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Leo Trotzki 19280305 Brief an L. S. Sosnowski

Leo Trotzki: Brief an L. S. Sosnowski

[Trotzki nummerierte diesen Artikel als „Rundschreiben Nr. 5". Eigene Übersetzung nach dem russischen Text, verglichen mit den englischen und französischen Übersetzungen]

Ihren Brief habe ich vor drei Tagen erhalten; er war hierher ca. 20 Tage unterwegs. Dies ist bei der weiteren Korrespondenz zu berücksichtigen.

Aus Ihrem Brief geht zweifellos hervor, dass Barnaul viel besser ist als Narym: Ruhm dem Weisen, der unterwegs Narym durchgestrichen und Barnaul eingetragen hat.

Ich habe bereits Telegramme mit Ischtschenko ausgetauscht und ihm einen Brief geschrieben. Ich möchte an Waganjan schreiben; Seine Adresse habe ich Ihrem Brief entnommen. Sie erwähnen Wardin und Safarow. Können Sie uns sagen, in welcher Stimmung sie waren und welchen Eindruck der dumme, tränenreiche Brief der beiden „Ritter von der traurigen Gestalt" auf sie gemacht hat? Ihr Argument zur Gewerkschaftsbewegung ist besonders bemerkenswert. In dem veröffentlichten Dokument wurde gesagt, dass die Sowjetregierung trotz aller Fehler der Führung und Fehlkalkulationen, der künstlichen Verlangsamung des Entwicklungstempos usw. unermesslich mehr für die Arbeiterklasse mache, als jede bürgerliche Regierung bei dem gleichen ungefähren Niveau des Reichtums des Landes tun könnte und würde. Unsere zwei Philister beteuern – nach der offizieller Stimmgabel –: aber das ist ein gewerkschaftliches Kriterium; denn die Aufgabe der Sowjetregierung besteht nicht nur darin, das materielle Niveau usw. zu erhöhen, sondern auch den Sozialismus aufzubauen. Oh, was für schlaue und helle Leute! Nun, wie können wir solche Weisheit erahnen, wenn wir nicht an den Sozialismus glauben ... Wenn alle Arbeiter auf der ganzen Welt glaubten, dass das Kriterium der Diktatur des Proletariats höher stehe als „Gilden"- oder gewerkschaftliche Kriterien, dann gäbe es dort nichts, worüber man sich sorgen müsste. Aber der springende Punkt ist, dass die Bourgeoisie und die Sozialdemokratie den Arbeitern vor der Diktatur des Proletariats Angst machen, indem sie gerade darauf verweisen, dass die Diktatur selbst zur Verarmung des Proletariats führe, und unabhängig von der Entwicklung der Produktivkräfte die Vergleichskoeffizienten des Lebensstandards der Arbeiter nehmen. Das ist das Hauptargument des sozialdemokratischen Abschaums gegen die UdSSR und gegen die Diktatur des Proletariats überhaupt. Die Arbeiter eines bürgerlichen Russlands hätten auf dem gegebenen Niveau der Produktivkräfte des Landes niemals die Existenzbedingungen gehabt, die sie jetzt haben, trotz aller „Fehler, Fehleinschätzungen und Verschiebungen". Und dies ist das Argument, das unsere reuigen Philister trade-unionistisch nennen!

Danke für die Zeitungsausschnitte über die Kulaken. Sie sind sehr, sehr nützlich für mich. Haben Sie auf den Leitartikel in der Prawda am 15. Februar geachtet, der der Getreidebeschaffung gewidmet ist. Der Leitartikel dort ist wirklich bemerkenswert. Ich zitiere:

Von den Gründen, die die Schwierigkeiten bei der Getreidebeschaffung bestimmten, sollte folgender beachtet werden. Das Dorf wuchs und wurde reich. Der Kulak wuchs und wurde zuerst reich. Drei Jahre Ernte waren nicht umsonst."

Das Hindernis für die Getreidebeschaffung und damit den Aufbau des Sozialismus ist also die Tatsache, dass „das Dorf reich geworden ist". Also „drei Jahre Ernte waren nicht umsonst", heißt es in dem Artikel. Waren nicht umsonst!! Man könnte meinen, der Autor spricht von drei Erdbeben oder drei Epidemien. Es stellt sich heraus, dass „eine Erhöhung der Einkommen der Bauern ... bei einem relativen Rückstand bei der Versorgung mit Industriegütern (!!!) es der Bauernschaft im Allgemeinen, insbesondere dem Kulaken, ermöglicht hat, Getreideprodukte zu horten ...“ Weiter lesen wir, dass auch wenn der Kulak derjenige ist, für den die drei Getreideepidemien nicht umsonst waren – auch wenn er nicht „der Haupthalter von Getreideprodukten“ ist, er aber dennoch – hört – „eine ökonomische Autorität auf dem Lande ist (warum ist das so?), er eine Smytschka mit dem Stadtspekulanten hat (woher?), das Brot teurer gibt (warum das?), und er (der Kulak) die Fähigkeit hat, den Mittelbauern zu führen …" Heilig, heilig, heilig, was für eine Panik vor dem Kulaken? Warum kann dieser Kulak den Mittelbauern führen? In der Tat wird es buchstäblich so gesagt. Aber das ist doch ein parteifeindliches Dokument, kein Leitartikel. Ja, für den Autor ist Barnaul nicht genug. Ja, ich würde Barnaul streichen, und stattdessen oben Narym eintragen ...

Weiter heißt es: „Unsere Parteilinie im Dorf erwies sich in mehreren Bezirken (???) als schief." In welchen Bezirken? Welche Bezirke sind Ausnahmen? Das wird nicht gesagt, aber wir erfahren, dass „die Parteiorganisationen ... noch nicht überall Arbeit mit der Dorfarmut aufgebaut haben". In einer Reihe von Regionen ... Nicht überall ... Es wäre gut, dies geographisch zu klären: Dann würden wir wissen, ob von etwa einem Zehntel oder neun Zehnteln des Landes die Rede ist. Aber die schönste Stelle kommt erst noch:

... In unseren Organisationen, sowohl der Partei als auch anderen, sind in letzter Zeit bestimmte parteifremde Elemente entstanden, die die Klassen des Dorfes nicht sehen ... und versuchen, auf eine Weise zu arbeiten, die niemanden im Dorf belästigt, in dem sie in Frieden mit dem Kulaken leben und allgemein unter allen Schichten des Dorfes beliebt sind. "

Es fällt auf, wie diese Elemente „entstanden" sind, als die heftige „Bolschewisierung" der Partei genau auf der Linie der Bauernfrage (1923-1927) stattfand. Und es ist offensichtlich, dass diese Elemente (es wäre gut, wenn sie beim Namen genannt würden) nicht nur „entstanden", sondern auch die Politik so beeinflusst haben, dass „der Kulak die wirtschaftliche Autorität im Dorf ist ... und die Gelegenheit hat, die Mittelbauern zu führen."

Es bleibt noch eine Frage: wie werden diese „parteifremden Elemente" – sie werden später „degenerierte Elemente" genannt: sie entstanden nicht, sondern degenerierten – wie sind diese fremden, degenerierten Elemente nicht in den wichtigsten Fragen des Parteilebens in den vergangenen Jahren aufgetreten? Wie konnten sie nicht an der sozialdemokratischen Abweichung kleben? Die Tatsache, dass sie parteifremd und degeneriert sind, wurde irgendwie zufällig bei der Getreidebeschaffung herausgefunden, überraschend. Kann man bezweifeln, dass diese Fremden oder Degenerierten die berüchtigtsten Hasser der „sozialdemokratischen Abweichung" waren und sind, die glühendsten Anhänger des „Aufbaus des Sozialismus in unserem Land", und uns in Zukunft noch viele Überraschungen bevorstehen? Die Brotbeschaffung ist eine große Frage, aber es gibt noch größere Fragen: zum Beispiel Krieg oder Revolution in Europa. Wenn der Kulak die Fähigkeit besitzt, die Mittelbauern zu führen und in der Partei Elemente entstanden oder degeneriert sind, die am liebsten in Frieden mit dem Kulaken leben, dann kann das bei großen Ereignissen, Komplikationen und Wendungen sehr stark sein. Dies muss Einfluss haben. Dies ist der gleiche Schwanz, der bei der Frage der Getreidebeschaffung (noch leicht) über den Kopf geschlagen hat. Im Falle des Krieges wird dieser Schwanz versuchen, den Kopf zu ersetzen, wird in jedem Fall seine harten Bedingungen stellen. Und die in Barnaul, Narym, Alma-Ata und anderswo werden den „sozialistischen Aufbau", den sie angeblich nicht anerkennen, bedingungslos und vorbehaltlos verteidigen.

Als praktische Maßnahmen wird die Konfiszierung von „Getreideüberschüssen" von den Kulaken durchgeführt, und die Prawda empfiehlt 25%1 (von dem Beschlagnahmten) der Dorfarmut zu übegeben. Diese Maßnahme ist viel härter als die Zwangsanleihe von 150.000.000 Pud bei den oberen 10% der Bauernhaushalte. Aber im Zusammenhang mit diesem und ähnlichen Vorschlägen wurde gesagt, dass dies Abschaffung der NEP, Überschussbeschlagnahmung, Kriegskommunismus usw. sei. Der Schwanz, der diese Reden gehört hat, schlägt nun auf den Kopf und schlägt ihn offensichtlich nicht schwach, denn die Redaktion der Prawda sagt weiter:

Die Diskussionen, dass wir die NEP abschaffen (man höre!), Überschussbeschlagnahmung, Entkulakisierung etc. einführen, sind konterrevolutionäres Geschwätz, gegen das ein entscheidender Kampf notwendig ist."

Der Autor der berühmten Losung „Bereichert euch" ist eindeutig beleidigend: ach du meine Güte und ach du meine Stirn.2 Anschuldigungen des Kriegskommunismus eignen sich für eine literarische „Diskussion" mit der sozialdemokratischen Abweichung, aber wenn der Kulak deinen Schwanz einklemmt, ist es keine Angelegenheit der Literatur, hier kann man sich sogar an etwas vom Marxismus erinnern ... Und dann wieder Drohungen gegen „konterrevolutionäre Schwätzer die von der Abschaffung der NEP" sprechen, und die Forderungen, die Partei von „fremden und sich einschleichenden Elementen" zu befreien (aber sie haben in der Tat nur auf „Fremde" geschlagen – oder nicht auf sie?).

Der leichtfertige Autor des Artikels stellt sich vor, dass es möglich sei, mit Hilfe von Leitartikeln mit Fremden, Entstandenen, Eingeschlichenen und Degenerierten umzugehen. Nein, dieses Geschäft ist viel ernster. Die Jahre der Fälschung des Marxismus haben eine ganze Generation geschaffen, die „mit allen Schichten (außer der Schicht der Abweichler) in Frieden leben will". Und unter dieser neuen Generation und den degenerierten Teilen des Alten fanden große Verschiebungen in der sozialen Ordnung statt, und „drei Erntejahre waren nicht umsonst". Ein schwerer Schwanz hat sich gebildet, der seine Stärken ausprobiert: zuerst bei der „sozialdemokratischen Abweichung", dann bei der Getreidebeschaffung, und dann wird er die Frage der Macht in vollem Umfang erreichen. Nein, lieber Freund, wir werden noch gebraucht und zwar sehr ...

Unser Vorteil ist, dass wir richtig voraussehen. Marx sagt in seinem Bürgerkrieg, dass die Proudhonisten und Blanquisten gezwungen waren, während der Kommune genau das Gegenteil von dem zu tun, was sie vor dem Beginn der Kommune gelehrt hatten.3 Ähnliche Überraschungen sehen wir nicht nur am Beispiel der Getreidebeschaffung, sondern auch am Beispiel des Kantonaufstandes. Uns wurde gesagt, dass Sowjets nur für eine sozialistische Revolution geeignet seien, und in China gebe es einen Kampf gegen den Feudalismus. Und was passierte in der Praxis? In Kanton, d.h. keineswegs einem großindustriellen Zentrum Chinas, gab der – zumindest episodische – Sturz der Reaktion den Arbeitern die Macht, diese Macht nahm sofort die Form von Sowjets an, und die Sowjets proklamierten nicht nur die Konfiszierung von Großgrundbesitz (soweit er existiert), sondern auch die Verstaatlichung von großen Industrie- und Transportunternehmen. „Geschickt auf dem Papier geschrieben" (sagen wir mal: nicht sehr geschickt), aber es stellte sich heraus, dass es genau umgekehrt war. Zu diesem Thema hatte ich im Herbst letzten Jahres mit Sinowjew große schriftliche und mündliche Auseinandersetzungen. Dies hatte er im Sinn, als er dann von „Rülpsern" sprach. Aber die Fakten haben es überprüft! …

Nun, genug von den großen Fragen. Entgegen Ihrer Annahme waren wir nicht ein einziges Mal im Kino. Dies ist wahrscheinlich durch die Tatsache erklärt, dass wir zu dritt sind und Sie allein. Rakowski ist in Astrachan, nicht in Krasnaja Jar.

L. Trotzki

5. März 1928

1In der englischen und französischen Übersetzung „24%“

2Übersetzung unklar. In den englischen und französischen Übersetzungen sind statt dessen …

3 „Selbstverständlich sind für die ökonomischen Dekrete der Kommune, für ihre rühmlichen wie für ihre unrühmlichen Seiten, in erster Linie die Proudhonisten verantwortlich, wie für ihre politischen Handlungen und Unterlassungen die Blanquisten. Und in beiden Fällen wollte es die Ironie der Geschichte – wie gewöhnlich, wenn Doktrinäre ans Ruder kommen –, dass die einen wie die andern das Gegenteil von dem taten, was ihre Schuldoktrin vorschrieb.“ (Friedrich Engels, Einleitung zum „Bürgerkrieg in Frankreich“, 1891)

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