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Karl Kautsky 19050927 Der Parteitag von Jena

Karl Kautsky: Der Parteitag von Jena

[Nach „Die Neue Zeit: Wochenschrift der deutschen Sozialdemokratie.“ - 24.1905-1906, 1. Band.(1904-1905), Heft 1 (27. September 1905), S. 5-10]

Ein zweites Dresden werde Jena sein, nur noch schlimmer, prophezeiten unsere Gegner. Ein zweites Dresden ist Jena geworden, aber noch besser als Dresden.

Der Dresdener Parteitag hatte zwei Seiten: er war ein welthistorisches Ereignis, aber auch ein peinlicher persönlicher Zank. Er bezeugte, dass die Partei trotz des Dreimillionensiegs dieselbe bleibe, wie sie gewesen; dass dieser Sieg, der die Ära des Kampfes um die politische Macht für sie eröffnete, sie fast einmütig finde in dem Bewusstsein, dass die Klassengegensätze sich verschärfen und die politische Macht nicht stückweise erobert oder den herrschenden Krassen abgehandelt werden könne; dass der große Sieg also nicht den Beginn der Einheimsung praktischer Fruchte, sondern nur die Einleitung neuer, größerer Kämpfe bilde.

Von demselben Geiste war der Jenenser Parteitag beseelt; und gab der Dresdener der Partei die Parole, so der Jenenser eine neue Waffe für den Kampf, dem wir entgegengehen.

Aber diesmal wurde die erhebende und begeisternde Wirkung der Verhandlungen des Parteitags nicht, wie vor zwei Jahren, für den oberflächlichen Beschauer überdeckt und abgeschwächt durch Szenen persönlicher Erbitterung und Herabsetzung. Alle seine Äußerlichkeiten waren von der angenehmsten Natur. Wenn Dresden, trotz der großen Bedeutung seiner Beschlüsse, der trübste Parteitag war, den wir erlebt, so Jena einer der erfreulichsten. Man kann unseren diesjährigen Parteitag direkt neben den internationalen Kongress von Amsterdam stellen.

Von praktisch großer Wichtigkeit wird wohl das neue Organisationsstatut werden, das die Partei mehr zentralisiert und einheitlicher gestaltet.

Daneben aber scheinen uns besonders bemerkenswerte Erscheinungen dieses Parteitags das lebhafte Interesse für die Theorie zu sein, das er äußerte, seine Auffassung des Verhältnisses zwischen Partei und Gewerkschaft, das in der Frage der Maifeier zutage trat, sowie endlich die Entschlossenheit und Kühnheit, die er bei den Verhandlungen des Massenstreiks bekundete, und die doch frei blieben von aller Überschwänglichkeit und Phrasenhaftigkeit.

Bei den verschiedensten Gelegenheiten trat das Bedürfnis nach einer größeren prinzipiellen Aufklärung zutage, und wenn einige Redner es sich nicht versagen konnten, Theorie und Theoretiker wegwerfend zu behandeln, so gab dies nur Veranlassung zu energischer Verteidigung der Theorie und der Notwendigkeit wissenschaftlicher Vertiefung. Diesem Bedürfnis nach Förderung prinzipieller Aufklärung schreiben wir es auch zu, wenn der Parteitag einer Vergrößerung des Umfanges der „Neuen Zeit" zustimmte und eine vermehrte Agitation für sie empfahl.

Eine Anerkennung der theoretischen Arbeit bedeutete aber auch die Resolution der Fünfzehnerkommission über den „Literatenkrakeel", die eine glückliche Lösung für diese so heikle und schwierige Angelegenheit gefunden hat. Es gereicht uns zur großen Genugtuung, dass sie fand, diesem angeblichen Krakeel lägen höchst ernste und wichtige sachliche Meinungsverschiedenheiten zugrunde, die einer öffentlichen Diskussion bedürften, und dass sie anerkannte, die Kritiker seien bei ihren Polemiken von dem Bestreben erfüllt gewesen, der Partei zu dienen. Sie hat damit aber auch am wirksamsten dem vorgebeugt, dass der verletzende Ton der Polemik, den sie auf beiden Seiten missbilligte, so leicht wieder aufkommt. Weder die bloße moralische Entrüstung über den schlechten Ton noch die Einsetzung einer Aufsichtsinstanz, die über den guten Ton wachen sollte, hätte das bewirken können, weil weder das eine noch das andere die Hauptursache des „schlechten Tones" beseitigte. Es war gerade die Stempelung jeder Kritik zu einer Tat frivoler oder gehässiger Literateneitelkeit, was verletzte und verletzende Antworten hervorrief. Damit, dass unsere sachlichen Differenzen als solche anerkannt sind, dass die Möglichkeit genommen ist, sie hinfort als Literatenkrakeel zu bezeichnen, dass die Genossen angefordert werden, unsere Kritiken auf ihren sachlichen Inhalt zu prüfen, ist auch die Möglichkeit, ja die Notwendigkeit gegeben, wieder ausschließlich sachlich zu diskutieren.

Wenn die Resolution der Fünfzehnerkommission weiter erklärt, „kritische Untersuchungen des Parteiprogramms" seien „tunlichst in die Neue Zeit zu verlegen, die zu diesem Zwecke erforderlichenfalls zu erweitern ist", so fasse ich diesen Satz dahin auf, dass unter derartigen kritischen Untersuchungen jede Art von Selbstkritik der Partei und ihrer Grundsätze gemeint ist. Wenn die Tagespresse in erster Linie der Propaganda und dem Kampfe dient, so die „Neue Zeit" in erster Linie der Kritik und der Diskussion. Freilich, ganz kann und darf auch die Tagespresse sich der Diskussion von Parteifragen nicht entschlagen. Fragen, die in die Praxis der Bewegung direkt eingreifen, aber auch rein theoretische Fragen, die die ganze Partei bewegen, können von der Tagespresse nicht übergangen werden, deren Behandlung bildet einen Teil ihrer Aufklärungsarbeit. So hätte zum Beispiel die Tagespresse sich der Kritik der Bernsteinschen „Voraussetzungen" nicht enthalten dürfen, und ebenso wenig kann sie an der Streitfrage des Verhältnisses von Partei und Gewerkschaft vorbeigehen.

Aber im Vordergrund, wie bei der „Neuen Zeit", können in der Tagespresse derartige Diskussionen nicht stehen.

Das tritt schon äußerlich darin zutage, dass die Artikel der Tagespresse unpersönlich sind, hier jeder im Namen der Partei oder doch der besonderen Organisation spricht, die sein Blatt vertritt, während in der „Neuen Zeit" jeder Artikel von seinem Verfasser gezeichnet wird, alle, auch die Redakteure, nur im eigenen Namen, nicht im Namen der Partei sprechen. Die Redaktion ist denn auch für den Inhalt dieser Artikel nur insofern verantwortlich, als sie darauf zu sehen hat. dass sie auf dem Boden des wissenschaftlichen Sozialismus stehen, wissenschaftlich haltbar sind und den Lesern neue Einsichten oder Anregungen eröffnen.

Über die Art der Anwendung dieser redaktionellen Prinzipien kann man natürlich verschiedener Meinung sein. Wenn der Referent der Kommission nicht in ihrem Namen, sondern, wie er ausdrücklich hervorhob, als persönlicher Freund den Wunsch aussprach, ich möchte „gegenteilige Meinungen leichter ertragen", so veranlasst mich dies sicher, wie jede Mahnung eines wohlwollenden Freundes, zu einer Selbstprüfung, ob ich in diesem Punkte gesündigt habe. Aber ich glaube nicht, in dem Wunsche eine Aufforderung sehen zu müssen, als Redakteur weniger streng zu sein.

Natürlich muss die Strenge sich nach den Umständen richten. Theoretikern gegenüber halte ich größte Strenge für geboten. Wenn sie nicht die Theorie beherrschen, hat ihre Tätigkeit (als Theoretiker) keinen Zweck für uns, kann sie nur verwirrend wirken. Wohlwollende Nachsicht dagegen muss man gegen den Nachwuchs üben, der zu ermuntern, nicht einzuschüchtern ist; endlich darf man keinen strengen theoretischen Maßstab an Beiträge einfacher Arbeiter anlegen. Dank unserer famosen Volksschule sind solche Beiträge formell und auch theoretisch oft recht unvollkommen; aber sie legen Verhältnisse dar, deren Kenntnis ungemein wichtig ist und die der Theoretiker entweder gar nicht oder doch nur als Beobachter, wie [soll heißen: „nie“?] als Mitwirkender oder Mitleidender erfahren kann. Das sind nicht Beiträge mit bekannten, glänzenden Namen, nicht Beiträge mit geistreichen, verblüffenden Einfällen, nicht Beiträge voll anziehender Pikanterie. Aber gerade solche Beiträge scheinen mir höchst wichtig für eine wissenschaftliche Zeitschrift der Sozialdemokratie, das heißt für eine Zeitschrift, die der Aufgabe dient, den proletarischen Klassenkampf zu erforschen und mit Selbstbewusstsein zu erfüllen.

Wie der Marxismus von seinen Anfängen an nicht eine Theorie für Gelehrte war, sondern für den Kampf des Proletariats, wie wissenschaftliche Forschung und praktisches Ringen bei ihm von Anfang an Hand in Hand gingen, so baut sich auch die „Neue Zeit" auf auf Beiträgen nicht bloß von Akademikern, sondern auch von kämpfenden Proletariern; nicht bloß von Theoretikern, sondern auch von Praktikern, und von den letzteren ist mir noch keine Klage über allzu große redaktionelle Strenge zu Ohren gekommen.

Wir kennen in der „Neuen Zeit" wohl den Unterschied, nicht aber den Gegensatz zwischen Theoretikern und Praktikern, der in der Partei mitunter auftritt, der auch in der Debatte über die Maifeier ausgespielt wurde.

Trotzdem hat uns auch diese Debatte mit großer Befriedigung erfüllt. Und das nicht bloß wegen der Energie, mit der in ihr die Angriffe auf die Theoretiker zurückgewiesen wurden, sondern auch noch mehr deswegen, weil sie deutlich zeigte, dass man sich in der Partei ganz klar ist über die Gefahren, die dem proletarischen Emanzipationskampf drohen, wenn die Tendenzen sich konsequent weiter entwickeln, die in Köln zutage traten. Sie zeigte aber auch deutlich, dass diese Tendenzen, die man als gewerkschaftlichen Revisionismus bezeichnet hat, in der Partei ebenso wenig einen Boden finden wie der theoretische Revisionismus, dass jener wie dieser nur auf einige Personen beschrankt bleibt. Sie zeigte aber auch, dass diese revisionistischen oder anglisierenden Tendenzen in der Gewerkschaftsbewegung die Parteigenossen nicht veranlassen, sich in Gegensatz zu den Gewerkschaften zu setzen, sie nicht dazu führen, diese zu brüskieren und abzustoßen: das wäre das Verkehrteste und Verderblichste, was sie tun könnten; sondern dass diese Tendenzen die Parteigenossen dahin drängen, sich um die Gewerkschaften mehr zu kümmern, in engere Fühlung mit ihnen zu treten, in ihnen eifriger tätig zu sein, nicht bloß als Gewerkschafter, sondern auch als Sozialdemokraten. Wenn der Kölner Gewerkschaftskongress die Gefahr einer wachsenden Entfremdung zwischen Partei und Gewerkschaft zeigte, so hat die naturgemäße Reaktion dagegen in der Partei größeres Interesse für die gewerkschaftliche Bewegung hervorgerufen, wie Jena deutlich bewies. Insofern hat der Kölner Kongress eine vortreffliche Wirkung gehabt.

Bei der Debatte wurde auch meine angebliche Unterschätzung der Gewerkschaften bemängelt. Da ich in der Fünfzehnerkommission vernommen wurde, konnte ich der Verhandlung im Plenum nicht beiwohnen und daher auch nicht diese Bemerkungen richtigstellen. Damit sie aber nicht zu einer Legendenbildung Anlass geben, sei hier das Nötige nachgeholt.

Wenn mir in der Debatte über die Maifeier entgegengehalten wurde, dass ich die Bedeutung der Gewerkschaften zu gering einschätze, so wurde in der folgenden Debatte über den Massenstreik auf einen Ausspruch Bringmanns hingewiesen, der wieder aus meiner Haltung zum Parlamentarismus den Schluss zog, die ökonomische Organisation sei die einzige, die heute noch Erhebliches erreichen könne. In Wirklichkeit kann ich von diesen beiden einander widersprechenden Auffassungen weder die eine noch die andere als die meine anerkennen. Ich schätze weder die Gewerkschaften noch den Parlamentarismus zu gering ein, wenn ich konstatiere, dass jene wie dieser in dem Maße, in dem die Klassengegensätze sich verschärfen und die Unternehmerorganisationen wachsen, immer weniger in der Lage sind, für sich allein große Verbesserungen in der materiellen Lage des Proletariats durchzusetzen. Damit ist nicht gesagt, dass sie unwichtig sind, sondern nur, dass ihre Wichtigkeit mehr und mehr nur auf besonderen Gebieten zutage tritt. So sind sie vor allem unentbehrlich in der Verteidigung des Gewonnenen. Nur durch stetes Wachstum der gewerkschaftlichen Organisation ist die Arbeiterklasse in der Lage, zu behaupten, was sie in den letzten vierzig Jahren errungen. Das allein schon macht die Gewerkschaften und ihre Ausdehnung unentbehrlich. Ebenso kann eine starke sozialdemokratische Fraktion im Reichstag durch ihre bloße Anwesenheit gar manchen gesetzgeberischen Rückschritt verhindern. Daneben aber treten wieder mehr jene ihrer Funktionen in den Vordergrund, die wir ehedem als ihre einzigen betrachteten, die der Kontrolle der Regierung, sowie die der Agitation und Propaganda. Sprachen aber in früheren Jahrzehnten die sozialdemokratischen Abgeordneten im wesentlichen nur zu den Wählern, so sprechen heute die Vertreter der Dreimillionenpartei zur Welt. Und durch die drei Millionen Proletarier, die hinter ihnen stehen, ist die Fraktion des Reichstags eine Macht geworden, die zwar in den parlamentarischen Intrigen nicht entscheidet, die der Regierung keine Sozialreform aufzwingen kann, deren Haltung aber bei vielen Kombinationen und Aktionen deutscher und selbst ausländischer politischer Parteien schwer in die Waagschale fällt. Nicht in den positiven Erfolgen der gesetzgeberischen Kleinarbeit, deren Resultat gleich Null, liegt heute die Bedeutung unserer Beteiligung am Parlamentarismus, sondern in der agitatorischen Einwirkung auf das Proletariat der Welt und in der hemmenden Einwirkung auf alle gegnerischen Aktionen.

Je weniger aber die Gewerkschaften wie die politischen Parteiorganisationen für sich allein vermögen, um größere positive Erfolge zu erzielen, je mehr die Unternehmerverbände wachsen und je stärker ihr Einfluss auf die Regierungen, ihre politische Macht, desto notwendiger wird es, dass die politischen Organisationen des Proletariats und ihre Machtmittel – Vertretung in den Parlamenten, den Gemeinden, die Tagespresse – zusammenwirken mit den gewerkschaftlichen Organisationen. Dies und nicht die Abwendung vom Parlamentarismus oder von der gewerkschaftlichen Organisation ist seit Jahren die Konsequenz, die ich aus der Tatsache ziehe, dass Gewerkschaften wie Reichstagsfraktion für sich allein immer weniger imstande sind, größere materielle Vorteile für das Proletariat zu erringen.

Und die Verhältnisse selbst drängen diese Vereinigung immer mehr in den Vordergrund. Es ist bezeichnend, dass der Jenenser Parteitag außer der Organisationsfrage ausführlicher nur zwei Fragen behandelte, die beide Gewerkschaften und Partei in gleicher Weise angehen, das einmütige Zusammenwirken von Parteigenossen und Gewerkschaften voraussetzen: die Maifeier und den Massenstreik.

Die Debatte über diesen letzteren bildete den Höhepunkt des Parteitags. Nicht nur wegen der Bedeutung des Gegenstandes, sondern auch wegen der Größe der Gesichtspunkte, die dabei entwickelt wurden, und des hohen Ernstes, wie der leidenschaftlichen Begeisterung, die die Verhandlungen durchglühten.

Die Resolution, die schließlich fast einstimmig angenommen wurde, sagt alles, was im jetzigen Moment über den Massenstreik als anerkannter Grundsatz der Partei festzulegen ist. Sie begründet damit keine neue Taktik, sondern umgekehrt, sie erst ermöglicht es, an unserer bisherigen Taktik festzuhalten. Erklärten wir den Massenstreik für unmöglich, dann könnten wir nicht auf die Dauer an unserer bisherigen Taktik festhalten, wie sie in Dresden von neuem bestätigt wurde.

Denn wenn die gesellschaftliche Entwicklung zur zunehmenden Verschärfung der Klassengegensätze führt und wir demgemäß auch mit einer wachsenden Verschärfung der politischen Gegensätze rechnen, dann müssen wir auf den Moment gefasst sein, wo unsere Gegner uns die gesetzlichen Grundlagen entziehen, auf denen wir bisher so großartig gediehen. Dann bleibt uns aber kein anderes politisches Machtmittel mehr übrig, als der Massenstreik. Natürlich ist er dann nicht das einzige Mittel des Kampfes, welches das Proletariat zur Anwendung bringen kann. Es kann und wird, wie frühere Erfahrungen lehren, dann auch sich geheim organisieren, Zeitungen aus dem Ausland einschmuggeln usw. Aber als Mittel, eine große politische Entscheidung herbeizuführen, bleibt ihm dann nur der Massenstreik übrig. Hält es dessen Durchführung für ausgeschlossen, dann bekennt es, wehrlos dazustehen, sobald ihm seine heutigen politischen Rechte geraubt sind, dann wäre es eine Torheit, die heutige Taktik weiter zu verfolgen, bei der jeder große Sieg nach der Art desjenigen vom 16. Juni 1903 das Wahlrecht gefährdet. Dann müsste die Partei sich entweder schlafen legen, wie es einmal den Pariser Kommunards empfohlen wurde, oder sie musste nach nationalsozialem Rezept Kanonen für Volksrechte eintauschen, das heißt, eine Verständigung mit der Regierung suchen.

Nur wenn wir den Massenstreik als eine mögliche Waffe im politischen Kampfe anerkennen, dürfen wir ruhig und ohne Zagen unsere bisherige Taktik fortsetzen. Die Jenenser Resolution bildet also nicht den Übergang zu einer neuen Taktik, sondern die festere Begründung der bisherigen. Sie bildet die notwendige Ergänzung der Dresdener Resolution.

Freilich geht sie nicht weiter, als dass sie den Massenstreik unter die möglichen Waffen des Proletariats einreiht. Sie sagt nichts darüber, in welcher Weise und unter welchen Bedingungen diese Waffe anzuwenden sei, und auch in seinem Referat bemerkte Bebel nichts darüber. Das wurde von verschiedenen Seiten als ein Mangel empfunden, mir erscheint diese Beschränkung sehr zweckmäßig. Hätte sich Bebel in seinem Referat auf diese Frage eingelassen, so wäre die Debatte, die so knapp und präzis sich um einen bestimmten Punkt drehte, ins Uferlose verlaufen. Und hätte er eine bestimmte Meinung darüber in die Resolution aufgenommen, so wäre dadurch die Partei auf einem Gebiet festgelegt, über das die Anschauungen in der Partei noch weit auseinandergehen und der Klärung harren.

Mit der Bebelschen Resolution ist die Diskussion über den Massenstreik in unseren Reihen nicht abgeschlossen, sondern nur auf eine höhere Stufe gehoben. Wir haben nicht mehr zu diskutieren, ob, wohl aber wie der Massenstreik in Deutschland möglich ist.

Diese Diskussion ist von äußerster Wichtigkeit; kein müßiges Spintisieren über Wenn und Aber, sondern die Klärung einer Frage von höchster praktischer Bedeutung. In der Tat, es kann keine Frage geben, die mehr ihre Beantwortung erfordert, als die, ob der Massenstreik ein friedliches, ungefährliches Demonstrationsmittel, das man bei jeder Gelegenheit, jeder lokalen Wahlrechtsverkümmerung heute schon anwenden kann, oder ob er für uns in Deutschland ein Mittel bildet, das den Einsatz der ganzen Persönlichkeit erheischt und die Existenz der ganzen Partei aufs Spiel setzt, ein Mittel, mit dem man daher nicht spielen darf, dessen Anwendung nur in äußersten Fällen am Platze ist.

Sicher wird der politische Massenstreik, wie jeder Massenstreik, auch ein ökonomischer, wenn er zur Anwendung kommen sollte, das Produkt einer spontanen Erhebung der Proletariermassen sein, deren Empörung sich nicht länger zügeln lässt. Aber eine spontane Erhebung muss nicht notwendig eine unbewusste, rein instinktive sein. Der Massenstreik wird aus jeden Fall das Werk von Proletariermassen sein, zu denen wir heute sprechen, in denen das nachwirkt und in die Tat umschlägt, was wir ihnen heute sagen. Der Massenstreik wird vielleicht zu einem ganz anderen Zeitpunkt hereinbrechen und ganz anders verlaufen, wenn die Massen nur ganz unbestimmte Vorstellungen über die bisherigen Erfahrungen mit ihm, über seine Bedingungen, seine Taktik, seine Aussichten haben, als wenn alle diese Fragen vor ihnen und mit ihnen diskutiert worden sind.

Wir können, wenn es zum Massenstreik kommen sollte, weder voraussehen, wann, noch unter welchen Umständen er ausbrechen wird. Bereit sein, heißt alles. Das ist unbestreitbar. Aber zu dieser Bereitschaft gehört nicht bloß die möglichst starke Entwicklung der politischen und ökonomischen Organisationen, die möglichst große Begeisterung der Proletariermassen für das Kampfobjekt, sondern auch die möglichst große Aufklärung über das Wesen und die Taktik des politischen Massenstreiks, soweit aus den Erfahrungen anderer Länder und der Erforschung des sozialen und politischen Aufbaues Deutschlands Schlüsse darüber gezogen werden können.

Diese Aufklärung ist jetzt, nach der Annahme der Bebelschen Resolution, zur dringenden Pflicht der Parteigenossen geworben. Es ist ihre Aufgabe, diese Fragen selbst zu studieren und zu diskutieren, dann aber auch die errungene Klarheit in den Proletariermassen zu verbreiten.

Der Jenenser Parteitag hat dem deutschen Proletariat eine neue wuchtige Waffe gegeben. Damit hat er uns aber auch die Pflicht auferlegt, es in dem Gebrauche der neuen Waffe zu unterweisen, dass es sie zu handhaben wisse in einer Weise, die möglichst geringe Opfer erheischt und möglichst große Wirkungen erzielt – wann immer der Moment eintreten mag, der ihm diese furchtbare Waffe in die Hand drückt.

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