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Friedrich Engels 18920928 Brief an Franz Mehring

Friedrich Engels: Brief an Franz Mehring

in Berlin1

[Marx-Engels-Werke, Band 38, Berlin 1968, S. 480-482]

London, 28. Sept. 1892

Geehrter Herr Mehring,

Kautsky schickt mir ein Fragment eines Ihrer Briefe mit einer Anfrage an mich.2 Wenn Sie glauben, nicht wohl an mich schreiben zu können, weil ich vor langen Jahren einmal zwei Ihrer Briefe unbeantwortet gelassen, so habe ich kein Recht, mich darüber zu beschweren. Damals freilich standen wir in verschiedenen Lagern, es galt das Sozialistengesetz, und dies zwang uns die Regel auf: wer nicht für uns ist, der ist wider uns. Zudem, wenn ich mich recht erinnere, sagten Sie in dem einen Brief selbst, dass Sie wohl keine Antwort erwarten dürften.3 Indes, das ist lange her, seitdem haben wir uns im selben Lager gefunden, und Sie haben in der „NZ" vorzügliche Arbeiten geleistet, mit deren Anerkennung ich in Briefen z.B. an Bebel keineswegs gegeizt habe. Ich ergreife also mit Vergnügen die Gelegenheit, Ihnen direkt zu antworten.

Die Prätension, die Entdeckung der materialistischen Geschichtsanschauung den preußischen Romantikern der historischen Schule zuzuschreiben, ist mir allerdings neu. Marwitz' „Nachlass" habe ich selbst und das Buch noch vor einigen Jahren durchgelesen, aber nichts darin entdeckt als vortreffliche Sachen über Kavallerie und einen felsenfesten Glauben an die Wunderkraft von fünf Peitschenhieben, wenn angewandt vom Adel auf den Plebs. Sonst ist mir diese Literatur seit 1841-42 absolut fremd geblieben – ich beschäftigte mich nur sehr oberflächlich mit ihr – und verdanke ich ihr sicher absolut nichts in der fraglichen Richtung. Marx hatte während seiner Bonner und Berliner Zeit den Adam Müller und Herrn von Hallers „Restauration" etc. kennengelernt, er sprach nur mit ziemlicher Verachtung von diesem faden, phrasenhaft aufgebauschten Abklatsch der französischen Romantiker Joseph de Maistre und Kardinal Bonald. Sollte er aber auch auf Stellen gestoßen sein wie die zitierte von Lavergne-Peguilhen4, so konnten diese damals absolut keinen Eindruck auf ihn machen, wenn er überhaupt verstand, was die Leute sagen wollten.

M war damals Hegelianer, für den jene Stelle absolute Ketzerei war; von Ökonomie wusste er absolut nichts, konnte sich also bei einem Wort wie „Wirtschaftsform" gar nicht einmal etwas denken, und so hätte die fragliche Stelle, selbst wenn er sie gekannt, zum einen Ohr hinein- und zum anderen wieder hinausgehen müssen, ohne eine merkliche Spur in seinem Gedächtnis zu hinterlassen. Aber ich glaube kaum, dass in den zwischen 1837 und 42 von M gelesenen historisch-romantischen Schriften dergleichen Anklänge zu finden gewesen.

Die Stelle ist allerdings höchst merkwürdig, doch möchte ich das Zitat verifiziert sehen Ich kenne das Buch nicht, der Verfasser ist mir allerdings als Anhänger der „historischen Schule" bekannt. Die Stelle weicht in zwei Punkten von der modernen Auffassung ab, 1. indem sie die Produktion und Produktionsverteilung von der Wirtschaftsform herleitet, statt umgekehrt die Wirtschaftsform von der Produktion, und 2. in der Rolle, die sie der „angemessenen Handhabung" der Wirtschaftsform zuteilt, wobei man sich alles mögliche denken kann, solange man nicht aus dem Buch selbst sieht, was der Verfasser meint.

Das sonderbarste aber ist, dass sich die richtige Geschichtsauffassung in abstracto bei denselben Leuten finden soll, die die Geschichte in concreto am meisten misshandelt haben – theoretisch wie praktisch. Die Leute mögen am Feudalismus gesehen haben, wie hier die Staatsform sich aus der Wirtschaftsform entwickelt, weil die Sache hier sozusagen klar und unverhüllt auf der Hand liegt. Ich sage, sie mögen, denn abgesehen von obiger unverifizierten Stelle – Sie sagen selbst, man habe sie Ihnen gegeben – habe ich nie mehr davon entdecken können, als dass selbstredend die Theoretiker des Feudalismus weniger abstrakt sind als die bürgerlichen Liberalen. Wenn nun einer von ihnen diese Auffassung des Zusammenhangs von Kulturausbreitung und Staatsform mit der Wirtschaftsform innerhalb der feudalen Gesellschaft weiter dahin verallgemeinert, dass dies für alle Wirtschaftsformen und Staatsformen gilt, wie dann erklären die totale Blindheit desselben Romantikers, sobald es sich um andere Wirtschaftsformen, um die bürgerliche Wirtschaftsform und die ihren verschiedenen Entwicklungsstufen entsprechenden Staatsformen – mittelalterliche Zunftkommune, absolute Monarchie, konstitutionelle Monarchie, Republik – handelt? Das ist doch schwer zusammenzureimen. Und derselbe Mann, der in der Wirtschaftsform die Grundlage der gesamten Gesellschafts- und Staatsorganisation sieht, gehört einer Schule an, für die bereits die absolute Monarchie des 17. und 18. Jahrhunderts einen Sündenfall, einen Verrat an der wahren Staatsdoktrin bedeutet!

Allerdings aber heißt es auch, die Staatsform gehe ebenso unvermeidlich aus der Wirtschaftsform und deren angemessener Handhabung hervor, wie das Kind aus der Begattung von Mann und Weib. In Anbetracht der weltbekannten Schuldoktrin des Verfassers kann ich dies nur dahin erklären: Die wahre Wirtschaftsform ist die feudale. Da die Bosheit der Menschen sich aber gegen diese verschwört, ist sie derart „angemessen zu handhaben", dass sie in ihrem Bestand gegen diese Angriffe geschützt und verewigt wird und dass die „Staatsform" usw. ihr fortwährend entspricht, also möglichst aufs 13. und 14. Jahrhundert zurückgeschraubt wird. Dann wäre die beste der Welten und die schönste der Geschichtstheorien gleichmäßig realisiert, und die L-Psche Generalisation wieder auf ihren wahren Inhalt: dass feudale Gesellschaft eine feudale Staatsordnung erzeugt, reduziert;5"

Ich kann bis auf weiteres nur annehmen, dass L-P nicht gewusst hat, was er schrieb. Gewisse Tiere finden ja nach dem Sprichwort auch zuweilen eine Perle, und sie sind unter den preußischen Romantikern stark vertreten. Übrigens wären immer noch ihre französischen Urbilder zu vergleichen - ob nicht auch dies ebenfalls entlehnt ist.

Ihnen kann ich nur danken dafür, dass Sie mich auf diesen Punkt aufmerksam gemacht haben, den ich leider hier augenblicklich nicht weiter verfolgen kann.

Aufrichtigst der Ihrige

F. Engels

1 Ein Teil dieses Briefes wurde zum ersten Mal mit Engels' Einwilligung (vgl. Engels' Brief an Franz Mehring vom 11. April 1893) von Mehring in seiner Abhandlung „Über den historischen Materialismus" veröffentlicht, die Mitte 1893 als Anhang zur Buchausgabe der „Lessing-Legende" von Mehring erschien.

2 Die Anfrage Franz Mehrings, der an seiner Abhandlung „Über den historischen Materialismus" arbeitete, betraf Probleme der materialistischen Geschichtsauffassung. Karl Kautsky hatte Engels diese Anfrage am 24.September 1892 übermittelt.

3 Franz Mehring hatte Engels in seinen Briefen vom 3. Juli 1884 und 16. Januar 1885 gebeten, ihm Material für eine Marx-Biographie zur Verfügung zu stellen. Mit dem vorliegenden Brief beginnt der eigentliche Briefwechsel zwischen Engels und Mehring.

4 Engels bezieht sich auf Lavergne-Peguilhens Werk „Grundzüge der Gesellschaftswissenschaft. Th. l. Die Bewegungs- und Productionsgesetze" (Königsberg 1838). Auf S.225 dieser Arbeit erörtert der Autor den Einfluss der Wirtschaftsform auf die Entwicklung der Staatsform. Die von Engels angeführte Stelle zitiert Franz Mehring in seiner Abhandlung „Über den historischen Materialismus".

5 In seinem Brief an Franz Mehring vom 11. April 1893 bat Engels Mehring, diese Stelle des Briefes für die Veröffentlichung im Anhang zur „Lessing-Legende" wie folgt zu verändern: „und die L-Psche Generalisation wieder reduziert auf ihren wahren Gehalt: dass feudale Gesellschaft eine feudale Weltordnung erzeugt".

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