ersten Epoche der Revolution freilich, als diese sich nur in elementarem, sporadischem Aufflammen äußerte, wurde sie von den Liberalen geduldet. Sie sahen vorzüglich ein, dass die revolutionäre Bewegung den Absolutismus untergrabe und ihn auf den Weg der verfassungsmäßigen Vereinbarung mit der herrschenden Klasse dränge. Sie wussten sich mit den Streiks und Demonstrationen zu versöhnen, verhielten sich zu den Revolutionären freundschaftlich, kritisierten sie milde und vorsichtig. – Nach dem 30. Oktober, als die Bedingungen der konstitutionellen Vereinbarung bereits schriftlich niedergelegt waren und es, wie es schien, nur noch übrig blieb, sie ins Leben umzusetzen, da war die weitere Arbeit der Revolution nur geeignet, den Kuhhandel zwischen Liberalismus und Regierung zu vereiteln. Die Proletariermasse, durch den Oktoberstreik zusammengeschweißt, von innen heraus organisiert, brachte von nun an durch die bloße Tatsache ihres Bestehens den Liberalismus gegen die Revolution. Dieser letztere war der Meinung, dass der Mohr seine Schuldigkeit getan habe und nunmehr ruhig zu seiner Werkbank zurückkehren müsse. Der Rat dagegen hielt an der Anschauung fest, dass der heißeste Kampf noch vor ihm liege. Von irgend einem revolutionärem Zusammengehen zwischen kapitalistischer Bourgeoisie und Proletariat konnte unter diesen Umständen nicht die Rede sein.

Der Dezember folgt aus dem Oktober, wie der Schluss aus der Voraussetzung. Der Ausgang des Dezemberzusammenstoßes findet seine Erklärung nicht in einzelnen taktischen Fehlgriffen, sondern in jener entscheidenden Tatsache, dass die Reaktion sich an mechanischer Kraft der Revolution als überlegen erwies. Das Proletariat scheiterte in dem Dezember-Januarausstand nicht an den eigenen taktischen Fehlern, sondern an einer weit realeren Größe: an den Bajonetten der bäuerlichen Armee.

Der Liberalismus zwar huldigt der Anschauung, dass der Mangel an Kraft unter allen Umständen durch die Schnelligkeit der Füße ersetzt werden müsse. Als die wahrhaft männliche, reife, durchdachte und zweckmäßige Taktik empfiehlt er den Rückzug im entscheidendsten Moment. Diese liberale Philosophie des Deserteurtums blieb nicht ohne Eindruck auf einige Schriftsteller innerhalb unseres eigenen Lagers, die postnumerando die Frage aufs Tapet brachten: Wenn die Dezemberniederlage des Proletariats in der Unzulänglichkeit seiner Kräfte begründet sei, habe man nicht den Fehler gerade darin zu suchen, dass das Proletariat, ohne die nötigen Voraussetzungen für seinen Sieg zu besitzen, den Kampf überhaupt aufgenommen habe?

Hierauf kann man erwidern: wollte man sich in den Kampf nur dann stürzen, wenn man seines Sieges im Voraus vollkommen gewiss ist, dann gäbe es in der Welt überhaupt keinen Kampf. Die vorherige Summierung der Kräfte kann den Ausgang revolutionärer Zusammenstöße keineswegs vorausbestimmen; denn sonst hätte man schon längst an Stelle des Klassenkampfs die Klassenbuchführung setzen müssen. Noch ist es gar nicht lange her, dass die Kassierer einiger Gewerkschaften sich in dem Traume wiegten, ein solches Verfahren in die Streikpraxis einzuführen. Sie mussten indes einsehen, dass die Kapitalisten sich sogar bei der tadellosesten Rechenführung durch Auszüge aus dem Großbuch nicht überzeugen lassen und dass den Fiskalargumenten durch Streikargumente der nötige Nachdruck verliehen werden muss. Und mag der Voranschlag noch so peinlich genau gewesen sein – jeder Streik löst eine Reihe von neuen materiellen wie moralischen Momenten aus, die sich nicht voraussehen lassen und die unmittelbar den Ausgang des Kampfes bestimmen. Jetzt möge man in Gedanken die Gewerkschaft mit ihren präzisen Rechenmethoden fortlassen, – dann verbreite man den Streik über das ganze Land und stecke ihm ein hohes politisches Ziel; Stelle dem Proletariat die Staatsgewalt in der Eigenschaft des unmittelbaren Feindes gegenüber; umgebe beide mit Bundesgenossen wirklichen, möglichen, eingebildeten; nehme dazu die indifferenten Schichten, um deren Besitz heiß gestritten wird – die Armee, von der sich nur im Wirbel der Ereignisse der revolutionäre Flügel los schält – die übertriebenen Hoffnungen einerseits, die übertriebenen Befürchtungen andererseits, wobei wiederum die einen wie die anderen zu realen Faktoren der Ereignisse werden – die Paroxysmen der Börse und die sich kreuzenden Einflüsse der internationalen Verbindungen, – und man wird das Gesamtbild der Revolution erhalten. Unter diesen Bedingungen erscheint der subjektive Wille einer Partei, mag es auch die „leitende" sein, nur als eine der zahlreichen Komponenten, und zwar lange nicht als die bedeutendste. In noch höherem Grade, als es im Kriege der Fall ist, wird in der Revolution der Moment der Schlacht nicht so sehr durch die Berechnung der einen von den kämpfenden Seiten bestimmt, als vielmehr durch die gegenseitige Stellung der beiden feindlichen Armeen. Wohl lässt sich bisweilen im Kriege das Heer dank seiner mechanischen Disziplin ohne Kampf in seiner Gesamtheit aus der Schlachtlinie fortführen; in dergleichen Fällen muss sich der Heerführer immerhin fragen, ob nicht die Rückzugstaktik Demoralisierung in die Reihen seiner Armee tragen werde und ob er nicht, indem er heute der Niederlage ausweicht, sich eine schwerere für morgen vorbereite. Kuropatkin wüsste davon ein Lied zu singen. In der Revolution aber ist es vor allem ganz undenkbar, einen planmäßigen Rückzug durchzuführen. Wenn die Partei im Augenblick des Ansturms die Massen auch hinter sich weiß, so besagt dies noch nicht, dass sie dieselben mitten im Feuer nach eigenem Ermessen zurück dirigieren könne. Nicht die Partei führt die Massen, sondern die Massen stoßen die Partei vorwärts. Und diese Erscheinung wird sich in jeder Revolution wiederholen, mag ihre Organisation noch so stark sein. Unter solchen Bedingungen ohne Kampf zurückzutreten heißt, die Massen dem feindlichen Feuer preiszugeben. Freilich hätte die Sozialdemokratie als leitende Partei die Dezemberherausforderung der Reaktion unbeachtet lassen und – nach dem glücklichen Ausspruch Kuropatkins – sich „auf die vorher befestigten Positionen zurückziehen” können, das heißt in ihr unterirdisches Versteck. Damit hätte sie aber der Regierung nur die willkommene Handhabe geliefert, die unter der unmittelbarsten Anteilnahme der Partei geschaffenen legalen und halblegalen Arbeiterorganisationen einzeln zu zertrümmern, ohne einem geschlossenen Widerstand zu begegnen. Um diesen Preis hätte sich die Sozialdemokratie das zweifelhafte Privileg erkauft, auf der Zuschauerbank sitzend die Revolution an sich vorüberziehen zu lassen, um gleichzeitig über ihre Fehler zu räsonieren und tadellose Pläne auszuarbeiten, denen nur der eine Mangel anhaftet, dass sie erst dann auf der Bildfläche erscheinen, wenn man ihrer absolut nicht mehr bedarf. Es ist nicht schwer, zu begreifen, wie sehr dies zur Festigung des Bandes zwischen Partei und Masse beigetragen hätte!

Niemand darf die Behauptung aufstellen, dass die Sozialdemokratie den Konflikt forciert habe. Im Gegenteil. Am 4. November ließ der Arbeiterdelegiertenrat auf ihre Anregung hin die geplante Trauermanifestation ausfallen, um ja keinen Zusammenstoß zu provozieren, bevor man nicht versucht hätte, das „neue Regime“ der Kopflosigkeit und des Schwankens zu einer breiten Organisations- und Agitationsarbeit unter den Massen auszunutzen. Als die Regierung den allzu hastigen Versuch machte, das Land zu attackieren, und als erstes Experiment über Polen den Kriegszustand verhängte, ließ es der Rat aus seiner rein defensiven Taktik heraus nicht einmal auf die Probe ankommen, ob man den Novemberstreik zu einem offenen Kampf fortführen könne, sondern verwandelte ihn in eine Protestmanifestation, indem er sich mit seiner gewaltigen, moralischen Wirkung auf die Armee und die polnischen Arbeiter begnügte.

Aber wenn die Partei, geleitet von dem Bewusstsein der Notwendigkeit einer organisatorischen Vorbereitung, der Schlacht im Oktober und im November auswich, so wurde im Dezember diese Erwägung vollkommen hinfällig. Selbstverständlich nicht deshalb, weil diese Vorbereitung schon da war, sondern weil die Regierung – die auch keine Wahl hatte – den Kampf gerade mit der Vernichtung aller im Oktober und im November geschaffenen revolutionären Organisationen begann. Wenn unter diesen Umständen die Partei sich entschieden hätte, die Schlacht nicht anzunehmen, wenn sie sogar imstande gewesen wäre, die revolutionären Massen aus der offenen Arena zurückzuziehen, so wäre sie nur zu einem Aufstand unter noch ungünstigeren Bedingungen hin gedrängt worden: ohne Presse und breite Organisationen, in der Atmosphäre der unvermeidlichen Demoralisation als Folge des Rückzugs.

„… in der Revolution wie im Kriege”, sagt Marx, „ist es unumgänglich notwendig, im entscheidenden Moment alles zu wagen, wie die Chancen auch stehen mögen. Es gibt keine erfolgreiche Revolution in der Geschichte, die nicht die Wahrheit dieses Satzes bekundete … Eine Niederlage nach hartnäckigem Kampfe ist eine Tatsache von ebenso revolutionärer Bedeutung, wie ein leicht gewonnener Sieg. … Bei jedem Kampfe ist es selbstverständlich, dass derjenige, der den Handschuh aufnimmt, Gefahr läuft, geschlagen zu werden; aber ist das ein Grund, sich für geschlagen zu erklären und zu unterwerfen, ohne das Schwert gezogen zu haben?

In einer Revolution verdient ohne Unterschied jeder als ein Verräter behandelt zu werden, der eine entscheidende Position befehligt und sie übergibt, statt den Feind zu zwingen, einen Sturm zu versuchen” (K. Marx: „Revolution und Konter-Revolution in Deutschland”)

In seiner bekannten Vorrede zu Marx'Klassenkampf in Frankreich” schuf Engels Raum für große Missverständnisse, indem er den militärisch-technischen Schwierigkeiten des Aufstands (rasche Dislozierung der Truppen mit Hilfe der Eisenbahn – zerstörende Wirkung der modernen Gewehre und Geschütze – breite, lange und gerade Straßen in den heutigen Städten) die neuen, aus der Evolution der Klassenzusammensetzung der Armee sich ergebenden Siegeschancen gegenüberstellte. Einerseits zeigte sich hier Engels recht einseitig in der Bewertung der Rolle, die der modernen Technik bei revolutionären Aufständen zukommt; andererseits hielt er es nicht für notwendig oder bequem, darzulegen, dass die Evolution in der Klassenzusammensetzung der Armee politisch nur dann in Anschlag gebracht werden kann, wenn Volk und Armee “konfrontiert” werden.

Ein paar Worte über die eine, wie die andere Seite der Frage.*

Der dezentralisierte Charakter der Revolution macht die beständige Dislozierung der militärischen Kräfte zum Gebot. Engels meint, dass mit Hilfe der Eisenbahnen die Garnisonen innerhalb 24 Stunden mehr als verdoppelt werden können. Er lässt aber ganz außer acht, dass ein wirklicher Massenaufstand den Eisenbahnerstreik zur unerlässlichen Vorbedingung hat. Ehe die Regierung instand gesetzt wird, die gewollte Truppenverschiebung zu verwirklichen, sieht sie sich vor die Aufgabe gestellt, in hartem Kampfe mit dem streikenden Personal die Linie und das rollende Material in ihre Hände zu bekommen, den Verkehr zu organisieren, die gesprengten Brücken und die auseinandergenommenen Schienengeleise wieder herzustellen. Um dies fertigzubringen, genügen auch die trefflichsten Gewehre und schärfsten Bajonette nicht immer, und die Erfahrung der russischen Revolution lehrt uns, dass selbst der geringste Erfolg in dieser Richtung ungleich mehr erfordert, als bloße 24 Stunden. Weiter: Bevor sie an die Dislozierung ihrer Streitkräfte gehe, muss die Regierung über die Lage im Lande unterrichtet sein. Zu dieser Beziehung leistet ihr der Telegraphendraht keine geringeren Dienste, als die Eisenbahn bei der Dislozierung. Aber auch den Post- und Telegraphenbeamtenstreik hat der Aufstand wie zur Voraussetzung, so zur Folge. Sind die Aufständischen nicht imstande, das Post- und Telegraphenpersonal auf ihre Seite herüber zu ziehen, – eine Tatsache, die von der Schwäche der allgemeinen Bewegung zeugt! – so bleibt ihnen noch immer die Möglichkeit, die Telegraphenstangen umzustürzen und die Drähte abzureißen. Zwar bedeutet dies einen Verlust für beide Teile, aber die Revolution, deren Hauptkraft keineswegs in der automatisch wirkenden Organisation liegt, büßt bei weitem weniger ein. … Wie der Telegraph, so auch die Eisenbahn, bilden ohne Zweifel mächtige Werkzeuge des modernen zentralistischen Staats. Indes sie sind eine zweischneidige Waffe. Und wenn überhaupt das Bestehen der Gesellschaft und des Staats von der Kontinuität der proletarischen Arbeit abhängt, so gewinnt diese Abhängigkeit in Bezug auf den Eisenbahn-, wie den Post- und Telegraphenbetrieb den meistkonzentrierten Charakter. Verweigern Draht und Schiene den Dienst, so zerfällt der Regierungsapparat in einzelne Teile, die durch absolut keine, nicht einmal die primitivsten Kommunikationsmittel mehr mit einander verbunden sind. Unter solchen Umständen können die Dinge sehr weit gedeihen, ehe es der Regierung gelingt, die örtliche Garnison zu „verdoppeln".

Außer der Dislozierung der Truppen erwächst der Regierung noch eine Ausgabe: Der Transport der Kriegsvorräte. Die Schwierigkeiten, die sich bei der Lösung dieser Aufgabe aus dem allgemeinen Streik ergeben, sind uns bereits bekannt, nur kommt in diesem Falle noch eine neue hinzu: nämlich die Gefahr der Abfangung der Kriegsvorräte durch die Aufständischen. Diese Gefahr ist um so realer, je dezentralisierter der Charakter der Revolution ist und je größere Massen sie in ihren Wirbel mit hineinzieht. Wir sahen, wie aus den Moskauer Bahnhöfen die Waffen, die man vom Kriegsschauplätze zurück beförderte, von den Arbeitern in Beschlag genommen wurden. Ähnliche Tatsachen waren noch an vielen anderen Orten zu verzeichnen. So zum Beispiel im Kuban-Gebiet, wo ein Transport von Militärgewehren in die Hände der aufständischen Kosaken fiel. Die revolutionären Soldaten lieferten den Aufständischen die Patronen aus. … usw.

Bei alledem kann natürlich von einem militärischem Siege der Aufständischen über die Regierungstruppen keine Rede sein. An materieller Kraft sind diese letzteren unstreitbar weit überlegen, und im Grunde wird es sich stets nur um die Stimmung und die Haltung der russischen Soldaten handeln. Ohne Klassenverwandtschaft zwischen den beiden Armeen diesseits und jenseits der Barrikaden wäre ein Sieg der Revolution bei dem gegenwärtigen Stande der Technik tatsächlich ein Ding der Unmöglichkeit. Andererseits aber wäre es die größte Illusion, wenn jemand annehmen wollte, dass der „Übertritt der Armee zum Volk" sich in der Form dieser oder jener friedlichen und einmaligen Manifestation vollziehen kann. Die herrschenden Klassen, für die diese Frage Sein oder Nichtsein bedeutet, werden nie und nimmer unter dem Einflusse theoretischer Erwägungen über die Klassenzusammensetzung der Armee freiwillig aus ihren Positionen heraustreten. Ihre politische Stimmung, diese unbekannte Größe jeder Revolution, kann nur in dem Prozess des Zusammenstoßes zwischen Armee und Volk bestimmt werden. Diesen Zusammenstoß besorgt schon die Regierung selbst. Der Übergang der Armee in das Lager der Revolution ist ein moralischer Prozess, doch moralische Mittel allein genügen nicht, um ihn hervorzurufen. In der Armee treffen allerlei Stimmungen und Strömungen zusammen: bewusst revolutionär ist nur die Minorität, – die Majorität bleibt unschlüssig und harrt des Anstoßes von außen her. Aber in dem Falle ist sie fähig, die Waffen niederzulegen oder gar sie gegen die Reaktion zu richten, wenn in ihr der Glaube an den Sieg des Volks Boden zu fassen beginnt. Ein solcher Glaube lässt sich aber durch bloße Agitation nicht pflanzen. Erst wenn der Soldat sich überzeugt hat, dass das Volk die Straße zum tödlichen Kampfe betreten habe, nicht nur, um gegen die Behörden zu demonstrieren, sondern um den Zarismus zu stürzen, erst dann wird der „Übertritt der Armee zum Volk" psychologisch möglich. Somit ist der Aufstand seinem Wesen nach nicht sowohl ein Kampf mit der Armee, als vielmehr ein Kampf um die Armee. Je zäher, breitzügiger und erfolgreicher der Aufstand ist, um so wahrscheinlicher und unausbleiblicher ist der Umschlag in der Stimmung der Armee. Der Guerillakampf auf der Grundlage des revolutionären Streiks – das, was wir in Moskau beobachten konnten – kann an sich selbst den Sieg nicht ergehen. Er liefert aber die Möglichkeit, die Stimmung der Soldaten zu sondieren – und nach dem ersten bedeutenden Erfolg, das heißt, wenn sich ein Teil der Garnison dem Aufstande angeschlossen hat, kann sich der Guerillakampf in einen Massenkampf verwandeln, bei dem der eine Teil der Armee, unterstützt von der bewaffneten und unbewaffneten Bevölkerung, gegen den anderen, den vom allgemeinen Hasse umloderten, kämpfen wird. Dass der Übertritt der Armee zum Volke kraft der Klassen- und moralisch-politischen Ungleichartigkeit der Armee in erster Linie den Kampf zweier Armeehälften gegeneinander bedeutet, das haben wir zweimal bei der Schwarzmeer-Flotte gestehen, in Kronstadt, in Sibirien, im Kuban-Gebiet, später in Sweaborg und an anderen Orten. In allen diesen Fällen zeigten sich die vollkommensten Werkzeuge des Militarismus – die Maschinengewehre, die Festungsartillerie und die Panzerschiffe nicht nur in den Händen der Regierung, sondern auch im Dienste der Revolution.

Auf Grund der Erfahrungen des blutigen Sonntags in Petersburg vom 22. Januar 1905 zog ein englischer Journalist, ein gewisser Herr Arnold White, den genialen Schluss, dass, wenn Ludwig XVI. ein paar Maximgeschütze zur Verfügung gehabt hätte, es gar nicht zu der großen französischen Revolution gekommen wäre. Welch kümmerlicher Aberglaube, anzunehmen dass die historischen Chancen einer Revolution sich an Gewehrkalibern und Kanonenrohrdurchmessern abwägen lassen! Die russische Revolution hat aufs Neue den Beweis erbracht, dass nicht die Gewehre, Kanonen und Panzerschiffe die Menschen, sondern zu guter Letzt die Menschen die Gewehre, Kanonen und Panzerschiffe beherrschen.

II.

Am 24. Dezember wurde von dem Ministerium Witte-Durnowo, das sich zu jener Zeit bereits zum Ministerium Durnowo-Witte gehäutet hatte, das Wahlgesetz erlassen. Während der Landadmiral Dubassow in der Presnja dem Ehrenschild der russischen Flotte zu neuem Glanze verhalf, beeilte sich die Regierung, den legalen Weg zur Vereinbarung zwischen der besitzenden Klasse und der bürokratischen Monarchie zu eröffnen. Von diesem Momente an rollt sich der seinem Wesen nach revolutionäre Kampf um die Macht im großen Ganzen unter konstitutionellem Deckmantel ab.

In der ersten Duma hatten sich die Kadetten als die Wortführer der Nation gebärdet. Da die Volksmassen, mit Ausnahme des städtischen Proletariats, sich erst in einer chaotischen, oppositionellen Stimmung befanden und da die Wahlen von den Parteien der äußersten Linken boykottiert wurden, so erschienen die Kadetten als die Herren der Situation. Sie vertraten das ganze Land: den liberalen Gutsherrn, den liberalen Kaufmann, den Advokaten, den Arzt, den Beamten, den Krämer, den Kommis, zum Teil auch den Bauer. Obwohl die Leitung der Partei in den Händen der Gutsherren der Professoren und der Advokaten verblieb, so wurde sie doch unter dem Einfluss der Interessen und der Bedürfnisse des Dorfes, die alle anderen Fragen zurücktreten ließen, nach links gedrängt; es kam zu der Auflösung der Duma und dem Wyborger Manifest, das in der Folge den liberalen Spießern so viele schlaflose Mächte bereitet hat.

In die zweite Duma kehrten die Kadetten in geringerer Anzahl zurück aber sie hatten nach der Erklärung von Miljukow den Vorzug, dass hinter ihnen nicht mehr der unbestimmt unzufriedene obywatel (der simple Einwohner), sondern der zielbewusste Wähler stand, der seine Stimme zugunsten der antirevolutionären Plattform abgegeben hatte. Während die Hauptmasse der Grundbesitzer und die Vertreter des Großkapitals in das Lager der aktiven Reaktion übergingen, stimmten das städtische Kleinbürgertum, das kaufmännische Proletariat und der kleine Mann der Intelligenz für die linken Parteien. Die Kadetten behielten einen Teil der Gutsbesitzer und die mittleren Schichten der Stadt. Links von ihnen standen die Vertreter der Bauern und der Arbeiter.

Die Kadetten bewilligten der Regierung das Rekrutenkontingent und versprachen, das Budget zu bewilligen. Sie hätten auch ebenso gut für neue Anleihen zur Deckung des Staatsdefizits gestimmt und keinen Augenblick gezögert, die Verantwortung für die alten Staatsschulden des Absolutismus zu übernehmen. Golowin, diese Jammergestalt, die am Präsidententisch die ganze Niedertracht und Ohnmacht des Liberalismus zu verkörpern hatte, sprach nach der Auflösung der Duma den Gedanken aus, dass die Regierung doch eigentlich in dem Auftreten der Kadetten ihren Sieg über die Opposition hätte erblicken sollen. Dies stimmt vollkommen. Scheinbar gab es unter solchen Verhältnissen gar keinen Grund, die Duma aufzulösen. Und doch wurde sie aufgelöst. Das beweist, dass es eine Kraft gibt, die stärker ist als die politischen Gründe des Liberalismus. Diese Kraft ist die innere Logik der Revolution.

Im Widerstand gegen die durch die Kadetten geleitete Duma kam das Ministerium immer mehr zum Bewusstsein seiner Macht. Hier sieht es nicht mehr geschichtliche Aufgaben vor sich, die eine Lösung heischten, sondern politische Gegner, die es unschädlich zu machen galt. Als Nebenbuhler der Regierung und als Prätendenten der Gewalt figurierte ein Häuflein Advokaten, die sich die Politik etwa als eine höhere Art von Gerichtsdebatte vorstellten. Ihre politische Beredsamkeit schwankte zwischen dem juristischen Syllogismus und der schön stilisierten Phrase. In den Debatten über die Feldgerichte traten sich beide Parteien entgegen. Maklakow, der Moskauer Rechtsanwalt, in dem die Liberalen ihren Mann der Zukunft sahen, unterwarf die Justiz der Feldgerichte und mit ihr die gesamte Politik der Regierung einer vernichtenden juristischen Kritik.

Aber die Feldgerichte sind doch kein juristisches Institut", antwortete ihm Stolypin. „Sie sind ein Kampfmittel. Sie beweisen, dass dieses Kampfmittel nicht rechtmäßig sei. Dafür aber ist es zweckmäßig. Das Recht ist nicht Selbstzweck. Wenn der Existenz des Staates Gefahr drohe, so hat die Regierung nicht nur das Recht, lindern die Pflicht, über das Recht hinaus, an die Quelle der Macht zu greifen!"

Diese Antwort, die in sich nicht nur die Philosophie des Staatsstreichs, sondern auch die des Volksaufstandes enthält, versetzte den Liberalismus in Bestürzung. Das ist ein unerhörtes Eingeständnis! schrien die liberalen Publizisten und beteuerten zum tausendsten Mal, dass das Recht über die Macht gehe.

Aber ihre gesamte Politik überzeugte das Ministerium vom Gegenteil Sie wichen zurück, Schritt für Schritt. Um die Duma vor der Auflösung zu schützen, gaben sie alle ihre Rechte preis, eines nach dem anderen, und lieferten damit den augenscheinlichen Beweis, dass Macht über Recht gehe. Auf diese Weise musste die Regierung unbedingt zu dem Gedanken kommen, ihre Macht aufs Äußerste auszunützen.

Die zweite Duma gesprengt – und als neuer Bewerber um das revolutionäre Vermächtnis tritt nunmehr der konservative Nationalliberalismus in Gestalt des Verbundes vom 30. Oktober in die Arena. Wie die Kadetten in sich die Erben des revolutionären Nachlasses erblickt hatten, so erwiesen sich die Oktobristen als die Erben der kadettischen Taktik der Vereinbarungen. Mögen die Kadetten noch so verächtliche Fratzen hinter dem Rücken der Oktobristen schneiden – diese letzteren ziehen nur die Schlüsse aus den kadettischen Voraussetzungen: kann man sich auf die Revolution nicht stützen, so stütze man sich auf den Stolypinschen Konstitutionalismus.

Die dritte Duma bewilligte der zarischen Regierung eine halbe Million Rekruten, wiewohl sich die ganze Reformtätigkeit im Ressort Kuropatkins und Stöffels in nichts anderem äußerte, als neuen Litzen, Knöpfen und Achselstücken. Sie stimmte für das Budget des Ministeriums des Innern, das 70 Prozent des russischen Territoriums den mit dem Henkerstrick der Ausnahmegesetze bewaffneten Satrapen auslieferte und auf dem Gebiet der übrigen 30 Prozent unter Anwendung der zur „normalen" Zeit gültigen Gesetze hängt und würgt. Sie sanktionierte und verschärfte sogar den berühmten Erlass vom 22. November 1906, der auf der Grundlage des § 87 durchgeführt wurde und den Zweck hat, aus der Mitte der Bauernschaft eine Schicht wirtschaftlich starker Eigentümer herauszuheben, die ganze übrige Masse aber der natürlichen Auslese im biologischen Sinne dieses Wortes zu überlassen. Der Enteignung der Gutsbesitzerländereien zugunsten der Bauernschaft stellte die Regierung die Enteignung der bäuerlichen Gemeindeländereien zugunsten der Dorfwucherer entgegen. „Das Gesetz vom 22. November", sagte einer der extremsten Reaktionäre der dritten Duma, „enthält in sich Knallgas genug, um ganz Russland in die Luft zu sprengen."

Durch die Unversöhnlichkeit des Adels und der Bürokratie, die von neuem als unbeschränkte Herren der Situation dastehen, in eine historische Sackgasse getrieben, suchen die bürgerlichen Parteien den Ausweg aus den ökonomischen und politischen Gegensätzen ihrer Lage – im Imperialismus. Für die Niederlagen in der inneren Politik suchen sie Kompensationen in der äußeren: im fernen Osten (Amurbahn!), in Persien oder auf der Balkanhalbinsel. Die sogenannte „Annexion" von Bosnien und der Herzegowina löste in Petersburg und Moskau ein betäubendes Schellengeklapper des Patriotismus aus. Dabei schreitet diejenige unter den bürgerlichen Parteien, die die größte Opposition gegenüber dem alten Regime entwickelt hatte – die kadettische Partei – an der Spitze des säbelrasselnden „Neoslawismus": sie sucht in dem kapitalistischen Imperialismus die Lösung jener Aufgaben, die die Revolution nicht gelöst hat. Durch den Gang der letzteren zu dem faktischen Verzicht aus die Enteignung des großen Grundbesitzes und die Demokratisierung der ganzen gesellschaftlichen Ordnung gezwungen und somit auch zum Verzicht auf die Hoffnung, für die kapitalistische Entwicklung einen stabilen inneren Markt in der Gestalt der „Bauernfarmer" schaffen zu können, übertragen die Kadetten ihre Zuversicht auf die äußeren Märkte. Um hier aber Erfolg zu haben, bedarf es einer starken Staatsgewalt – und die Liberalen sehen sich gezwungen, dem Zarismus, als deren realen Träger, aktive Unterstützung angedeihen zu lassen. Der oppositionell gefärbte Imperialismus Miljukows verleiht gewissermaßen einen „ideologischen" Anstrich der widerlichen Kombination, die der dritten Duma zugrunde liegt: dieser Kombination aus dem selbstherrlichen Bürokraten, dem von der Kultur nur beleckten Gutsbesitzer und dem schmarotzerischen Kapitalisten.

Die so geschaffene Lage scheint ganz unerwartete Folgen in ihrem Schoße zu bergen. Die Regierung, die ihr Machtprestige in den Wassern Tsuschimas und auf den Feldern Mukdens zu Grabe getragen hat, über deren Haupt die furchtbaren Folgen ihrer Abenteurerpolitik hereingebrochen waren, sieht sich mit einem Male im Brennpunkt des Vertrauens der Vertreter der „Nation". Nicht nur, dass sie ohne den geringsten Widerspruch eine halbe Million frischer Soldaten und über eine Milliarde Mark für die laufenden Heeresaufgaben bekommt: sie findet auch die Unterstützung der Duma bei allen ihren neuen Experimenten im fernen ober nahen Osten. Aber besten noch nicht genug: von rechts und von links, von den Kadetten und den Schwarzhundertlern, wird ihr der Vorwurf entgegengehalten, dass sie in ihrer äußeren Politik zu wenig Aktivität an den Tag lege. Auf diese Weise wird die Regierung durch die ganze Logik der Dinge auf den waghalsigen Weg des Kampfes um die Wiederherstellung ihrer Position in der Weltpolitik hin gedrängt. Und wer weiß? Vielleicht wird das Schicksal der Autokratie, ehe es auf dem Straßenpflaster von Petersburg und Warschau einschieben wird, vorher noch eine Probe auf den Amurfeldern oder am Gestade des Schwarzen Meeres zu bestehen haben.

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