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Spaltung der SDKPiL

Die Meinungsverschiedenheiten zwischen der führenden Gruppe des Hauptvorstandes der Sozialdemokratie Polens und Litauens (Tyszka, Dzierżyński, Marchlewski, Warski, Rosa Luxemburg) und der Warschauer Organisation der Partei entstanden in den Fragen der Freiheit der innerparteilichen Diskussion, einer größeren Selbständigkeit der Lokalorganisationen, der Stellung zu den Gruppierungen in der SDAPR usw. Ende 1911 begannen sich diese Meinungsverschiedenheiten zu einem großen Konflikt auszuwachsen, Konferenzen der Parteiorganisationen der einzelnen Stadtteile Warschaus sowie die von J. Unszlicht und S. Matuschewski geleitete (Distrikt-) Konferenz der Organisationen sämtlicher Stadtteile, die im Dezember 1911 stattfanden, beschlossen eine Reihe von Resolutionen, die gegen den Hauptvorstand gerichtet waren. Dieselbe Konferenz sämtlicher Stadtteile im Dezember, an der kein Vertreter des Hauptvorstandes teilnahm, wählte ein neues Parteikomitee für Warschau, das entschieden die Durchführung der Losungen der Opposition forderte.

Die Opposition begann den Kampf für die sofortige Einberufung einer erweiterten allgemeinen Parteikonferenz und für die Vorbereitung eines Parteitages (der letzte Parteitag hatte Ende 1908 stattgefunden). Sie kritisierte die Unentschlossenheit der allgemeinen politischen Linie des Hauptvorstandes, protestierte gegen das zweideutige Verhalten gegenüber der „Linken" der PPS und verurteilte entschieden das systematische Schweigen des Hauptvorstandes über die Lage in der SDAPR, als deren Bestandteil sich (seit 1906) die Sozialdemokratie Polens und Litauens betrachtete.

Der Hauptvorstand löste im Juni 1912 die ganze Warschauer Organisation als „Spalterorganisation" auf und setzte, gestützt auf einen Teil der Gewerkschaftsfunktionäre, aus deren Mitte ein neues Warschauer Parteikomitee ein. Auf diese Weise wurde die Spaltung zur vollendeten Tatsache: seither gab es zwei Warschauer Parteikomitees, parallele Stadtbezirksorganisationen, zwei Warschauer Parteiorgane – beide mit derselben Bezeichnung („Gazeta Robotnicza", „Arbeiterzeitung") – usw.

Die Spaltung ergriff bald auch die sozialdemokratische Gewerkschaftsbewegung. Es begann ein heftiger Fraktionskampf, der dadurch kompliziert wurde, dass der Hauptvorstand die Führer der „Spaltung" der Verbindung mit der politischen Geheimpolizei beschuldigte. In seinem Rundschreiben vom 8. Juli 1912, das an das Internationale Sozialistische Büro gerichtet war, schrieb der Hauptvorstand geradezu, dass „die begründete Annahme besteht, dass diese ,Spaltung', die jedweder politischen Grundlage entbehrt und plötzlich unmittelbar vor den Wahlen in die Reichsduma vollzogen wurde, unter aktiver Teilnahme der politischen Geheimpolizei vor sich ging" („Gazeta Robotnicza", No. 16 vom Jahre 1912).

Es setzten auch nicht öffentlich ausgesprochene Beschuldigungen gegen einzelne Mitglieder des Warschauer Komitees ein, dass sie Lockspitzel seien. Die Mehrheit der Mitglieder der vom Hauptvorstande zur Untersuchung dieser Beschuldigungen eingesetzten Kommission kam allerdings zu der Überzeugung, dass alle Verdächtigungen gegen die Führer der Warschauer Organisation unbegründet sind, und im Juli 1912 veröffentlichte die Kommissionsmehrheit einen offenen Brief, in welchem direkt erklärt wurde, dass der Hauptvorstand im politischen Kampfe gegen die Warschauer Organisation mit tendenziösen, auf kein Tatsachenmaterial gestützten Schlussfolgerungen operiert, wobei er seinen politischen Gegnern, um sie zu erledigen, das Schandmal des Lockspitzeltums aufdrückt" (unterschrieben von Alexander, Jakub, Stephan). Zu ähnlichen Schlussfolgerungen gelangte in ihrer Sitzung vom 15. (2.) Februar 1913 auch die Untersuchungskommission, die von einigen Gruppen der SDAPR eingesetzt wurde und aus Alexinski, Nesterow u. a. bestand.

Doch der Hauptvorstand hielt es nicht für möglich, seine Beschuldigungen zurückzunehmen; im Gegenteil, er gab im Juni 1913 ein Rundschreiben heraus, in welchem er einige Führer der „Spalter" bereits offen für des Lockspitzeltums verdächtig erklärte und öffentlich ihre Beseitigung von jeder Parteitätigkeit forderte („Material zur Frage der Spaltung in der Sozialdemokratie Polens und Litauens", No. 1, 1913 [poln.]).

Auf die Proklamationen und Broschüren des Hauptvorstandes („In den Krallen der politischen Geheimpolizei" und „Materialien,.. usw.") antworteten die „Spalter“ mit einer Reihe von Broschüren und Flugblättern, und im Jahre 1913 verstärkten sie bedeutend ihre agitatorische Tätigkeit durch die Presse. Außer der „Gazeta Robotnicza" begannen sie ein Gewerkschaftsorgan „Związek Zawodowy" („Die Gewerkschaft") und ein deutsches Blatt unter dem Namen „Vorwärts" als Parallelorgane herauszugeben. Außerdem wurde im August 1913 ein theoretischer Sammelband herausgegeben.

Unter diesen Verhältnissen gründeten die „Spalter" im Namen der vereinigten Parteikomitees von Warschau, Beschreibung Łódź und Częstochowa eine neue Parteizentrale, den sogenannten „Gauvorstand", der sich zum tatsächlichen, die Partei vertretenden und führenden Organ erklärte (Proklamation „Für die Einheit der Partei!" vom 31. März 1914).

Die organisatorischen Verbindungen des Gauvorstandes außerhalb Warschaus waren äußerst schwach.

In Warschau hatten jedoch die „Spalter" zweifellos das gewaltige Übergewicht. Unter ihrer Führung wurde hauptsächlich der Wahlkampf für die IV. Reichsduma im Oktober 1912 geführt, auf ihrer Seite stand die erdrückende Mehrheit der sozialdemokratischen Wahlbevollmächtigten und standen die beiden sozialdemokratischen Wahlmänner aus der Arbeiterkurie (J. Bronowski und J. Zaleski); sie leiteten 1913 die Arbeiterversicherungskampagne und in das Präsidium des Arbeiterkomitees, das gewählt wurde und unmittelbar die ganze Versicherungskampagne leitete, kamen zwei Sozialdemokraten: Brilo und Zaleski. In Petersburg gaben die „Spalter" 1914 ein Organ in polnischer Sprache „Nowa Trybuna" („Neue Tribüne") heraus. In der Frage der Spaltung der sozialdemokratischen Dumafraktion unterstützten die „Spalter" ganz und gar die bolschewistische „Sechs".

Lenin interessierte sich sehr für den Kampf des „Gauvorstandes" gegen den Hauptvorstand, er verfolgte ihn und maß ihm ernste Bedeutung bei. Er veröffentlichte nicht nur in der russischen Parteipresse eine Reihe von Artikeln, die der Spaltung gewidmet waren, sondern trat auch öffentlich gegen die Angriffe des Hauptvorstandes auf die Warschauer Organisation im Internationalen Sozialistischen Büro auf (siehe den Brief Lenins an das Sekretariat des ISB vom 31. August 1912, abgedruckt in Nr. 19 der „Gazeta Robotnicza") und veröffentlichte zwei seiner Artikel in der Presse der „Spalter": den Artikel „Die Lage in der SDAPR und die nächsten Aufgaben der Partei" („G. R." Nr. 15/16 vom 12. Juli 1912), der hauptsächlich der Lage in der russischen Partei gewidmet war, aber auch die Linie des Hauptvorstandes behandelte und sie verurteilte, und den Artikel „Kritische Fragen unserer Partei" (in dem bereits erwähnten theoretischen Sammelband), der die Politik des Hauptvorstandes gegenüber dem Liquidatorentum und in der Organisationsfrage scharf verurteilte.

Eine Delegation der „Spalter" (Hanecki, Malecki, Wienckowski und zwei weitere) erschien auf dem Internationalen Sozialistenkongress zu Basel (1912) und wurde trotz der Stellungnahme des Hauptvorstandes einstimmig in die Delegation Russlands aufgenommen.

Die „Spalter", die in einer Reihe wichtiger Punkte die taktische Linie der Bolschewiki verfolgten, erstrebten auch eine organisatorische Annäherung an diese.

Die Warschauer Distriktkonferenz (sämtlicher Bezirksorganisationen) im April 1913 erkannte die Haltung des auf der Prager Konferenz von 1912 gewählten bolschewistischen ZK der SDAPR zum Unterschied von der opportunistischen Linie des menschewistischen OK (Organisationskomitee) als „unerschütterlich revolutionär" an und sprach sich für den „organisatorischen Kontakt mit dem ZK" aus („Bericht von der Warschauer Konferenz …", Warschau 1913, poln.).

Im Zusammenhang damit nahmen die „Spalter" an der Beratung der Bolschewiki im Oktober 1913 in Poronin teil. Ihre Delegation bestand aus Hanecki, Domski, Lenski und Wienckowski und hatte beratende Stimme. Zwischen ihr und Lenin zeigten sich ernste Meinungsverschiedenheiten in der nationalen Frage. In dieser Frage vertraten die „Spalter" sowohl bei dieser Beratung als auch später gegen Lenin hartnäckig den Standpunkt Rosa Luxemburgs.

Die Organisation der „Spalter" war kein geschlossenes Ganzes; in ihr waren nach einer Charakteristik, die Lenin in dem nicht veröffentlichten Artikel „Die polnische sozialdemokratische Opposition am Scheidewege" gab, zwei Tendenzen zu beobachten. Die Vertreter der einen Tendenz unterschieden sich in ihrer politischen Linie wenig von dem Hauptvorstande, sie nahmen eine schwankende Haltung ein. Die Vertreter der anderen Tendenz erstrebten ein engeres Bündnis mit den Bolschewiki. Bei der Brüsseler Beratung über die Wiederherstellung der Einheit in der SDAPR unterstützte der Vertreter der „Spalter", Hanecki, zum Unterschied von den lettischen Sozialdemokraten nicht die bolschewistische Delegation, sondern stimmte mit der Mehrheit. Später allerdings rückte der Gauvorstand von einer Reihe von Schritten, die der „Brüsseler Block" in der Einigungsfrage unternahm, ab (siehe hierüber No. 24 der „Gazeta Robotnicza" vom Februar 1914).

Während des Krieges schlossen sich die „Spalter" der Zimmerwalder Linken an. Indessen schuf der Krieg, der die Notwendigkeit des Kampfes gegen den Imperialismus und den Sozialchauvinismus im polnischen sozialistischen Lager dringender machte, die Voraussetzungen für die Beseitigung der Spaltung.

Schon vor dem Kriege, im Mai 1914, machte der Hauptvorstand den ersten ernsthaften Schritt in dieser Richtung: er beschloss, den allgemeinen Parteitag einzuberufen, die Vertreter der Organisation der „Spalter" zum Parteitage zuzulassen und auch die Freiheit der Diskussion vor dem Parteitage zu sichern. Die Gauorganisation hielt diesen Schritt des Hauptvorstandes damals für nicht genügend. Bald machten der Krieg und die Verwandlung Polens in einen unmittelbaren Kriegsschauplatz den Gedanken der Einberufung des Parteitags gegenstandslos. Anderseits wurde nach der Erledigung der Schwankungen einzelner Mitglieder des Hauptvorstandes in der Richtung einer „Vaterlandsverteidigung" im Sinne der Entente ein gemeinsames Vorgehen beider sozialdemokratischer Organisationen eine Lebensnotwendigkeit, und dieses gemeinsame Vorgehen (vor allem die Wahlen in die Warschauer Stadtvertretung im Sommer 1916) bereitete auch unmittelbar die Vereinigung der Sozialdemokratie und später des gesamten revolutionären sozialdemokratischen-Lagers in Polen vor.

Anfang November 1916 fand eine Vereinigungskonferenz statt, deren Ergebnis war, dass sich beide Fraktionen der Sozialdemokratie Polens und Litauens auf einer revolutionären Plattform (übrigens unter Beibehaltung der nichtleninistischen Stellung zur nationalen Frage) fanden und ein neuer Hauptvorstand auf paritätischer Grundlage gewählt wurde.

Damit war die vierjährige Spaltung erledigt. [Band 17]

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