Leo Trotzki‎ > ‎1918‎ > ‎

Leo Trotzki 19181109 Der Kriegszustand

Leo Trotzki: Der Kriegszustand

Vortrag, gehalten am 9. November 1918 auf dem VI. Sowjetkongress.

[nach Leo Trotzki: Die Geburt der Roten Armee. Wien 1924, S. 145-156]

In den vier Monaten, die seit dem Julikongress vergangen sind, haben sich in der Weltlage und im inneren Leben aller Länder gewaltige Veränderungen vollzogen, die eine unmittelbare Widerspiegelung im Leben und in der Entwicklung unserer Roten Armee gefunden haben.

Als wir in den denkwürdigen Julitagen eine der schärfsten Krisen im Leben der seit neun Monaten bestehenden Sowjetrepublik durchmachten, war unsere Rote Armee noch sehr schwach, und – was besonders schlimm war – selbst in unseren Kreisen, in Sowjetkreisen, wurde mitunter ihre künftige Entwicklungsfähigkeit angezweifelt; damals zweifelten viele Genossen, ob es bei der außerordentlichen Ermattung der gesamten erwachsenen männlichen Bevölkerung des Landes, bei der Erschöpfung und Verblutung des ganzen Wirtschafts- Organismus der Republik möglich wäre, in kurzer Zeit eine festgefügte, geschulte und schlagfähige Rote Armee zu schaffen.

Damals im Juli hat, wie Sie sich, Genossen, erinnern, eine Partei, die einen gewissen Sektor in diesem Saale einnimmt, prinzipiell der Arbeiter- und Bauernarmee gegenüber die Freischärlertruppen verfochten. Aus dem Lager der damals noch bestehenden Partei der linken Sozialrevolutionäre wurde uns gesagt, das revolutionäre Regime könnte keine regulären Truppen zustande bringen, es müsse sich auf die Schaffung von Freischärlertruppen beschränken. Das war ein gefährlicher Nonsens. Die Freischärlertruppen genügen für die Periode des Kampfes um die Macht und der ersten Kindheitsperiode der Entwicklung. Je mehr die herrschende Klasse die Macht in militärischer Hinsicht auszuüben beginnt, desto mehr geht sie von den Methoden des Dilettantismus und Freischärlertums zu dem planmäßigen staatlichen Aufbau über und sieht sich gezwungen, eine reguläre Armee zu schaffen. Ich glaube, Genossen, dass sich jetzt unter unseren Delegierten keine hundert, nicht einmal zehn oder auch nur einzelne Personen finden werden, die die damalige Parole der linken Sozialrevolutionäre unterstützen würden, nämlich die Parole: „Es leben die Freischärlertruppen!", im Gegensatz zu der Parole, die hier laut wurde: „Es lebe die Arbeiter- und Bauernarmee!“

Damals, im Juli, litt unsere Armee sehr. Die Lage war die: einerseits eine krankhafte Zersetzung der alten Armee, die im Zerfallen unsere neu entstehenden Truppenteile selbst zersetzte; andererseits waren diese Truppenteile, die natürlich Kinderkrankheiten aufwiesen, nicht festgefügt und besaßen nicht die geringsten kriegerischen Traditionen. Unter diesen Umständen mussten wir damals überall den Rückzug antreten, wo gegen uns nur einigermaßen festgefügte Truppen des Gegners ins Feld zogen. Dies geschah z. B., als wir an der Ostfront gegen die Tschechoslowaken kämpften. Aber nach und nach entstanden feste Truppenteile und mit dem Wachstum dieser Teile wurde unsere Lage eine andere.

Zuerst offenbarten unsere Rotarmistentruppen sehr wenig militärische Fähigkeiten; wir verloren eine Stadt nach der anderen. Wir räumten das Wolgagebiet; wir gaben einen Teil Sibiriens auf.

Als die Engländer und Franzosen Truppen in Murmansk landen ließen und dann fast kampflos, durch Überrumpelung, Archangelsk besetzten, sahen wir uns vor die konkrete Gefahr gestellt, dass die englisch-französische Nordfront sich mit der Weißgardistenfront im Osten, an der Wolga und im Ural vereinigen würde. Diese gewaltige nordöstliche Gefahr erschütterte die Sowjetrepublik. Trotzdem wichen wir nach dem fünften Sowjetkongress, der Anfang Juli zu Ende war, noch einen ganzen Monat zurück. In den ersten Tagen des August räumten wir Kasan, das operative Zentrum, wo sich der Kriegsrat der Ostfront befand. Unsere Unfähigkeit, Kasan zu halten, bewies nur zu deutlich den tiefen Entwicklungsgrad der Roten Armee.

Gleich darauf setzte endlich ein Umschwung ein, der sich in kurzer Zeit vollzog. Dieser Umschwung fand nicht so sehr innerhalb der militärischen Leitung, als vielmehr in ganz Sowjetrussland statt. Zum ersten Mal begriffen alle, dass das Land tödlich bedroht sei, und dass die militärische Leitung und die rote Arbeiter- und Bauernarmee mit ihren eigenen Kräften und mit Hilfe der ganzen russischen Arbeiterklasse sich von dieser Gefahr befreien müsse.

Wir wandten uns an den Petrograder Sowjet, an den Moskauer Sowjet, an die Gewerkschaften, an die Betriebskomitees und die größeren Sowjets in der Provinz, die den revolutionären Hauptstädten noch lange nicht gleichkamen. Die genannten Organisationen schickten dann die Blüte ihrer Arbeiter, die besten, die selbstlosesten Proletarier an die Ostfront.

Diese Genossen, Mitglieder der Gewerkschaften und Funktionäre der verschiedenen Kommissariate, reihten sich in die noch verschwommene, unorganisierte Armee der Arbeiter und Bauern ein und bildeten, wie ich dem Zentralen Exekutivkomitee bereits gemeldet habe, ihr festes, hartes, elastisches Rückgrat. Ohne diese tausende Sowjetfunktionäre und klassenbewusste Proletarier hätte das Kriegsamt seine Aufgabe nicht bewältigt. Allein dank der unerhörten Aufopferungsfreudigkeit dieser Männer haben wir nicht nur Nischni- Nowgorod, Wjatka und Perm gehalten, haben die Verbindung der Tschechoslowaken mit den Engländern und Franzosen verhindert, sondern haben sogar an diesen Fronten die Offensive aufgenommen, die sich immer erfolgreicher entfaltete und in wenigen Wochen die Säuberung des ganzen Wolgagebiets von den weißgardistischen Truppen herbeiführte. Ich muss vor der maßgebendsten Versammlung der Republik sagen, dass wir diese Siege in erster Linie den Sowjets von Petrograd und Moskau in Gestalt der Proletarier, die sie an die Front warfen, zu verdanken haben. Am Ural entwickelten sich unsere Erfolge mit geringerer Geschwindigkeit, als wir hätten wünschen können. Die Hauptschwierigkeit bestand hier darin, dass in den Fabriken von Ischewsk und Wotkinsk weißgardistische Putsche einsetzten, so dass diese Betriebe zu Stützpunkten der weißgardistischen und tschechoslowakischen Kräfte wurden. Diese Betriebe versorgten sie mit Patronen und Maschinengewehren. Der Konterrevolution war es gelungen, nicht allein die reichen Bauern in diese Putsche zu verwickeln, sondern unzweifelhaft auch einen Teil der Arbeiter, die sich ihnen notgedrungen anschlossen. Es begann der Kampf um den Besitz dieser höchst wichtigen Zentren der militärischen Versorgung. Dieser Kampf lenkte die Kräfte von dem Vormarsch auf Jekaterinburg und andere Punkte des Urals ab. Aber nun, gestern, haben wir die Meldung erhalten, dass die Fabriken von Ischewsk von den Truppen der Roten Armee besetzt worden sind und am Jahrestag der Republik die Fahne der Sowjetregierung tragen werden. Alle übrigen Punkte werden in kürzester Zeit geräumt werden. Von jetzt ab werden die Fabriken unsere Rote Armee mit Patronen, Maschinengewehren und allem, was sie braucht, versorgen. Das berechtigt uns zu der Hoffnung, dass wir in der nächstkommenden Periode an den nächstfolgenden Fronten vorwärtskommen werden.

Unsere Erfolge werden ein immer rascheres Tempo annehmen. Eis ist vorauszusehen, dass die Engländer und die Franzosen in der nächsten Periode den Plan aufgeben werden, eine einheitliche Nordostfront zu bilden. Wir haben Anlass, zu glauben, dass den Engländern und Franzosen und den Tschechoslowaken an der Nordfront die Hoffnung auf Erfolg vergangen ist; zugleich sind unzweifelhafte Anzeichen der Zersetzung der Landungstruppen vorhanden. Von der Kotlasfront wird gemeldet, dass fürs Erste ein Trupp von 58 englischen Soldaten zu uns übergelaufen ist. Aller Anfang ist schwer: 58 ist natürlich nicht viel. Aber man muss bedenken, dass es im Norden überhaupt außerordentlich wenig Engländer gibt, und dass ihre Lage mit Eintritt der Winterkälte sich immer mehr verschlechtern wird; deshalb unterliegt es keinem Zweifel, dass die Engländer in kürzester Zeit ihre Truppen werden zurückziehen müssen, wenn sie sie nicht der völligen Zersetzung und Zerstäubung aussetzen wollen.

Während des Winters droht dem Lande keine Gefahr an der Nordfront. Wie gesagt, es unterliegt keinem Zweifel, dass der Feind auf diese Front einstweilen verzichtet hat.

Im Osten werden sich die Operationen weiter in derselben Richtung entwickeln, d. h. im Sinne unseres systematischen und planmäßigen Vormarsches. Genossen, man könnte mit Recht ungeduldig werden darüber, dass die Hauptstadt des Urals – Jekaterinburg – bis jetzt noch nicht in unseren Händen ist: aber zugleich müsst Ihr konstatieren und Euch darüber klare Rechenschaft abgeben, dass an der Ostfront unsere Offensive einen außerordentlich regelmäßigen, planmäßigen und systematischen Charakter hat und nicht im Geringsten an Bandenkriege erinnert. Hier sind wir vor allen Überraschungen sicher. Das hindert aber nicht, dass an den Flanken unserer Front und im Hinterlande des Feindes unsere Freischärlertruppen mit gutem Erfolge tätig sind, nach Direktiven der Nordfront, die vom Kommando der regulären Truppen ausgehen.

An der Südfront verhält es sich bis jetzt entschieden schlechter als an der Nordfront und insbesondere an den Ostfronten. An der Südfront war der Weg unserer Armee ein anderer als an den ersten beiden Fronten, Der Gegner ist hier ein anderer und die militärischen Operationen entwickelten sich hier anders. Bis in die letzte Zeit behandelten wir die Südfront sozusagen stiefmütterlich: man ließ sich keine grauen Haare um sie wachsen, und zwar natürlich deshalb, weil man alle Kräfte und Mittel auf die Nordfront konzentrieren musste. Dort standen Engländer, Franzosen, Tschechoslowaken und schon tauchten an der Ostfront Amerikaner, Japaner auf. Aber die Gefahr erwies sich unerwarteterweise für uns auch an der nahen Südfront als zu groß, wo die Banden Krasnows gegen uns kämpften. Wir hatten uns im ersten Jahre der Revolution daran gewöhnt, allzu leicht mit der Konterrevolution und unserer einheimischen Bourgeoisie, mit den Krasnowschen und Kaledinschen Banden fertig zu werden, mit Hilfe improvisierter Arbeitertruppen, die schwach organisiert waren und etwa aus 1000 bis 2000 Petrograder Arbeitern bestanden, die nach dem Gewehr griffen und ihre Sache dann gut machten. Daher kam unser sorgloses Verhalten an der Südfront, unsere Auffassung, dass wir mit unseren Feinden früher oder später, aber schließlich doch noch fertig werden. Das ist die eine Seite der Sache. Die andere Seite liegt im Prozess der Bildung der Truppen selbst, die jetzt an unserer Südfront stehen. Es sind meistenteils Einheimische aus der Ukraine, dem Dongebiet, der Kubangegend und dem Nordkaukasus.

Darunter gibt es gut eingeschossene Truppen, die die harte Schule der Prüfungen während des .Bandenkrieges durchgemacht haben. Sie haben Kommandeure, die mit ihnen alle Nöte, Wirrnisse und Kampfverdienste geteilt haben in den vielen Monaten in der Ukraine, am Don und im Nordkaukasus, aber zugleich wiesen diese Teile mehr als alle andern Truppenteile an den andern Fronten alle negativen Züge der Periode des Bandenkrieges auf, Züge, von denen sie bisher noch nicht geheilt sind. Jeder Truppenkommandant hielt seine Truppe, seine Abteilungen, die er Division nannte, für eine abgeschlossene Welt; er verlangte von den Soldaten seiner Division unbedingte, straffe Disziplin und verstand es mitunter sogar, diese Disziplin zu schaffen und durchzuführen. Aber zu gleicher Zeit ließ er selbst in Sachen der Disziplin gegenüber den höheren Kommandostellen viel zu wünschen übrig.

Es war schwer, diese Truppen regulär zu den regelmäßigen Einheiten und Divisionen einer normal funktionierenden, zentralisierten Armee zu verbinden. Eine solche Aufgabe erforderte eine große Anzahl Sowjetfunktionäre und Kommunisten, erprobte Revolutionäre, und daher erließen wir, Genossen, zum zweiten Mal einen Appell an die Sowjets von Petrograd und Moskau mit dem Hinweis darauf, wie außerordentlich wichtig und notwendig es sei, die Südfront zu disziplinieren und zusammenzuschweißen, etwa so wie die Ostfront. Und wieder gaben die Sowjets von Petrograd und Moskau viele Hunderte von Männern für die Südfront. Aber dies geschah erst in den allerletzten Tagen; erst vor wenigen Tagen kamen diese Hunderte der besten Arbeiter des Staates an die Front, und sie werden vielleicht gerade heute auf die einzelnen Truppenteile verteilt. An der Südfront gab es bis jetzt keine Kommissare in den Regimentern und den Divisionen; diejenigen unter Euren Kameraden, die der Armee einigermaßen nahestehen, wissen, welche gewaltige Rolle die Kommissare aus den alten Parteigenossen spielen. Als Kommandeure haben wir bloß junge Männer aus den früheren Soldaten, deren Kraft und Interesse ganz von der militärischen Seite der Sache aufgesaugt werden, so dass die Aufgaben der politischen Kontrolle und der revolutionären Zucht der Truppen natürlicherweise anderen Vorgesetzten, dem Kommissar übertragen werden, dessen Posten und dessen Bedeutung hoch anzuschlagen sind. In unseren Südarmeen, die ihrer Zusammensetzung nach sehr zahlreich sind, gab es fast keine Truppenteile mit Kommissaren, mit Ausnahme jener Regimenter und Divisionen, die in der letzten Zeit an die Front geworfen wurden und noch jetzt geworfen werden. Erst jetzt ist an der Front ein Kommissarapparat geschaffen worden.

Unsere Feinde bezeichneten unser Regime als eine Kommissargroßmacht; wir sind gegenüber unseren Arbeitern und unserer Arbeiter- und Bauernarmee bereit, diese Bezeichnung zu akzeptieren, mit der uns unsere Feinde zu schmähen glaubten. Ja, unsere Armee hält sich durch die Kommissare und insofern sie sich durch sie hält, dürfen wir unser Regime als revolutionäre Kommissar-Großmacht bezeichnen. Wenn Ihr uns im Kampf erprobte Kommissare gebt, die zu sterben verstehen, so steht es gut um unsere Sache.

Genossen, ich wiederhole das, was ich dem Zentralexekutivkomitee bereits mehrmals gemeldet habe. Ich kenne keine Truppe, die panikartig zurückgewichen wäre, die Kleinmut gezeigt hätte, die viele Deserteure aufgewiesen hätte, wenn an der Spitze dieser Truppe ein energischer Chef und ein energischer Kommissar standen. Jedes Truppenteil hat stets, wenn auch einen kleinen, so doch klassenbewussten und erprobten Kern von Soldaten, Revolutionären, Kommunisten, treuen Rittern des sozialistischen Kampfes, und wenn der Kommissar stets auf seinem Posten steht, als unbeugsamer Soldat der Revolution, wenn er im Moment der größten Gefahr sich in die vorderste Linie vor seine Truppe wirft und ruft: „Keinen Schritt rückwärts!", so unterstützen ihn die besten Soldaten, und dann ist das Verhalten sämtlicher Soldaten gesichert, denn jede Truppe, selbst die am wenigsten bewusste, hat ein Gewissen in der Brust, das ihr sagt: „Nicht Verrat üben, nicht desertieren!" Und selbst, wenn das Kommando schweigt (bekanntlich kann der tierische Instinkt das Bewusstsein überwältigen), braucht nur die Stimme der Pflicht zu ertönen: „Genossen, keinen Schritt rückwärts“, damit der Truppenteil nicht zurückweiche.

Mir ist noch kein Fall der Panik unter solchen Umständen bekannt geworden. Deshalb haben wir die Regel eingeführt, die manch einem hart erscheinen mag, die aber vollkommen in Kraft bleibt: für jeden panikartigen Rückzug, für jedes Auskneifen machen wir in erster Linie den Kommandeur und den Kommissar verantwortlich. Wenn sie nicht alle Maßnahmen ergriffen haben, wenn sie mit heiler Haut davongekommen sind, zusammen mit ihrer Truppe desertiert sind, – so wird sie natürlich als erste die ganze Strenge unserer revolutionären Strafe treffen. Ich glaube, mancher Genosse glaubte und äußerte den Gedanken, dass wir allzu grausam, unbarmherzig verfahren. Unsere Zeit ist überhaupt eine grausame und unbarmherzige Zeit für die Arbeiterklasse, die gezwungen wird, ihre Macht und Existenz gegen eine Welt von Feinden zu verteidigen. Wenn wir den ersten Jahrestag der Sowjetrepublik feiern wollen, ja mehr, wenn wir die Sowjetregierung verteidigen, die Zukunft der Arbeiterklasse und der werktätigen Bauernschaft erobern wollen, so sind wir in dieser unbarmherzigen Zeit verpflichtet, unbarmherzig zu sein gegenüber jedem, der in unseren eigenen Reihen nicht ein Maximum an Energie, Mut und Festigkeit entfaltet, sobald er auf einen verantwortlichen Posten gestellt wird, und es gibt keinen verantwortlicheren Posten als den Posten des Kommissars. Genossen, es unterliegt gar keinem Zweifel, dass bei einem solchen festen proletarischen Kurs an der Südfront, in der nächsten Zeit die wohltätige Arbeit der Disziplinierung, des Zusammenschlusses und der Zentralisierung der dort stehenden Armeen von Erfolg gekrönt sein wird.

Die Armeen, die an den Fronten von Woronesch, Balaschow, Zarizyn und Astrachan stehen, habe ich besucht und habe aufs Genaueste und ausführlichste ihren Zustand kennengelernt. Ich kann mit ruhigem Gewissen sagen, dass wir im Süden eine gute und sehr zahlreiche Armee haben, die viel größer ist, als viele von Euch glauben. Sie soll jetzt die gehörige Kommandoorganisation und ein wahres Kommissarkorps erhalten. Wie gesagt: die Resultate werden sich in der nächsten Zeit schon bemerkbar machen.

In den Kosaken und Weißgardisten haben wir jetzt einen Gegner, der viel ernster zu nehmen ist, als man es vor kurzem noch glaubte. Gegen uns sind bedeutende Kräfte verbündet, die bis in die letzte Zeit von den Deutschen in Gestalt der Krasnowschen Banden unterstützt wurden und von den Engländern und Franzosen in Gestalt der Denikinschen und Alexejewschen Banden. Gegenwärtig findet eine Vereinigung der Alexejew-Denikinschen und Krasnowschen Fronten statt, die sich früher getrennt auf die zwei feindlichen imperialistischen Koalitionen, die deutsche und die englisch-französische, stützten; jetzt hoffen sie in den beiden Teilen der vereinigten Front die Kräfte des siegreichen englisch-französischen Militarismus auf sich zu konzentrieren. Die Probleme an der Südfront sind jetzt im höchsten Grade akut. Der deutsche Militarismus bricht zusammen. Wir haben soeben eine Meldung vernommen, die davon zeugt, dass der Prozess seines Zusammenbruches mit fieberhafter Geschwindigkeit verläuft. Die Deutschen sind gezwungen, die Ukraine zu räumen. Der englisch-französische Militarismus beeilt sich, sie in der Ukraine, am Don und im Nordkaukasus abzulösen. Wir müssen einen Keil treiben zwischen dem abziehenden deutschen Militarismus und dem nahenden englisch-französischen Imperialismus. Wir müssen den Don, Nordkaukasus und die Kaspische Küste besetzen, die Bauern und Arbeiter der Ukraine unterstützen, ihre Feinde beiseite schieben und unser Sowjetgebäude betreten, dem wir in Gedanken sowohl den Nordkaukasus wie den Don und die Ukraine angliedern, wir müssen unser eigenes Sowjetgebäude beziehen und erklären, dass den englischen und deutschen Lumpenhunden der Eintritt untersagt ist. Darin besteht die Widerspiegelung jener Veränderungen der Weltlage in der Roten Armee, von der ich eingangs sprach. Ich will jetzt zu Fragen organisatorischer Natur übergehen.

Wir haben – das ist kein Geheimnis – Schwierigkeiten bei der Organisation der Versorgung und der Ausbildung des Kommandopersonals.

Die schwerste Krise haben wir überwunden; die Armee existiert, wird verwaltet und versorgt. Die Zweifel, die vor kurzem noch bestanden, ob wir eine schlagkräftige Armee zustande bringen würden, können als erledigt betrachtet werden. Die Armee existiert, kämpft und wird zum internationalen Faktor, mit dem unsere Feinde bereits rechnen. In unserer Sowjetpresse wurden kürzlich Äußerungen der ausländischen Presse zitiert, namentlich des leitenden englischen Blattes die „Times“ und der deutschen bürgerlichen Zeitung, der „Lokalanzeiger“. Von unserer Roten Armee wird geschrieben, dass sie mit bedrohlicher Geschwindigkeit wachse. Die Zeitungen reden von der numerischen Stärke der Roten Armee und nennen Ziffern von 400 bis 500 Tausend Soldaten, die jetzt schon vorhanden seien. Ich will aus begreiflichen Gründen keine genauen Daten anführen. Aber so viel will ich sagen, dass die Ziffern, die die „Times" und der „Lokal- Anzeiger“ nennen, jetzt schon, und zwar bedeutend hinter der wirklichen zurückbleiben.

Wir erleben aber jetzt auch eine gewisse Krise mit dem Kommandopersonal, eine Krise, die durch die Erweiterung der Armee hervorgerufen wurde. Aber wir werden diese Krise überwinden. Als Beweis dienen uns unsere jungen, neuen roten Offiziere, die der Kongress heute auf dem Theaterplatz gesehen hat. Der Kongress hat sie gesehen. In militärischer Hinsicht können sie es mit den besten zaristischen Fähnrichen aufnehmen, aber, Genossen, es sind unsere Fähnriche, die Fähnriche der Arbeiter und Bauern. Genossen, es sind unsere besten Arbeiter, unsere erprobtesten Kämpfer, Männer, die in den Tod gehen werden wie zu einem Feste. Ich sage dies mit voller Bestimmtheit, auf Grund dessen, was ich selbst wahrgenommen habe.

Wir haben jetzt höchst zuverlässige Rote Kommandeure. Sie haben sich unserer Roten Armee eingereiht und werden ihr zum Siege verhelfen.

Die Frage der Versorgung gehört zu den schwierigsten, besonders unter den obwaltenden wirtschaftlichen Verhältnissen des Landes. Es wurde auf diesem Gebiete eine zentrale Organisation geschaffen, an deren Spitze ein so hervorragender Organisator und Ingenieur wie Genosse Krassin gestellt wurde, dem die Aufgabe übertragen worden ist, sämtliche Kräfte und Mittel des Landes auszunutzen für die Versorgung der Armee mit Lebensmitteln und Munition. Es wird den Gewerkschaften und Sowjetorganisationen und den Komitees der armen Bauern in der ganzen Republik empfohlen, diese Aufgabe in den Vordergrund zu rücken. Es ist Euch bekannt, dass das Zentral-Exekutivkomitee der Sowjets unser Land als Heereslager proklamiert hat. Nebenbei bemerkt, ist diese Proklamierung an vielen Orten bisher nicht voll in Kraft getreten.

In einem fort legen die Forderungen des Militäramtes in der Provinz den lokalen Kräften Schranken auf, denn die verzweifelte Lage zwingt uns, das Land in ein Heerlager zu verwandeln, und man muss im Namen des allgemeinen Zieles auf sehr vieles verzichten. Ich will sowohl den lokalen Sowjetorganisationen wie auch den Eisenbahnorganisationen zugeben, dass die Vertreter des Militäramtes immer mehr verlangen, als man verlangen kann, und in einem Ton fordern, der nicht sein sollte, aber das sind alles kleine Reibungen, die man angesichts der Aufgabe, die in ihrer welthistorischen Größe vor uns steht, überwinden kann. Die Aufgabe ist derart, dass alle übrigen vor ihr verblassen.

Es wird gegenwärtig eine fieberhafte Arbeit auf dem Arbeitsgebiet des Genossen Lunatscharski, nämlich des Amtes für Volksaufklärung getrieben. Diese Arbeit läuft darauf hinaus, dass wir auf den Sowjetplätzen den großen Männern und Führern des Sozialismus Denkmäler errichten. Wir sind fest davon überzeugt, dass diese Kunstwerke dem Herzen jedes Arbeiters und der ganzen Volksmasse teuer sind. Zugleich müssen wir jedem von ihnen in Moskau und in Petrograd bis zum letzten Krähwinkel sagen: Ihr seht, die Sowjetregierung hat Lassalle ein Denkmal errichtet, Lassalle ist Euch teuer, aber wenn die Bourgeoisie die Front durchbricht und hierherkommt, wird sie dieses Denkmal zusammen mit der Sowjetregierung selbst und allen Errungenschaften, die wir jetzt besitzen, vernichten. Also müssen alle Arbeiter, muss jeder, dem die Sowjetregierung teuer ist, sie mit bewaffneter Hand verteidigen. Durch das konkrete Bild unserer Propaganda muss diese Notwendigkeit dem Bewusstsein des Landes eingeprägt werden, zu einem Bestandteile des Bewusstseins werden.

Die Kampfaufgabe ist jetzt die Hauptsache. Es gibt keine höhere, wichtigere, gebieterischere Aufgabe! An unserer Südfront pulsiert das Schicksal unserer Regierung. Sämtliche Organisationen und lokalen Sowjets müssen alle Kräfte und Mittel dorthin schicken; indes ist in vieler Hinsicht noch nicht alles getan. Unter diesen Umständen kommt es hie und da vor, dass die lokalen Sowjetorganisationen nicht genug daran denken, dass die Güter, die sie haben, die Patronen, Automobile und Gewehre in erster Linie an die Front gehören. Es wäre ein Verbrechen gegen die Arbeiterklasse, wollte man jetzt derartiges durchgehen lassen. Jetzt brauchen wir eine Organisierung aller Kräfte des Landes und in erster Linie für die Südfront. Wenn manche Institutionen den Druck des Militäramtes empfinden als harten Druck einer neuen roten Sowjetsoldateska, so wiederhole ich kategorisch, dass wir in einer harten Zeit leben, wo es gilt, das Land in ein Heerlager zu verwandeln. Wenn unsere Soldaten panikartig zurückweichen, so erwartet sie ein grausames Los. Dieses Los wird die Sowjetämter selbst treffen, die imstande sind, wie es viele von ihnen früher taten, das Territorium der Front zu verlassen. Freilich, solche Fälle kommen jetzt immer seltener vor; wenn die Front eingedrückt und vorgeschoben wird bis zu den Bezirks- oder Stadtsowjets, so rücken sie nicht mehr aus, sondern bewaffnen sich und schließen sich den Reihen unserer Armee an. Doch bis zum Bewusstsein eines festen, disziplinierten Hinterlandes ist noch ein weiter Weg. Wenn wir ein solches Hinterland haben, werden wir an unserer Südfront die Offensive aufnehmen.

Es ist für uns alle klar, welche Bedeutung die Eroberung des Dongebietes haben würde. Sie würde sich in der Ukraine und in der ganzen Welt fühlbar machen, denn sie würde uns ermöglichen, den Kampf um den Besitz der Kaspischen Küste zu führen. Ich war vor drei Tagen gerade in Astrachan und kehrte von dort mit 7 kleinen Dampfern zurück, die Bitscherachow abgenommen worden sind. Diese Dampfer brauchen wir, denn drei von ihnen sind die größten Dampfer des Kaspischen Meeres, solche, wie wir sie nicht hatten. Wir haben auf ihnen unsere 100-mm-Geschütze aufgestellt, wie sie weder Bitscherachow noch die Türken haben. Und ich glaube, dass unser ehrlicher Sowjetfluss, die Wolga, bald in ein ebenso ehrliches Sowjetmeer, das Kaspische Meer, münden wird. Natürlich darf man sich keinem übermäßigen Optimismus hingeben, aber man muss zugeben, dass unsere allgemeine militärische Lage befriedigend ist.

An der Ostfront herrscht unter den Truppenteilen, die gegen uns kämpfen, völlige Demoralisierung. Jetzt werden wir die Demoralisierung vermehren durch die Nachrichten über die Geschehnisse in Österreich-Ungarn, darüber, dass Böhmen ein freies Land geworden ist, denn jeder Tschechoslowake begreift und weiß, dass der Weg in das befreite Böhmen nicht über England und Frankreich, sondern über Sowjetrussland oder eventuell über die Sowjetukraine führt. Was die Südfront betrifft, so ist das eine Frage unseres Arbeitstempos. Wir dürfen unseren Feinden nicht die Möglichkeit geben, einander zu helfen. Krasnow, der gestern noch gegen Alexejew kämpfte und mit ihm konkurrierte, verbündet sich heute mit ihm; Bitscherachow führt heute Krieg gegen die Türkei und schließt morgen ein Bündnis mit ihr. Die Deutschen werden unzweifelhaft den Engländern und Franzosen den Weg freimachen und ihnen sogar im Kampfe gegen uns helfen. Das Tempo ist die Hauptsache, wir müssen eine gewaltige Geschwindigkeit erzeugen, und sie wird gemeinsam mit den Streitkräften der Roten Armee uns die Möglichkeit verleihen, so zu handeln, dass Russland vor dem Ansturm der Gegenrevolution geschützt ist.

Ich kehrte von der Front zurück mit der Überzeugung, dass es viel zu tun gibt, und dass es noch subjektive Schwierigkeiten zu überwinden gibt; dass zum Beispiel nicht alle Sowjetarbeiter begriffen haben, dass eine zentralisierte Verwaltung vorhanden ist, und dass alle Befehle, die von oben kommen, unwiderruflich sind, dass eine Abweichung von diesen Befehlen unzulässig ist. Jenen Sowjetarbeitern gegenüber, die all das noch nicht begriffen haben, werden wir erbarmungslos sein; wir werden sie beiseite schieben, sie aus unseren Reihen entfernen, Disziplinarstrafen unterwerfen. Der Schwierigkeiten gibt’s gar viele, besonders an der Südfront, aber unsere Kräfte sind gewachsen, wir haben mehr Erfahrungen und Festigkeit. Wenn Ihr alle, Genossen, den Sowjetkongress verlasst, erfrischt durch die gegenseitige Verbindung, wenn Ihr heimkehrt und meldet, was Ihr hier gehört habt, und wenn Ihr sagt, dass Ihr eine Rote Armee habt, die stark und festgefügt ist, wenn Ihr mit dieser Überzeugung heimkehrt und erklärt, dass die Hauptaufgabe, die vor uns steht, darin besteht, alle halbfreien und freien Kräfte an die Front zu schicken, darin, dass alle Getreidespeicher abgesucht werden müssen und alle überflüssigen Bajonette und Patronen mobilisiert und durch die entsprechenden Instanzen an die Front geschickt werden müssen, dass, wenn es Automobile gibt, man auf sie verzichten und sie ebenfalls an die Front schicken muss, wenn Ihr all das tut, wenn Ihr die Militarisierung aller Sowjetorganisationen durchführt, so wird unser Land in eine Lage versetzt werden, in der ihm weder die deutschen noch die englischen und französischen Imperialisten verhängnisvoll werden. Dann werden unsere Rote Armee und unser Hinterland sich mit jedem Tage und mit jeder Stunde mehr festigen. Die Losung, die Genosse Lenin in seinem Briefe an das Zentralexekutivkomitee ausgegeben hat, dass wir eine Dreimillionen-Armee brauchen, diese Losung wird zur Wirklichkeit werden.

Während in allen übrigen Ländern sich der Prozess des inneren Verfalls vollzieht mit einem graduellen Unterschied für jedes einzelne Land, während der Krieg dort den Prozess der Spaltung zwischen den Soldatenmassen und dem Kommandopersonal und zwischen den herrschenden Klassen und den Massen überhaupt hervorruft, während diese Länder eine Periode durchmachen, die wir im Februar, am März und im April dieses Jahres durchmachten – vollzieht sich zu gleicher Zeit bei uns der entgegengesetzte Prozess. Wir schließen uns zusammen, formieren, stählen uns. Unsere Soldaten, die zum Teil der alten Armee entnommen sind, erfüllen jetzt welthistorische Aufgaben; sie können nicht zersetzt und verstreut werden – was bloß in den Ländern der bankrotten Bourgeoisie vorkommt. Dort sind die Armeen entweder auseinandergefallen oder fallen auseinander oder werden morgen auseinanderfallen allein infolge der revolutionären Propaganda. Unsere Armee hingegen hat keinerlei Agitatoren zu fürchten. Zur Bestätigung meiner Worte möchte ich Euch melden, dass an der Südfront, dort, wo wir uns jetzt in der schwierigsten Lage befinden, angesichts der Imperialisten Deutschlands, Frankreichs und Englands, dass dort nicht nur die rechten, sondern auch die linken Sozialrevolutionäre mit ihren Verschwörungen keine Resultate erzielen. Die Einzelheiten einer solchen Verschwörung in der Roten Armee (Zuruf: „Schmach und Schande!“), die gegen den vereinigten englisch-französischen Imperialismus kämpft, werden in diesen Tagen publiziert werden.

Hier wurde: „Schmach und Schande" gerufen. Ja, dreifach Schmach und Schande!

Unsere Rote Armee hat sich jetzt vor keinen Agitatoren zu fürchten. Sie weiß wohl, dass das ganze Land keine anderen Aufgaben hat, als die Versorgung und Verpflegung der Roten Armee. Die Armee hat ihr Kommandopersonal. Sämtliche Kräfte, über die das Land verfügt, werden der Roten Armee gegeben. Wir verheimlichen unsere Aufgaben und Ziele nicht. Unsere Rote Armee fühlt sich bewaffnet durch das Sowjetregime der Arbeiter und Bauern. Unsere Rote Armee wird dieses Regime zu verteidigen wissen.

Genossen! Rückt in den Vordergrund die Aufgaben der Versorgung der Roten Armee sowohl mit moralischen als auch materiellen Mitteln. Das ganze Land muss materiell und geistig mobilisiert werden. Sämtliche Kräfte und Mittel gehören der Roten Armee, die besser kämpfen muss, als es bisher der Fall war. Die Rote Armee häuft ihre Erfahrungen zu einem festen Kapital. Sie häuft diese Erfahrungen, sie vergeudet ihren Geist nicht. Das ganze Land steht jetzt vor der Aufgabe der Bildung neuer Truppen der Arbeiter und Bauern, und alle Männer im Lande müssen darauf achten, dass diese entstehenden Truppenteile an nichts, weder materiell noch geistig, Mangel leiden. Sie müssen fühlen, dass sie sich auf die Sowjetregierung stützen. Es ist Eure Pflicht und Schuldigkeit, von hier das Bewusstsein mitzunehmen, dass es keine größere Aufgabe gibt, als die Festigung der Roten Armee, als die Befestigung der Front.

Und wenn diese Aufgabe erfüllt sein wird, dann wird unsere Front unerschütterlich feststehen, dann werden wir unsere Jahresfeier nicht nur bei uns, sondern auch in Rostow, in Charkow, in Kiew, in Wien und Berlin begehen, und vielleicht wird der internationale Kongress, den Friedrich Adler im Juli 1914, am Vorabend des Krieges, abzuhalten hoffte, von uns in einer unserer sowjetischen Hauptstädte abgehalten werden. Dann werden wir der Kommunistischen Internationale sagen: Ihr versammelt Euch bei uns in Moskau oder Petrograd deshalb, weil Euer Kongress verteidigt wird von der Roten Armee, der ersten Armee des Kommunismus in der ganzen Weltgeschichte.

Kommentare