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Leo Trotzki 19190423 Die kriechende Revolution

Leo Trotzki: Die kriechende Revolution

[Prawda Nr. 85, 23. April 1919. Eigene Übersetzung nach Л. Троцкий: Сочинения. Том 13. Москва-Ленинград 1926, стр. 97-101 und Л. Троцкий: Пять лет Коминтерна, Москва 1924 стр. 25-28, verglichen mit dem englischen Text]

Die deutsche Revolution weist deutliche Züge der Ähnlichkeit mit der Russischen auf. Aber die Züge, in denen sie sich unterscheiden, sind nicht weniger lehrreich. Anfang Oktober kam es in Deutschland zu einer „Februar"-Revolution. Nur zwei Monate später hatte das deutsche Proletariat seine „Julitage", d. h. die erste offene Konfrontation mit den bürgerlich-versöhnlerischen imperialistischen Kräften auf der neuen „republikanischen" Grundlage. In Deutschland waren die Julitage, wie bei uns, kein organisierter Aufstand oder spontan entstehender Entscheidungskampf. Es war die erste stürmische Manifestation eines reinen Klassenkampfes auf dem von der Revolution zurückeroberten Boden, und diese Demonstration wurde von Scharmützeln fortgeschrittener Abteilungen begleitet. Unsere Erfahrung der Julitage diente dem Proletariat zur weiteren Konzentration der Kräfte und zur organisatorischen Vorbereitung auf die Entscheidungsschlacht. In Deutschland gab es nach der Niederlage der ersten offenen revolutionären Demonstration von Spartakus und nach der Ermordung seiner Führer tatsächlich nicht für einen Tag eine Ruhepause. Streiks, Aufstände, direkte Kämpfe folgen einander in verschiedenen Teilen des Landes. Kaum gelingt es der Scheidemann-Regierung, in den Vorstädten Berlins Ordnung zu schaffen, als schon die tapferen von den Hohenzollern geerbten Garden nach Stuttgart oder Nürnberg eilen müssen. Essen, Dresden, München wechseln sich im blutigen Bürgerkrieg ab. Jeder neue Sieg Scheidemanns ist nur ein Ausgangspunkt für einen neuen Aufstand der deutschen Arbeiter. Die Revolution des deutschen Proletariats hat einen langwierigen, kriechenden Charakter angenommen und kann auf den ersten Blick die Befürchtung hervorrufen, dass die herrschenden Schurken in zahllosen Kämpfen in der Lage sein werden, sie Stück für Stück zu erschöpfen. Gleichzeitig scheint sich die Frage zu stellen: Gibt es schwerwiegende taktische Fehler seitens der Führer der Bewegung, die die gesamten Bewegung mit dem Tod bedrohen?

Um die deutsche Arbeiterrevolution zu verstehen, ist es notwendig, sie nicht einfach in Analogie zur russischen Oktoberrevolution zu beurteilen, sondern ausgehend von den inneren Bedingungen der Entwicklung Deutschlands selbst.

Die Geschichte hat sich so entwickelt, dass in der Epoche des imperialistischen Krieges die deutsche Sozialdemokratie – das kann jetzt mit völliger Objektivität gesagt werden – der konterrevolutionärste Faktor der Weltgeschichte ist. Aber die deutsche Sozialdemokratie ist kein Zufall: Sie ist nicht vom Himmel gefallen, sondern ist durch die Anstrengungen der deutschen Arbeiterklasse während jahrzehntelangen kontinuierlichen Aufbaus und Anpassung an die Bedingungen des kapitalistisch-junkerlichen Staats entstanden. Die Parteiorganisation und die damit verbundenen Gewerkschaften zogen aus dem Proletariat alle hervorstechendsten energischsten Elemente heraus und unterzogen sie einer psychologischen und politischen Verarbeitung. Zur Zeit des Krieges, zur Zeit der größten historischen Überprüfung, stellte sich heraus, dass die offizielle Arbeiterorganisation sich nicht als eine Kampforganisation des Proletariats gegen den bürgerlichen Staat fühlte und handelte, sondern als ein Hilfsorgan des bürgerlichen Staates, das dazu diente, das Proletariat zu disziplinieren. Die Arbeiterklasse erwies sich als gelähmt, weil nicht nur der kapitalistische Militarismus, sondern auch der Apparat der eigenen Partei mit all seinem Gewicht sich auf sie legte. Die Kriegsprüfungen, ihre Siege, ihre Niederlagen haben die deutsche Arbeiterklasse aus dem Zustand der Lähmung getrieben, aus der Disziplin der offiziellen Partei befreit. Letztere zersplitterte in Teile. Aber das deutsche Proletariat hatte keine revolutionäre Kampforganisation. Die Geschichte zeigte der Welt wieder einmal einen ihrer dialektischen Widersprüche: gerade weil die deutsche Arbeiterklasse in der vergangenen Epoche den größten Teil ihrer Energie auf selbstgenügsamen Organisationsaufbau verwendete und den ersten Platz in der Zweiten Internationale beim Partei- und Gewerkschaftsapparat einnahm, erwies sie sich in einer neuen Epoche, im Moment des Übergang zum offenen revolutionären Machtkampf organisatorisch extrem wehrlos.

Die russische Arbeiterklasse, die ihre Oktoberrevolution machte, erhielt von der vorhergehenden Ära ein unschätzbares Erbe in Form einer zentralisierten revolutionären Partei. Das Zur-Bauernschaft-Gehen der Narodniki-Intelligenz, der terroristische Kampf der Narodowolzen, die Untergrundagitation der ersten Marxisten, die revolutionären Manifestationen der ersten Jahre dieses Jahrhunderts, der Oktobergeneralstreik und die Barrikaden von 1905, der revolutionäre „Parlamentarismus“ der Stolypin-Ära, der eng mit der Untergrundbewegung verbunden war, bereiteten das zahlreiche Personal der revolutionären Führer vor, härtete es im Kampf und verband es durch die Einheit des sozialrevolutionären Programms.

Nichts dergleichen vermachte die vorhergehende Geschichte der deutschen Arbeiterklasse. Sie muss nicht nur um die Macht kämpfen, sondern auch im Prozess dieses Kampfes ihre Organisationen gründen und ihre zukünftigen Führer schulen. Es stimmt, unter den Bedingungen der Revolutionsära wird diese Erziehungsarbeit mit fieberhafter Geschwindigkeit ausgeführt, aber es braucht dennoch Zeit, um sie zu erzeugen. In Ermangelung einer zentralisierten revolutionären Partei mit der Autorität einer Kampfführung, die in den arbeitenden Massen allgemein anerkannt ist, in Ermangelung einer in der Praxis getesteten, durch die Erfahrung bestätigten proletarischen Bewegung von führenden Kampfeinheiten und Führern in den Zentren und Bezirken, nahm die Bewegung des Proletariats, die auf den Straßen ausbrach, notwendigerweise einen chaotischen, kriechenden Charakter an. Diese aufflammenden Streiks, Aufstände und Kämpfe sind die einzige Form der offenen Mobilisierung der Kräfte des deutschen Proletariats, befreit von der Unterdrückung der alten Partei, und zugleich der einzige Weg, neue Führer auszubilden und eine neue Partei aufzubauen. Es ist ziemlich offensichtlich, dass dieser Weg eine enorme Belastung der Kräfte verursacht und unzählige Opfer erfordert. Aber es gibt keine Wahl. Nur so kann sich der Klassenaufstand des deutschen Proletariats voll entfalten.

Nach dem Blutsonntag, dem 9. Januar 1905, als die Arbeiter Petrograds und nach ihnen die Arbeiter des ganzen Landes nach und nach die Notwendigkeit des Kampfes begriffen und gleichzeitig ihre Isoliertheit empfanden, begann im Land eine mächtige, aber äußerst chaotische Streikbewegung. Damals gab es Weise, die über den Energieaufwand der russischen Arbeiterklasse trauerten und ihre Erschöpfung und die darauffolgende Niederlage der Revolution voraussagten. Tatsächlich waren die spontanen kriechenden Streiks der Frühlings- und Sommermonate von 1905 die einzig mögliche Form revolutionärer Mobilisierung und organisatorischer Bildung: Sie bereiteten den großen Oktoberstreik und den Aufbau der ersten Sowjets vor.

In dem, was jetzt in Deutschland geschieht, gibt es eine Analogie mit der eben erwähnten ersten russischen Revolution. Aber natürlich entwickelt sich die deutsche revolutionäre Bewegung auf unvergleichlich höheren und stärkeren Grundlagen. Wenn die alte offizielle Partei vollkommen bankrott gegangen ist und zu einer Reaktionswaffe geworden ist, bedeutet das natürlich nicht, dass die Arbeit, die sie in der vorherigen Ära geleistet hat, spurlos verschwunden ist. Das politische und kulturelle Niveau der deutschen Arbeiter, ihre organisatorischen Fertigkeiten und Fähigkeiten sind sehr hoch. Zehntausende von Arbeiterführern, die in der vergangenen Epoche von politischen und Gewerkschaftsorganisationen aufgesogen und von ihnen scheinbar assimiliert worden waren, erlitten tatsächlich nur vorübergehend eine Unterdrückung ihres revolutionären Bewusstseins. Jetzt, im Prozess der offenen Teilkonflikte, in den Prüfungen dieser revolutionären Mobilisierung, in der harten Erfahrung dieser kriechenden Revolution werden Zehntausende von vorübergehend blinden, betrogenen und terrorisierten Arbeiterführern aufgeweckt und aufgerichtet. Die Arbeiterklasse findet sie wieder, wie sie ihren Platz im neuen Kampf der Arbeiterklasse finden. Wenn die historische Bestimmung der unabhängigen Kautsky-Haase-Partei ist, Schwankung in die Reihen der Regierungspartei zu tragen und ihren verängstigten, verzweifelten oder empörten Elementen Schutz zu bieten, dann wird auf der anderen Seite eine der Folgen der stürmischen Bewegung, in der unsere Spartakus-Brüder eine solche heroische Rolle spielen, die fortwährende Zerstörung der Linken der Unabhängigen Partei sein, von der die besten, selbstlosesten Elemente in die kommunistische Bewegung hineingezogen werden.

Die Schwierigkeiten, Teilniederlagen und große Opfer des deutschen Proletariats sollten uns keine Minute entmutigen. Die Geschichte lässt dem Proletariat nicht die Wahl des Weges. Die hartnäckige, nicht aufhörende, immer wieder aufflammende, kriechende Revolution nähert sich dem kritischen Moment, in dem sie, nachdem sie alle zuvor mobilisierten und für den Kampf geschulten Kräfte gesammelt hat, dem Klassenfeind den letzten tödlichen Schlag versetzen wird.

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