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Leo Trotzki 19190914 Die Oktoberrevolution

Leo Trotzki: Die Oktoberrevolution

[Nach Russische Korrespondenz, 1. Jahrgang, Heft 14-16 (Oktober 1920), S. 755-757]

Anlässlich des nahenden Jahrestages der Oktoberrevolution ist es lehrreich, ein Merkmal hervorzuheben, das in den Berichten und Artikeln nicht genügend Beachtung gefunden hat. Der Oktoberaufstand war sozusagen im Voraus auf ein bestimmtes Datum, den 25. Oktober (den 7. November n. St.) festgesetzt worden, und zwar nicht in einer geheimen Sitzung, sondern offen, vor dem ganzen Volke und dieser siegreiche Aufstand fand, wie geplant worden war, am 25. Oktober 1917 statt.

Die Weltgeschichte kennt viele revolutionäre Umstürze und Aufstände. Aber vergeblich würde das Gedächtnis in der Geschichte nach einem zweiten Aufstand einer unterjochten Klasse suchen, der im Voraus auf einen bestimmten Tag festgesetzt und an diesem vorbestimmten Tage durchgeführt, und zwar siegreich durchgeführt worden wäre. In dieser Hinsicht, wie in mancher anderen, steht der Oktoberumsturz einzig und unvergleichlich da.

Die Machtergreifung in Petrograd sollte mit dem zweiten Sowjetkongress zusammenfallen. Dieses „Zusammentreffen" war nicht eine Berechnung der Verschwörer, sondern die Folge des ganzen vorhergegangenen Verlaufes der Revolution und besonders der ganzen Agitations- und Organisationsarbeit unserer Partei. Wir forderten die Übertragung der Macht an die Sowjets. Für diese Forderung schloss sich unter dem Banner unserer Partei die Mehrheit in den wichtigsten Sowjets zusammen. Folglich konnten wir fernerhin den Übergang der Macht in die Hände der Sowjets nicht mehr „fordern"; als leitende Partei der Sowjets mussten wir diese Macht nehmen. Wir zweifelten nicht daran, dass der zweite Sowjetkongress uns die Mehrheit geben werde. Daran konnten auch unsere Feinde nicht zweifeln. Sie widersetzten sich daher aus allen Kräften der Einberufung des zweiten Kongresses. So versuchte Dan in der Sitzung der Sowjetsektion der demokratischen Beratung auf jede mögliche Weise die Einberufung des zweiten Sowjetkongresses zu verhindern, und als dies nicht gelang, sie wenigstens hinauszuschieben. Diesen Widerstand gegen die Einberufung des Sowjetkongresses begründeten die Menschewiki und Sozialrevolutionäre damit, dass dieser Kongress dem Versuch der Bolschewiki, die Macht zu ergreifen, zur Arena dienen könne. Wir unsererseits bestanden auf der möglichst schnellen Einberufung des Kongresses und verheimlichten dabei durchaus nicht, dass unserer Meinung nach der Kongress eben dazu nötig sei, um die Macht den Händen der Regierung Kerenskis zu entreißen. Schließlich gelang es Dan bei der Abstimmung der Sowjetsektion der demokratischen Beratung, die Einberufung des 2. Kongresses vom 15. auf den 25. Oktober zu verlegen. Auf diese Weise hatte der „reale" Politiker des Menschewismus der Geschichte einen Aufschub von rund 10 Tagen abgehandelt

Auf allen Petrograder Arbeiter- und Soldatenversammlungen behandelten wir die Frage folgendermaßen: am 25. Oktober werde der 2. Allrussische Sowjetkongress zusammentreten; das Petrograder Proletariat und die Garnison werden vom Kongress in erster Linie verlangen, dass er die Machtfrage auf die Tagesordnung stelle und sie in dem Sinne entscheide, dass von jetzt ab die Macht dem Allrussischen Sowjetkongress gehört. Sollte die Regierung Kerenskis versuchen, den Kongress auseinanderzujagen, dann werde so lauteten unzählige Resolutionen die Petrograder Garnison ihr entscheidendes Wort sprechen.

Agitiert wurde tagaus, tagein. Dadurch, dass wir den Kongress auf den 25. Oktober anberaumt hatten und im Voraus als ersten und eigentlichen „Punkt" die Verwirklichung (nicht Erörterung sondern Verwirklichung) des Überganges der Macht in die Hände der Sowjets auf die Tagesordnung gestellt, d. h. die Staatsumwälzung auf den 25. Oktober festgesetzt hatten, bereiteten wir offen, vor den Augen der „Gesellschaft" und ihrer „Regierung", die bewaffnete Macht für diesen Umsturz vor.

Mit der Vorbereitung des Kongresses verband sich eng die Frage der Abberufung eines bedeutenden Teils der Garnison aus Petrograd. Kerenski fürchtete die Petrograder Soldaten, (und zwar mit Recht). Er schlug Tscheremissow, der damals die Nordarmee befehligte, vor, die unzuverlässigen Regimenter an die Front zu berufen. Tschermissow wich, wie dies die nach dem 25. Oktober gefundene Korrespondenz beweist, dieser Aufforderung aus, da er die Petrograder Garnison für „propagandiert" und daher im imperialistischen Kriege für nicht verwendbar hielt; jedoch unter dem Druck Kerenskis, der sich von rein politischen Beweggründen leiten ließ, erließ Tscheremissow den entsprechenden Befehl.

Sobald der Bezirksstab den Befehl zur Verschiebung der Truppenteile dem Exekutivkomitee des Petrograder Sowjets „zur Ausführung" übergeben hatte, war uns, den Vertretern der proletarischen Opposition klar, dass diese Frage in ihrer weiteren Entwicklung von entscheidender politischer Bedeutung sein könne! In unruhiger Erwartung der auf den 25. Oktober angesetzten Staatsumwälzung machte Kerenski den Versuch, das aufrührerische Petrograd zu entwaffnen. Uns blieb nur übrig, der Regierung Kerenskis in dieser Frage nicht bloß die Arbeiter, sondern die ganze Garnison entgegenzustellen. Vor allem wurde beschlossen, in der Gestalt des revolutionären Kriegskomitees ein Organ zu schaffen, das die militärischen Motive des Befehls zur Versetzung der Petrograder Garnison nachzuprüfen hatte. Auf diese Weise wurde neben der politischen Vertretung der Garnison, der Soldatensektion des Sowjets, ein revolutionärer Operationsstab dieser Garnison geschaffen.

Die Menschewiki und Sozialrevolutionäre begriffen auch jetzt sofort, dass ein Apparat des bewaffneten Aufstandes geschaffen werden sollte und erklärten dies offen auf der Sitzung der Sowjets. Obgleich sie gegen die Bildung des revolutionären Kriegskomitees gestimmt hatten, traten die Menschewiki ihm nun bei um als Notare oder Schreiber dem Akt der Staatsumwälzung beizuwohnen. Nachdem es ihnen zunächst gelungen war, ihre politische Existenz um zehn Tage zu verlängern, sicherten sie sich nun das Recht, als Ehrenassistenten bei ihrem politischen Tode zugegen zu sein.

So war denn der Kongress auf den 25. Oktober angesetzt. Die Partei, der die Mehrheit gesichert war, stellte dem Kongress die Aufgabe, die Macht zu ergreifen. Die Garnison, die sich geweigert hatte, Petrograd zu verlassen, wurde zum Schutze des künftigen Sowjets mobilisiert. Das dem Bezirksstab entgegengestellte revolutionäre Kriegskomitee wurde in den revolutionären Stab des Petrograder Sowjets verwandelt. Dies alles geschah vollständig offen, vor den Augen des ganzen Petrograd, der Regierung Kerenskis, der ganzen Welt. Eine Tatsache, die einzig in ihrer Art ist.

Währenddessen wurde der bewaffnete Aufstand in Parteikreisen und in der Presse offen erörtert. Die Diskussion schweifte oft stark vom Gang der Ereignisse ab. Man brachte den Aufstand weder mit dem Kongress, noch mit der Versetzung der Garnison in Zusammenhang und betrachtete den Umsturz als konspirativ vorbereitete Verschwörung. In Wirklichkeit war der bewaffnete Aufstand nicht nur von uns „anerkannt", sondern er wurde auch zu einem voraus bestimmten Augenblick vorbereitet, wobei selbst der Charakter des Aufstandes, wenigstens für Petrograd vorherbestimmt war durch den Zustand der Garnison und durch ihre Stellungnahme zum Sowjetkongress.

Einige Genossen standen dem Gedanken skeptisch gegenüber, dass die Revolution „nach dem Kalender" anberaumt wurde. Sie hielten es für zuverlässiger, sie in Ausnutzung des wichtigen Vorteils der Überrumpelung auf streng konspirative Weise durchzuführen. In der Tat konnte Kerenski in Erwartung des Aufstandes am 25. Oktober zu diesem Tage neue militärische Kräfte herbeiholen, eine Säuberung der Garnison vornehmen u. a.

Aber das ist gerade die Hauptsache, dass die Frage der Änderung des Bestandes der Petrograder Garnison zum Hauptpunkt des Umsturzes wurde, der sich für den 25. Oktober vorbereitete. Der Versuch Kerenskis, den Bestand der Petrograder Regimenter zu ändern, wurde im Voraus – und dies mit vollem Recht als Fortsetzung des Kornilowschen Attentats angesehen. Der „legalisierte" Aufstand hypnotisierte außerdem den Feind. Dadurch, dass Kerenski seinen Befehl zum Abtransport der Truppen an die Front nicht durchführte, erhöhte er in gewaltigem Maße das Selbstbewusstsein der Soldaten und sicherte damit den Erfolg des Umsturzes noch mehr. Nach dem Umsturz vom 25. Oktober sprachen die Menschewiki und in erster Linie Martow viel über die Machtergreifung seitens eines Häufleins Verschwörer hinter dem Rücken des Sowjets und der Arbeiterklasse. Es ist schwer, eine böswilligere Verhöhnung des Sinnes der Tatsachen zu erdenken! Als wir auf der Sitzung der Sowjetsektion der demokratischen Beratung mit Stimmenmehrheit den Sowjetkongress auf den 25. Oktober festsetzten, da sagten die Menschewiki: „Ihr setzt den Termin des Umsturzes fest". Als wir mit erdrückender Stimmenmehrheit des Petrograder Sowjets uns weigerten. die Regimenter aus Petrograd zu entfernen, da sagten die Menschewiki: „Das ist der Beginn des bewaffneten Aufstandes." Als wir im Petrograder Sowjet das revolutionäre Kriegskomitee gründeten, da konstatierten die Menschewiki: „Das ist der Apparat des bewaffneten Aufstandes." Und als dann am festgesetzten Tage mit Hilfe des im Vorausüberführten" Apparats der prophezeite Aufstand wirklich stattfand, da jammerten dieselben Menschewiki: „Ein Häuflein Verschwörer hat den Umsturz hinter dem Rücken der Arbeiterklasse vollzogen." In Wirklichkeit aber besteht das Schlimmste, dessen man uns beschuldigen kann, darin, dass wir im revolutionären Kriegskomitee einige technische Detailshinter dem Rücken" der menschewistischen Beisitzer vorbereitet hatten.

Es unterliegt keinem Zweifel, dass der Versuch einer militärischen Verschwörung, unabhängig vom 2. Sowjetkongress und dem revolutionären Kriegskomitee unternommen, in dieser Periode nur Verwirrung in den Gang der Ereignisse hätte hineinbringen und den Umsturz zeitweilig sogar hätte sprengen können. Die Garnison, zu deren Bestand politisch nicht organisierte Regimenter gehörten, hätte die Machtergreifung der Partei auf dem Wege der Verschwörung als etwas ihr Fremdes, für einige Regimenter direkt Feindliches betrachtet, während die Weigerung, Petrograd zu verlassen, um den Schutz des Sowjetkongresses zu übernehmen, dem die Macht im Lande gehören sollte, für dieselben Regimenter eine vollkommen natürliche, verständliche und notwendige Sache war. Die Genossen, die die „Festsetzung" des Aufstandes auf den 25. Oktober für eine Utopie hielten, haben eigentlich unsere Kraft und die Macht unseres politischen Einflusses in Petrograd im Vergleich mit der Regierung Kerenskis unterschätzt.

Das legale revolutionäre Kriegskomitee sandte seine Kommissare an alle Truppenteile der Petrograder Garnison und wurde auf diese Weise im vollen Sinne des Wortes zum Herrn der Situation. Die politische Karte der Garnison lag vor unseren Augen. Wir hatten in jedem beliebigen Moment die Möglichkeit, die erforderliche Gruppierung der Kräfte vorzunehmen und uns die strategischen Punkte in Petrograd zu sichern. Es blieb nur noch übrig, die Reibungen und eine mögliche Gegenaktion seitens der rückständigeren Truppenteile, besonders der Kavallerieregimenter zu beseitigen. Diese Arbeit gelang vorzüglich. Auf den Versammlungen in den Kasernen der einzelnen Regimenter fand unsere Parole – Petrograd vor Zusammentritt des Sowjetkongresses nicht zu verlassen und mit bewaffneter Macht den Übergang der politischen Gewalt in die Hände der Sowjets zu sichern fast einstimmige Anerkennung. In dem konservativen Semjonowregiment riefen Skobelew und Götz, die den Semjonowern den Schlager der Saison, die bevorstehende diplomatische Reise Skobelews nach Paris zwecks erzieherischer Beeinflussung Lloyd Georges und Clemenceaus, brachten, nicht nur keinen Enthusiasmus hervor, sondern sie erlitten im Gegenteil eine völlige Niederlage.1 Die Mehrheit stimmte für unsere Resolution. Im Zirkus „Modern" wurde auf der Versammlung der Kraftwagenführer, die für eine Stütze Kerenskis galten, unsere Resolution mit erdrückender Stimmenmehrheit angenommen. Der Generalquartiermeister Poradelow sprach im höchsten Grade versöhnend und zuvorkommend. Aber seine ausweichenden Zusatzanträge zur Resolution wurden abgelehnt.

Der letzte Schlag wurde dem Feinde im Herzen Petrograds, in der Peter-Pauls-Festung, versetzt. In Anbetracht der Stimmung der Festungsgarnison, die vollzählig an unserer Versammlung im Hof der Festung teilgenommen hatte, schlug der Gehilfe des Bezirkskommandeurs in der liebenswürdigsten Form eine „Aussprache zwecks Beseitigung des Missverständnisses" vor. Wir unsererseits versprachen die nötigen Maßnahmen zur völligen Beseitigung der Missverständnisse zu treffen. Und wirklich wurde nach einigen Tagen die Regierung Kerenskis, dieses größte Missverständnis der russischen Revolution, beseitigt.

Die Geschichte wandte ein Blatt um und schlug das Sowjetkapitel auf.

Balaschow-Sebrjakowo, den 14. September 1919.

1 Über dieses Treffen finden wir folgende interessante Stelle in Miljukows Buch „Die Geschichte der Revolution“:

Die Bolschewiki benutzten die Vertagung ihres Aufruhrs hauptsächlich, um ihre Positionen unter den Petrograder Arbeitern und Soldaten zu festigen, und Trotzki erschien in Versammlungen in verschiedenen Teilen der Petrograder Garnison, die dadurch gekennzeichnet waren, dass zum Beispiel im Semjonow-Regiment nach ihm die ZEK-Vertreter Skobelew und Götz nicht sprechen durften, Trotzki gab die Losung, auf die Anweisungen des Allrussischen Sowjetkongresses zu warten. Am 19. Oktober (in Wirklichkeit 18. 10.) fand eine geschlossene Sitzung von Regiments- und Betriebskomitees statt. Trotzki sprach direkt und wies auf die Ziele des Treffens hin: „Wir haben keine Entscheidung über den Termin des Aufruhrs, aber die Regierung will einen offenen Kampf mit uns führen, und wir werden den Kampf aufnehmen, die Petrograder Garnison wird sich dem Abzug der Truppen an die Front widersetzen“ (S. 195-196). [Fußnote aus Sotschinenija 3.2]

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