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Leo Trotzki 19171222 Antwort an die sozialistische Fraktion des französischen Parlaments

Leo Trotzki: Antwort an die sozialistische Fraktion

des französischen Parlaments

[Iswestija Nr. 248, 10./23. Dezember 1917. Eigene Übersetzung nach Л. Троцкий. Сочинения. Том 3, часть 2. Москва-Ленинград, 1925]

Die Parlamentsfraktion der Französischen Sozialistischen Partei1 wendet sich an die russischen Sozialisten mit einem Appell, in dem Vorwürfe mit Mahnungen und Ratschlägen verbunden werden. Der Inhalt des Appells ist natürlich die Frage der Gefahr eines Separatfriedens.

Woher kommt diese Gefahr? Der Appell spricht von der verbrecherischen Politik des Zarismus, die das Land zerrüttete und erschöpfte, und erinnert an die Begeisterung, mit der die französischen Sozialisten die russische Revolution begrüßten haben. Diese Erinnerung benötigt jedoch eine Korrektur. Von Beginn des Krieges an empfahlen uns, den russischen Revolutionären, französische und belgische Sozialpatrioten eindringlich, einen Waffenstillstand mit eben diesem Zarismus zu schließen, der das Land zerrüttete und erschöpfte. Bürger Vandervelde schrieb in diesem Sinne eine Botschaft an russische Genossen mit Hilfe von Diplomaten des Zarismus.

Die Bürger Guesde, Sembat und Thomas gaben uns den gleichen Ratschlag. Ihre Anhänger, die russischen Sozialpatrioten, hemmten die Entwicklung der Revolution mit allen Mitteln, verlängerten die Agonie des Zarismus und trugen damit zur Zerrüttung und Erschöpfung des Landes bei.

Die Februarrevolution, die den Zarismus stürzte, war nach ihren unmittelbaren Folgen eine bürgerliche Revolution. Sie stellte die extremen Vertreter des russischen Imperialismus, Gutschkow und Miljukow, an die Macht. Diese internationalen Raubritter fühlten sich unter den Vertretern der Börsen von Paris, London und New York unter ihresgleichen. Sie versuchten, die ganze Revolution mit den von ihr erweckten Leidenschaften und Hoffnungen vor den Karren des alliierten Imperialismus zu spannen. Deshalb haben wir ihnen einen unerbittlichen Krieg erklärt. Wir machten und machen keinen grundlegenden Unterschied zwischen dem Imperialismus der Mittelmächte und der alliierten Ländern. Man versuchte uns davon zu überzeugen, dass sich die alliierten Länder in einem Zustand der legitimen Selbstverteidigung befänden, und zog daraus die Schlussfolgerung, dass alliierte Sozialisten mit der Bourgeoisie und sogar mit dem Zarismus Hand in Hand gehen müssten. Dies ist die Grundlage der Politik der heiligen Einheit (l'union sacrée). Aber auf der anderen Seite der Schützengräben verkündeten die Sozialisten Deutschlands und Österreich-Ungarns, dass es ihre Länder seien, die sich in einem Zustand legitimer Verteidigung befänden und schlossen mit ihren Monarchien ein heiliges Bündnis. Das Proletariat Europas war politisch in zwei Lager zerrissen, und daher verschwand die einzige Kraft von der politischen Arena, die den Wahnsinn des Krieges stoppen konnte.

Wir forderten, dass Regierungen, die an das Prinzip legitimer Verteidigung appellierten, diejenigen Verträge veröffentlichen, die die Grundlage ihrer ganzen früheren, zum Krieg führenden Politik bildeten. Wir sahen es als katastrophal und beschämend an, die Politik des Proletariats in den größten Epochen der Welt abhängig von spekulativen Überlegungen darüber zu bestimmen, welche der nationalen kapitalistischen Diplomatien in den letzten Wochen vor dem Krieg mehr Frechheit oder Täuschung gezeigt hat. Keine der bürgerlichen Regierungen veröffentlichte ihre internationalen Verträge, weil jedes dieser Dokumente die Heuchelei eines Verteidigungskrieges enthüllte.

Die Aufgabe des revolutionären Sozialismus, wie wir sie verstanden, bestand darin, das Proletariat dem Einfluss nationalistischer Ideen zu entreißen und seine revolutionäre Energie auf den Kampf gegen Krieg, Imperialismus und das kapitalistische System auszurichten. Der Basler Internationale Sozialistenkongress hat uns diese Aufgabe vorgeschrieben. Aber in der Minute des Krieges unterwarf der mächtige Druck der Bourgeoisie die opportunistischen, parlamentarischen Führer der Arbeiterbewegung ihrem Einfluss. Das internationale Proletariat war lange Zeit zersplittert und geschwächt. Der Krieg, der nicht auf Widerstand stieß, nahm einen langwierigen Charakter an und drohte damit, die gesamte europäische Kultur zu zerstören.

Mehr als drei Jahre haben gezeigt, dass es auf Grundlage des Krieges keinen Ausweg aus dem Krieg gibt. Dem Volk Frankreichs versprach man jedes Mal am Vorabend jeder neuen Offensive einen endgültigen Sieg. Diese Hoffnungen waren immer illusorisch. Aber die militärischen Siege der Hohenzollern-Armee ließen das deutsche Volk nicht aus der blutigen Sackgasse herauskommen. Im rein militärischen Sinne sind wir jetzt von einer Lösung so weit entfernt wie in den ersten Kriegsmonaten.

Der russische Sozialismus suchte einen Ausweg aus dem Krieg auf dem Weg der Revolution.

Nach dem Fall der rein bürgerlichen Diktatur der Gutschkows und Miljukows wurden sozialistische Kompromissler, russische Anhänger von Scheidemann, Vandervelde und Guesde an die Macht gebracht. Sie versuchten, den Rahmen der alten imperialistischen Allianz intakt zu halten. In diesem Rahmen forderten sie die Alliierten auf, die alten Verträge zu überprüfen und damit einen frühen Friedensschluss zu fördern. Was sind die Früchte dieser Politik respektvoller Ermahnungen? Keine. Alliierte Diplomaten, darunter auch französische, gaben allgemeine Phrasen und unbestimmte Versprechungen von sich. Und der offizielle französische Sozialismus? Wenn seine Taktik richtig gewesen wäre, hätte man politisch die Macht entdecken müssen, die die Geschichte dem heroischen Proletariat Frankreichs gegeben hatte. Aber das war nicht in Sicht. Die französische Parlamentsfraktion bewilligte der Regierung alle Kriegskredite, konnte aber im Gegenzug keine eindeutige und ernste Antwort zu den Kriegszielen erreichen. Darüber hinaus erlebten französische Sozialisten jedes Mal eine Verweigerung der Ausgabe von Pässen, wenn es um eine internationale Konferenz der Sozialisten ging. Eine Politik, die den Sozialismus in eine solche Position bringt, kann keine richtige Politik sein. Und die französische parlamentarische Fraktion, die für diese Demütigung des offiziellen französischen Sozialismus völlig verantwortlich ist, hat sich dadurch das Recht genommen, als Richter zu handeln, der über den russischen „Maximalismus"2 ein strenges Urteil fällt.

Am wenigsten hat der offizielle französische Sozialismus das Recht, uns den separaten Waffenstillstand vorzuwerfen und uns für die Gefahr eines Separatfriedens verantwortlich zu machen.

Wir haben einen allgemeinen Waffenstillstand vorgeschlagen. Wir appellierten an alle kriegführenden Völker und ihre Regierungen mit dem Vorschlag von sofortigen Verhandlungen über einen allgemeinen Frieden. Diese Verhandlungen bedeuten für keinen der Teilnehmer – und am wenigsten für uns – die Bereitschaft, Frieden um jeden Preis zu schließen. Aber die Verhandlungen erfordern die Zustimmung jedes einzelnen Landes, öffentlich zu erklären, welche Ziele es im Krieg verfolgt und welche Prinzipien es für den Friedensschluss aufstellt. Wir haben für unsere Partei die alten Raubverträge veröffentlicht, sie für ungültig erklärt und einen Frieden auf der Grundlage der Demokratie vorgeschlagen. Die französische Bourgeoisie reagierte auf diesen Vorschlag mit der Bildung des Kabinetts Clemenceau, d. h. einer Regierung des Chauvinismus und der sozialen Reaktion. Der offizielle französische Sozialismus antwortet mit Vorwürfen und Anschuldigungen – aber nicht an die Adresse der französischen Bourgeoisie, sondern an die Adresse des russischen Proletariats. „Die heilige Einheit" bleibt daher auch unter dem Kabinett Clemenceau in all ihrer Macht bestehen.

Nicht weniger als die französische Parlamentsfraktion streben wir einen allgemeinen demokratischen Frieden an. Wir haben dies mit unserem ganzen Kampf bewiesen. Aber ein solcher Frieden kann nur durch den heroischen Ansturm des Proletariats jedes Landes gegen seine eigene nationale Bourgeoisie erreicht werden. Die „Heilige Einheit" schließt die Möglichkeit eines solchen Ansturms aus. Sie bindet das Proletariat an Hand und Fuß und macht es zu einem willenlosen Werkzeug der Bourgeoisie.

Das französische Volk braucht Frieden, nicht weniger als die Völker anderer Länder. Clemenceaus Weg ist nicht der Weg des Friedens – das ist der Weg des Todes des französischen Volkes. Das französische Proletariat muss dies einfach verstehen. Das französische Proletariat – wir glauben fest daran – wird seine Stimme und die Forderung nach der Beteiligung des regierenden Frankreichs an Friedensverhandlungen erheben. Wer keinen Separatfrieden will, wage es nicht, sich zu weigern, an den Verhandlungen, das heißt an der offenen Darlegung seiner Friedensbedingungen, teilzunehmen.

Die Friedensverhandlungen sind eröffnet, der Rat der Volkskommissare wird bei diesen Verhandlungen die Interessen und Prinzipien des internationalen Sozialismus verteidigen. Das revolutionäre Proletariat Frankreichs wird nicht fern bleiben. Gegen seine Bourgeoisie wird es über die Köpfe der offiziellen parlamentarischen Führer hinweg seine Stimme erheben – für die sofortige Einstellung des Gemetzels an allen Fronten und für einen ehrlichen demokratischen Frieden aller Völker.

Volkskommissar für auswärtige Angelegenheiten

L. Trotzki

1 Zu jener Zeit wurden sowohl die Partei als auch die Parlamentsfraktion von den Führern des rechten Flügels geleitet – Renaudel, Thomas und andere.

2 Teils wurde im Ausland der Bolschewismus als „Maximalismus“ bezeichnet. [Der Übersetzer]

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