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Leo Trotzki 19180130 Entwurf einer Erklärung nach der Unterbrechung 18. – 30. Januar 1918

Leo Trotzki: Entwurf einer Erklärung nach der Unterbrechung

18. – 30. Januar 19181

[Aus dem Archiv. Eigene Übersetzung nach Л. Троцкий. Сочинения. Том 17, часть 1. Москва-Ленинград, 1926, S. 67-69]

Hier in Brest-Litowsk wurde gesagt – und es wurde zurecht gesagt –, dass die politische Atmosphäre, in der die Friedensverhandlungen stattfinden, für ihre Fortschritte und Ergebnisse von größter Bedeutung ist. Bevor wir also nach der Pause mit unserer Arbeit beginnen, halte ich es für notwendig, im allgemeinsten Sinne auf die neuesten Entwicklungen im inneren Leben Russlands einzugehen, die die gesamte zivilisierte Welt nur interessieren können. Ich hatte bereits die Ehre, hier zu berichten, dass das Prinzip der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten aus unserer Sicht ein traditioneller Begriff ist, auf den umso häufiger zurückgegriffen wird, je weniger er in der Praxis befolgt wird. Die Präsidenten der deutschen und österreichisch-ungarische Delegation sind vermutlich der gleichen Ansicht, denn in ihren letzten Reden vor dem Reichstag Ausschuss und den Delegationen zeigten sie ein sehr erfreuliches, wenn auch nicht ausreichend informiertes Interesse an den inneren Entwicklungen in Russland und von allen am Schicksal der Konstituierenden Versammlung. Wie Sie wissen, wurde die Konstituierende Versammlung, die am 5. Januar einberufen wurde, am selben Tage aufgelöst. Ich lasse die monströsen Geschichten von Barrikaden, Straßenkämpfen, Hunderten von Toten usw. beiseite, die von der deutschen Presse verbreitet wurden, die in diesem Fall den offiziellen und offiziösen anglo-französischen Lüge zärtliches Vertrauen entgegenbringt. Tatsache ist jedoch, dass die Konstituierende Versammlung vom Zentral[exekutiv]komitee der Arbeiter-, Soldaten- und Bauerndeputierten des ganzen Landes aufgelöst wurde. Die Konstituierende Versammlung blieb hinter der Entwicklung der Revolution zurück und kam bei ihren ersten Schritten in einen unüberbrückbaren Widerspruch zu ihr. Einer der größten deutschen Denker sagte, dass die Revolution die Lokomotive der Geschichte sei. Das Bewusstsein der Massen geht während einer Revolution schnell von einer Stufe zur nächsten über und wirft die Schichten von Jahrhunderten ab. Die Konstituierende Versammlung wurde lange und langsam auf Listen gewählt, die während der Kerenski-Regierung aufgestellt wurden. Der Umsturz vom 25. Oktober warf die chauvinistischen bürgerlichen Parteien von der Macht und vereinte die Werktätigen von Stadt und Dorf unter dem Banner von Frieden und Sozialismus. Auf der einen Seite standen die arbeitenden Massen, Arbeiter und Bauern, auf der anderen Seite die Mehrheit der konstituierenden Versammlung, die die vergangene Ära der Revolution, die Ära des Kompromisses mit der Bourgeoisie und den Regierungen der Ententestaaten widerspiegelte. Der Konflikt war unvermeidlich, er entsprang der inneren Logik der Revolution.

Die Prinzipien der Demokratie wurden formal verletzt, das ist unbestreitbar. Aber auch wenn wir die politische Demokratie als unvergleichlich höhere Form als alle mittelalterlichen ständischen und bürgerlichen Zensuswahlrechts-Regierungsformen anerkennen, haben wir nie geglaubt, dass die politische Demokratie an sich einen schmerzlosen Ausweg aus jeder Situation bietet. Der Klassenkampf bleibt in voller Kraft auch bei politischer Demokratie. Und während der Revolution erreicht dieser Klassenkampf eine solche Spannung, dass er unabhängig vom Willen der Parteien und ihrer Führer oft die politische Demokratie durchbricht. Im Bestreben, alle Ausbeutung zu zerstören, nimmt die unterdrückte Klasse alle Macht in Besitz und etabliert ihre Diktatur. Möge es gut oder schlecht sein, aber gerade dieses Regime – die Diktatur der Arbeit – wurde in unserem Lande errichtet. Der Allrussische Sowjetkongress der Arbeiter-, Soldaten- und Bauerndeputierten, der jetzt in Petrograd tagt und die überwiegende Mehrheit der arbeitenden Massen Russlands vertritt, billigte die Auflösung der Konstituierenden Versammlung, in der er seine gestrigen Vorurteile und seine Fehler von gestern erkannte. Dieser Allrussische Kongress, der aus 1300 Delegierten aus allen Teilen unseres Landes bestand, hat unseren Bericht über den Verlauf der Brester-Litowsker Verhandlungen gehört und fast einstimmig die Notwendigkeit eines frühen Friedens auf der Grundlage einer Übereinkunft der Völker anerkannt.

Ich kann daher nicht sagen, dass unserer Delegation das ganze Volk vertraue, solche Aussagen sind immer scheinheilig. Das ist nicht so und das kann nicht so sein. Die bürgerlichen Klassen Russlands, bei denen ein großer Teil der Verantwortung für diesen Krieg liegt, sind uns feindlich gesonnen. Diejenigen Gruppen, die Konstantinopel, Galizien, Armenien mit Gewalt erobern wollten, sind uns feindselig gesonnen. Diejenigen politischen Gruppen, die für die Offensive vom 18. Juni (1. Juli) 1917 verantwortlich sind, sind uns feindlich gesonnen. Wir haben ihr Vertrauen nicht gesucht. Aber die arbeitende Bevölkerung Russlands drückte ihr Vertrauen in uns aus: das Proletariat der Fabriken und Werke, werktätige Bauern, Soldaten, die 3½ Jahre in Schützengräben verbrachten, d. h. diejenigen, die berufen sind, ein neues Russland aufzubauen. Dieses Volk wünscht leidenschaftlich Frieden, um so bald wie möglich zu ihrem Ackerland und ihren Maschinen zurückzukehren. Und in seinem Namen sprechen wir hier.

In diesen Tagen der Pause wurde vom parlamentarischen Podium und in den Zeitungskolumnen der Versuch unternommen, der Aufrichtigkeit unseres Wunsches nach Frieden zu misstrauen. Es wurde gesagt, dass wir nur bestrebt seien, die Revolution nach Europa zu übertragen, dass die Friedensfragen für uns gleichgültig seien. Wir können ruhig über diese Unterstellung hinweggehen. Wir haben noch nie jemandem vorenthalten, dass wir eine sozialistische Revolution in allen Ländern anstreben. Aber dieses Ziel, das man billigen oder nicht billigen kann, stärkt nur unseren Wunsch nach einem frühen Frieden. Lange vor diesen Gesprächen haben wir in der Presse und auf den Volkskongressen wiederholt die Vorstellung geäußert, dass wenn die Arbeiter aus den Schützengräben kommen, aus dem Rauch, den Flammen und den erstickenden Gase, und die letzten Jahre zusammenfassen, berechnen, was der Krieg den Völkern gegeben und ihnen genommen hat – werden sie in allen Ländern von dem Wunsch erfüllt sein, die bestehende Ordnung radikal zu ändern, die die Menschheit periodisch in solchen höllischen Erschütterungen führt. Deshalb schwächt unsere revolutionäre Position unsere Anstrengungen im Kampf um einen baldigen Frieden nicht, sondern verzehnfacht sie im Gegenteil. Mit diesem Auftrag der arbeitenden Massen Russlands setzen wir die Verhandlungen fort.

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