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Franz Mehring 18981008 Glossen zum Parteitage

Franz Mehring: Glossen zum Parteitage

[Leipziger Volkszeitung, I. Nr. 234, 8. Oktober 1898, S. 1, II. Nr. 235, 10. Oktober, S. 1 f., III. Nr. 236, 11. Oktober, S. 1, IV. Nr. 237, 12. Oktober, S. 1 f., V. Nr. 238, 13. Oktober, S. 1]

I.

Als wir vor acht Tagen den Stuttgarter Parteitag an dieser Stelle begrüßten, sprachen wir einige Hoffnungen und Wünsche aus, von denen wir heute sagen würden, dass sie nicht nur erfüllt, sondern zum großen Teile selbst übertroffen worden sind. In der Reihe der Parteitage wird der Stuttgarter Parteitag immer eine hervorragende Stellung einnehmen; er war fast ganz frei von dem leidigen Kleinkram, der den Jahreszusammenkünften der Partei nicht immer fern geblieben ist und auch wohl nicht immer fernbleiben kann; so heiß die Debatten waren, so bewegten sie sich doch immer um bedeutsame Probleme, und auch in den Fragen, in denen überhaupt keine Meinungsverschiedenheiten bestanden, waren die Referate so frisch zugleich und gediegen, dass sie den vom sozialdemokratischen Standpunkt aus selbstverständlichen Bekenntnissen und Forderungen dennoch eine schlagende und überzeugende Form gaben. Für die praktischen Kämpfe, die der nächsten Zukunft bevorstehen, ist das Parteischiff klar zum Gefecht; diesen Teil seiner Aufgabe hat der Parteitag in tadelloser Weise vollbracht.

Daran wird auch kein Deut geändert durch das Unkengeschrei, das die bürgerliche Presse, wie üblich, über die „Mauserungen“ oder „Spaltungen“ erhebt, die sich in Stuttgart offenbart haben sollen. Dieselben alten bekannten Redensarten, die hundert Mal durch die Tatsachen widerlegt worden sind, erscheinen wieder auf der Bildfläche mit einer Naivität, als kämen diese abgegriffenen Nickel frisch aus der Münze; obgleich wir das Quantum von Geduld, das der bürgerliche Bierphilister für die Tiraden seines Leib- und Magenblätter übrig hat, durchaus nicht gering schätzen, möchten wir doch fast erstaunen, dass er dieser Litanei nicht schließlich überdrüssig wird. Will man daran überhaupt eine ernsthafte Seite entdecken, so kann sie nur als ein Beweis dafür gelten, dass die Kluft zwischen der bürgerlichen und der proletarischen Weltanschauung wirklich schon weit genug geworden ist, um den bürgerlichen Zeitungen jedes Verständnis solcher Einrichtungen zu verschließen, wie sozialdemokratische Parteitage sind. Selbst geplagt von dem kleinlichen Cliquenkrakeel, der unvermeidlich in absterbenden Parteien entsteht – und im Absterben sind alle bürgerlichen Parteien begriffen, nicht eine von ihnen befindet sich mehr in aufsteigender Entwicklung – verstehen sie gar nicht, dass in einer jungen Partei, was die deutsche Sozialdemokratie trotz ihres bald erreichten Schwabenalters immer noch ist und so lange bleiben wird, bis sie ihr Ziel erreicht hat, dass, sagen wir, in einer jungen Partei stets ein kräftiges und je nachdem auch unbändiges Leben wirkt und wirken muss. Gewiss könnten bürgerliche Parteien ein solches Aufeinanderprallen der Geister, wie es auf sozialdemokratischen Kongressen vorzukommen pflegt und auch in Stuttgart vorgekommen ist, nicht aushalten, ohne auseinander zu fliegen, aber bewiesen ist damit doch nichts als die altbekannte Erfahrung, dass kein altersschwacher Greis die Lebensweise eines jungen, von natürlicher Kraft strotzenden Mannes führen kann, ohne daran umzukommen.

So wenig wie die Reden verstehen bürgerliche Zeitungen, gewohnt an die klapperige Resolviermaschine des bürgerlichen Parteiwesens, die Beschlüsse eines sozialdemokratischen Parteitages zu beurteilen. Diese Beschlüsse sind Taten, nicht in irgend einem Wunder wirkenden Sinne, auch nicht so, dass sie sich von heute auf morgen verwirklichen, aber so, dass sie ein ganzes Heer denkfähiger und willenskräftiger Menschen auf ein gemeinsames Ziel lenken. Nimmt man beispielsweise die Resolution über das Koalitionsrecht, die in Stuttgart gefasst worden ist, so könnte, ja müsste ein freisinniger Parteitag sich in ähnlicher Weise gegen die Oeynhäuser Rede des Kaisers erklären. Aber er würde es, wenn er es täte, in der vorsichtigsten und zimperlichsten Weise tun, mit Wenn und Aber, mit Ach und Krach, und wenn er es getan hätte, so wäre es auch noch so. Dagegen wird die Stuttgarter Resolution, die den Fehdehandschuh so kurz aufnimmt, wie er hingeworfen ist, ja die den geführten Schlag mit dreimal verstärkter Wucht zurück gibt, mit ihrer klaren und packenden Fassung in Hunderttausenden von Köpfen aufräumen und den konzentrierten Willen von Millionen zu einem Stoße zusammenfassen, den keine Macht ohne schwere Erschütterungen erträgt. Eine Resolution des sozialdemokratischen Parteitages wiegt schwerer als ein Kaiserwort: das zeigt sich sehr deutlich in dem unwirschen Unbehagen, womit sogar die loyalsten Blätter von der Kaiserrede sprechen, und das macht keine bürgerliche Partei der Sozialdemokratie nach.

Doch genug von dem bürgerlichen Geschwätz über den Stuttgarter Parteitag! Wenn wir nun selbst zu seiner etwas eingehenden Würdigung übergehen, so brauchen wir uns nicht bei den Punkten aufzuhalten, über die allseitige Übereinstimmung herrschte. Was darüber zu sagen wäre, ist in Stuttgart selbst so gut gesagt worden, dass jede Wiederholung höchstens abschwächend wirken könnte. Wir verweilen nur ein wenig ausführlicher bei den Debatten über die Beteiligung an den preußischen Landtagswahlen, über die Handels- und Zollpolitik, sowie endlich und namentlich bei den Debatten über die Taktik.

Unser vor acht Tagen geäußerter Wunsch, dass über die preußischen Landtagswahlen möglichst wenig debattiert werden möchte, ist nicht nur erfüllt, sondern die Frage selbst ist auch, worauf wir kaum zu hoffen wagten, in dem Sinne entschieden worden, den wir schon vor Wochen als den einzig möglichen Ausweg aus der durch den Hamburger Beschluss verursachten Verwirrung bezeichnet hatten. Der Hamburger Beschluss ist aufgehoben, aber an seine Stelle nicht der ursprünglich in Hamburg gestellte Antrag angenommen worden, der unseres Erachtens eine noch viel größere Verwirrung gestiftet haben würde, sondern der Parteitag hat sich in die einmal geschaffene und vorläufig nicht abzuändernde Lage gefügt, und jede der beiden ziemlich gleich starken Hälften, worin die Partei in dieser taktischen Frage gespalten ist, nach ihrer Façon selig zu werden überlassen.

Es war der einzig mögliche Ausweg, so wie die Dinge sich einmal entwickelt hatten, und auch den Gegnern der Wahlbeteiligung muss diese Entscheidung lieber sein als die Wiederherstellung des Kölner Beschlusses, der die Wahlbeteiligung an den preußischen Landtagswahlen verbot. Sowohl deshalb, weil der Teil der Partei, der sich einmal auf den Hamburger Beschluss hin zur Wahlbeteiligung entschlossen hatte, doch nicht wohl ein Rückzug zugemutet werden konnte, als auch deshalb, weil der Streit schwerlich zur Ruhe kommen wird, ehe nicht einmal eine praktische Probe auf das Exempel gemacht worden ist. Freund wie Gegner der Wahlbeteiligung haben das gleiche Interesse daran, dass der Versuch der Beteiligung, wo er einmal begonnen worden ist, nun auch durchgeführt wird: die praktische Erfahrung wird ja dann eine Frage entscheiden, über die sich auf dem Wege der eifrigsten Diskussion keine Übereinstimmung der Meinungen hat bilden können.

II.

Über Handels- und Industriepolitik war Schippel zum Referenten in Stuttgart bestellt. Er schlug eine Resolution vor, die unschädlich war im guten und im weniger guten Sinne des Wortes, die keinen prinzipiellen Verstoß enthielt, aber ebenso wenig die Stellung der Sozialdemokratie zu gegenwärtigen Schutzzöllnerei erschöpfend präzisierte. Dagegen fasste eine von Kautsky eingebrachte Resolution in klarer und scharfer Weise die Gesichtspunkte zusammen, die eine geschlossene Opposition des klassenbewussten Proletariats gegen die Schutzzollpolitik im deutschen Reiche erheischen. Diese Resolution wurde mit sehr großer Mehrheit angenommen, nachdem Schippel zu ihren Gunsten auf die seinige verzichtet hatte.

Einen beträchtlichen Teil seines ausführlichen Referats widmete Schippel einem Artikel über Freihandel und Schutzzoll, der in der Leipziger Volkszeitung vom 3. September (1. Beilage) erschienen ist. Dieser Artikel gab einen historischen Abriss der Handels- und Schutzzollpolitik; er hob namentlich den entscheidenden Unterschied zwischen den Schutzzöllen der vierziger und der siebziger Jahre hervor, erwähnte die Resolution von 1876 und sagte dann wörtlich:

Inzwischen wurde sich die Partei über den unheilbar reaktionären Charakter der Schutzzöllnerei sehr bald klar, und bekanntlich hielt es Bismarck für ratsam, sie erst durch das Sozialistengesetz zu knebeln, ehe er den großen Raubzug wagte. Bei der Beratung des neuen Zolltarifs (im Frühjahr 1879) stimmte ein einziger sozialdemokratischer Abgeordneter, Kayser, für einzelne industrielle Schutzzölle, aber nur, um die heftigsten Proteste von den verschiedensten Seiten hervorzurufen, worüber man in der Brüsseler Laterne das Nähere nachlesen kann. Namentlich Dietzgen wies dort in der schlagendsten Weise nach, dass jedes Paktieren mit der Schutzzöllnerei, um einzelnen Arbeiterschichten eine vorübergehende Erleichterung zu verschaffen, nicht einmal diesen Zweck erreichen könne und übrigens prinzipiell und taktisch gleichermaßen zu verwerfen sei.“

Schippel meinte nun in Stuttgart, unser Artikel habe behauptet, „für die Sozialdemokratie sei seit den Artikeln der Laterne die Frage des Schutzzolles endgültig beseitigt“. Er gab dann aus den verschiedenen Einsendungen, die in der Laterne gegen Kaysers Abstimmung erschienen sind, ein Potpourri, das sich gewiss seltsam genug ausnahm, und verlas besonders ausführlich unter „großer Heiterkeit“ des Parteitages eine Reihe von Kraftausdrücken, die einer der Einsender gegen Kayser gerichtet hatte: leider ohne zu erwähnen, dass die Laterne auch zwei Einsendungen aufgenommen hat, eine von der Reichstagsfraktion und eine von den Genossen Kegel und Schlüter, die Kaysers persönlichen Charakter gegen jene Kraftausdrücke verteidigten, wenngleich sie seine schutzzöllnerische Abstimmung ebenfalls verurteilten. In diesem Punkte war die ganze Partei einstimmig, und da Schippel die Laterne eingesehen hat, so weiß er auch, dass sich niemand meldete, als das Blatt erklärte, seine Spalten stünden jedem offen, der Kaysers schutzzöllnerische Politik verteidigen wolle.

Die Tatsache, die in den oben abgedruckten Sätzen unseres Artikels festgestellt worden war, ist also absolut richtig und von Schippel ja auch nicht angefochten worden. Die von ihm bekämpfte Behauptung aber, dass durch die Artikel der Laterne die Frage des Schutzzolles endgültig beseitigt worden sei, haben wir nicht gemacht. Es wäre auch der reine Unsinn gewesen, da die Laterne kein Ort für prinzipiell-theoretische Diskussion, sondern ein winziges Wochenblättchen war, das eben nur den allerdringendsten Kampfbedürfnissen genügen konnte und sollte: nur die Artikel von Dietzgen gingen tiefer auf die Frage ein, und deshalb erwähnte sie unser Artikel lobend. Schätzt Schippel sie geringer ein, so fügen wir uns gerne seiner besseren Einsicht, aber wir halten es für unbillig, dass die Laterne, die in schwierigster Zeit der Partei weidlich zu dienen bemüht war, zum Gespött des Parteitages gemacht worden ist. Den Parteitag trifft gewiss keine Schuld daran, da er die Laterne nicht zur Hand hatte, um das von Schippel entworfene Zerrbild zu kontrollieren. Immerhin sprach Bebel, erst durch einen Zwischenruf und dann durch eine ausdrückliche Erklärung, seine Missbilligung aus; wir haben aber auch unsererseits den wirklichen Tatbestand klarstellen zu sollen geglaubt, da wir zu unserem lebhaften Bedauern, wenn auch sehr gegen unseren Willen, den Anstoß gegeben haben, dass einem verdienten Blatte vor dem Parteitage in unverdienter Weise mitgespielt worden ist.

Auch sonst wäre zu wünschen gewesen, dass Schippel seine Zitate etwas genauer kontrolliert hätte. Um den je nach Umständen revolutionären Charakter des Schutzzolles zu erweisen, führte er einige Bemerkungen an, die Engels 1888 über die nordamerikanische Zollpolitik gemacht hat. Nun hatte der Parteitag sich nicht über die amerikanische, sondern über die deutsche Zollpolitik schlüssig zu machen, und in demselben Aufsatze, dem Schippel sein Zitat entnahm, spricht Engels von der deutschen Zollpolitik als von einer nichts weniger als revolutionären Erscheinung. Wir zitieren nur einige Sätze: „Von allen Arten Zollschutz ist diejenige am schlimmsten, die uns in Deutschland vorgeführt wird … Gerade in dem Augenblicke, wo mehr als je der Freihandel eine Notwendigkeit für Deutschland schien, gerade da führte es Schutzzölle ein … Diese Politik, verderblich unter allen Umständen, ist es doppelt in Deutschland … In Deutschland schlachtet der Schutzzoll die Henne, die die goldenen Eier legt.“ Wir wollen Engels keineswegs als unfehlbare Autorität hinstellen, am wenigsten mit den abgerissenen Zitaten, die wir hier nur geben können; wird er aber einmal als Autorität zitiert, um eine Verhandlung über die praktische Stellung der Partei zur deutschen Schutzzollpolitik, dann kommt doch ein schiefes Bild heraus, wenn sein relativ günstiges Urteil über die amerikanische Schutzzollpolitik und nicht mindestens nebenher auch sein absolut ungünstiges Urteil über die deutsche Schutzzollpolitik erwähnt wird.

In der Sache selbst spitzte sich der Unterschied zwischen Schippels und Kautskys Anschauung auf die Frage zu, ob ein unlösbarer Zusammenhang einerseits zwischen Agrar- und Industriezöllen, andererseits zwischen der Schutzzollpolitik und dem Arbeitertrutze besteht. Die Erkenntnis dieses Zusammenhanges räumte vor zwanzig Jahren so schnell mit allen schutzzöllnerischen Neigungen in der Partei auf; sie ist ihr dann durch die traurigen Erfahrungen zweier Jahrzehnte wieder und wieder eingepaukt worden, bis sie im Erfurter Programm und nunmehr durch die vom Parteitage angenommene Resolution Kautskys ihren Niederschlag gefunden hat. Schippels Ausführungen, dass Freihandel nicht an und für sich fortschrittlich, und Schutzzoll nicht an und für sich reaktionär sei, waren in gewissem Sinne richtig, und vielleicht mag hierüber in manchen Parteikreisen in der Tat eine gewisse Unklarheit herrschen; Schippel selbst aber war sich über einen viel wichtigeren Unterschied nicht klar, und darin scheint uns der Grundfehler seiner im Einzelnen ja vielfach richtigen Ausführungen zu liegen. Er hielt nicht den Schutzzoll der vierziger und den Schutzzoll der siebziger Jahre auseinander, den „primitiven“ und den „industriellen“ Schutzzoll, wie Kautsky sich ausdrückte, den Schutzzoll, der für eine werdende, und den Schutzzoll, der für eine gewordene Großindustrie verlangt wird.

Zur Zeit des „primitiven“ Schutzzolls, um diesen Ausdruck beizubehalten, decken sich die Begriffe Schutzzoll und Freihandel gewiss nicht mit den Begriffen Reaktion und Fortschritt. Schippel hat ja eine Reihe meist zutreffender Beispiele dafür angeführt, dass feudale Klassen freihändlerisch, demokratische Klassen schutzzöllnerisch gesinnt sein können. Man kann sogar ganz im Allgemeinen sagen, dass der „primitive“ Schutzzoll als Hebel der kapitalistischen Entwicklung eine sehr revolutionäre Rolle in der Geschichte gespielt hat. Aber dieser Schutzzoll steht auch durchaus in keinem ausschließenden Gegensatze zum Freihandel. Die Schutzzölle der dreißiger und vierziger Jahre forderten den Zollschutz nicht um seiner selbst willen, sondern um konkurrenzfähig zu werden für den Freihandel des Weltmarktes. Hierin sahen sie so gut wie die Freihändler selbst das Ideal der kapitalistischen Entwicklung; mit der freien Konkurrenz der großindustriell entwickelten Nationen auf dem Weltmarkte sollte das tausendjährige Reich des Friedens und der menschlichen Glückseligkeit hergestellt sein.

Als sich dies Ideal für die größten Kulturvölker im Anfang der siebziger Jahre zu verwirklichen begann, kam aber nicht das tausendjährige Reich, sondern der große Krach und kurierte den Kapitalismus von allen holden Jugendeseleien. Gewiss hat Schippel darin Recht, dass Bismarck die moderne großindustrielle Entwicklung nicht erfunden hat, und dass er sie, wenn er sie erfunden hätte, nicht auf seine persönliche Faust hätte durchsetzen können. Eben weil sie einen allgemeinen Grund hatte, trat diese schutzzöllnerische Bewegung allgemein auf, aber wohl darf man sagen, dass sie in Deutschland ihren klassischen Ausdruck fand. In demselben Tempo, worin sich Absolutismus, Feudalismus, Industrialismus durch Finanz-, Agrar- und Schutzzölle verkuppelten, wurde der Widerstand der Massen durch den Knüppel des Sozialistengesetzes niedergeschlagen. Wir verstehen nicht, wie Schippel an dem unlösbaren Zusammenhange zwischen Schutzzollsystem und Sozialistengesetz zweifeln kann; er ist ebenso urkundlich nachweisbar, wie er sich aus den historischen Ursprungs- und Existenzbedingungen des „großindustriellen“ Schutzzolls ergibt, der ohne ökonomische Ausbeutung und politische Unterdrückung gar nicht bestehen kann. Dieser Schutzzoll steht in einem ausschließenden Gegensatze zum Freihandel; er will sich unter allen Umständen durch die Weißblutung der geknebelten Volksgenossen sichern, ehe er sich auf den Weltmarkt mit seinen heillosen Abenteuern begibt; er will nicht die letzten Konsequenzen des Kapitalismus ziehen, sondern ihnen ausweichen; er will nicht die freie Konkurrenz, sondern das Monopol; er ist eine Macht der historischen Erstarrung und sucht das rollende Rad der Geschichte zu hemmen, so weit er kann. Eben deshalb steht er in unversöhnlichem Gegensatze zu allen Lebensinteressen des Proletariats, dessen ganze Hoffnung auf der fortschreitenden historischen Entwicklung beruht.

Auch verstehen wir nicht, wie Vollmar und Heine in diesem Zusammenhange wegwerfend von einer unnützen „Festlegerei“ auf „Bandwürmern“ von Resolutionen sprechen konnten. Soll sich die Partei nicht über eine Frage klar werden, die in allererster Reihe die praktische Politik des deutschen Reiches beherrscht, wozu werden dann überhaupt Parteitage gehalten? Vollmars Freude darüber, der Resolution Kautsky wenigstens den schlimmsten Giftzahn ausgezogen zu haben, beruhte übrigens auf einer Selbsttäuschung. Ohne den Ehrgeiz, Giftzähne auszuziehen oder sonst eine Kraftleistung zu vollbringen, schlug Rodbertus schon vor einem Vierteljahrhundert vor, im Gegensatz zur Schutzzöllnerei von Handels- oder Verkehrsfreiheit zu sprechen, und nicht vom Freihandel, weil sich mit diesem Worte ein sozialistischer Nebensinn verquickt habe. Da Kautsky Resolution an diesen Nebensinn natürlich nicht gedacht und kein Mensch sie deshalb in Verdacht gehabt hat, so bringt die von Vollmar veranlasste Ersetzung des Wortes Freihandel durch Verkehrsfreiheit auch nicht einen ihrer Zähne zum Wackeln. Ebenso wenig wie dadurch ein Atom ihres Sinnes verrückt wird, dass durch eine andere kleine Änderung die Frage offen gehalten wurde, ob für einzelne Zweige der deutschen Industrie nicht doch noch einmal Schutzzölle in dem „primitiven“ Sinne des Wortes nötig werden könnten.

III.

Die heißesten Debatten entbrannten in Stuttgart über die Frage der Taktik. Sie führten zu keinem Abschlusse, der dieser oder jener Richtung das Existenzrecht in der Partei absprach, und sie konnten dazu auch nicht führen. Was sie aber leisten konnten, das haben sie geleistet: sie haben eine dankenswerte Klärung geschaffen.

Eine Klärung zunächst in dem Sinne, dass taktische Meinungsverschiedenheiten in der Partei bestehen, und nicht bloß solche Temperamentsunterschiede, wie sie in einer so großen Volkspartei immer vorhanden sein werden. Sie sind einerseits schärfer und greifen andererseits weiter, als sich bisher annehmen ließ. Wenn wir in unserem Begrüßungsartikel meinten, dass mindestens neun Zehntel der Partei auf dem alten proletarisch-revolutionären Standpunkt ausharrten, so müssen wir diese Meinung nach dem Verlaufe der Stuttgarter Debatten als allzu optimistisch aufgeben. Die „praktischen Politiker“ haben entschieden einen größeren Anhang, und auch die „praktische Politik“ trennt sich schärfer von der alten Taktik der Partei. Allerdings erwiesen sich einzelne ihrer Formen und Vertreter von vollendeter Harmlosigkeit. Wenn Heine sich erst verächtlich über den „dünnen Kaffee mit recht viel revolutionärem Zucker“ aussprach, aber dann, unvorbereitet wie er war, mit höflich dankender Verbeugung zurücktrat, als ihm Kautsky eine Tasse des faden Getränks zur chemischen Analyse überreichte, so gestehen wir gerne, dass wir die „Heinerei“ nicht als eine nennenswerte Gefahr für die gesunde Entwicklung der Partei fürchten.

Ganz anders aber stand es mit Vollmars Rede über die Taktik, die „lebhafte Zustimmung“ und „stürmische Zustimmung“ erweckte, obgleich sie aus ihrem schroffen Widerspruch mit der alten Taktik, mit den „alten Klischees“ der Partei keinen Hehl machte. Wenn wir sie nun auf ihren Inhalt prüfen, so schicken wir voraus, dass es uns zunächst darauf ankommt, nicht Kritik zu üben, sondern den Tatbestand festzustellen. Am fernsten liegt uns die Absicht, einem Manne wie Vollmar persönlich nahezutreten; wir bezweifeln durchaus nicht seine prinzipielle Zustimmung zum Erfurter Programm, und wir wissen sehr wohl, dass ihm seine besonderen taktischen Anschauungen aus besonderen historischen Verhältnissen erwachsen sind, in denen er eine mühe- und verdienstvolle Parteitätigkeit entfaltet hat. Unter diesen Vorbehalten müssen wir aber sagen, dass die Ansichten, die Vollmar in seiner Rede über die Parteitaktik niederlegte, allerdings von der bisherigen Taktik weit abweichen und von jedem liberalen Kathedersozialisten, sagen wir einmal von einem Manne wie Lujo Brentano, vorbehaltlos unterschrieben werden können.

Da ist zunächst Vollmars Stellung zur Fabrikgesetzgebung. Er nannte es einen „Trugschluss“, dass die Arbeiterschutzgesetzgebung im Interesse des Kapitalismus selbst gelegen sei und erklärte es für fraglich, ob die Trade-Unions trotz ihrer „sozialistenfeindlichen Haltung“, praktisch genommen, nicht mehr für das Los der Arbeiterklasse erreicht hätten, als in Deutschland erreicht worden sei. Für dieses Urteil berief sich Vollmar darauf, dass Marx einmal die Wiedergeburt der englischen Arbeiterklasse von dem Erlass der englischen Fabrikgesetze datiert und ein andermal die Trade-Unions die Preisfechter des europäischen Proletariats genannt habe. Beide Zitate sind dem Wortlaute nach richtig, aber in dem Sinne, worin sie Vollmar anwandte, sind sie unrichtig. Er wollte damit die proletarisch-revolutionäre Anschauung bekämpfen, wonach Fabrikgesetze und Gewerkschaften unzulänglich sind, das Proletariat zu emanzipieren, und es gibt wenige Punkte, über die Marx sich so entschieden, so klar und so oft ausgesprochen hat wie darüber, dass Fabrikgesetze und Gewerkschaften zwar ausgezeichnete Waffen des proletarischen Emanzipationskampfes wären, aber niemals seine endgültige Lösung sein könnten.

Soweit wie Vollmar die Ansicht von Marx zitiert, unterschreibt Brentano, und der Kathedersozialismus überhaupt, sie auch. Der Unterschied zwischen bürgerlicher Sozialreform und revolutionärem Sozialismus ist in dieser Beziehung nicht der: Sind Fabrikgesetze und Gewerkschaften nützliche oder unnützliche Dinge für die Arbeiterklasse? sondern vielmehr der: können Fabrikgesetze und Gewerkschaften die Arbeiterklasse dauernd befriedigen oder sind sie nur vorbereitende Stadien für die Zerbrechung der Lohnsklaverei und die Zertrümmerung der kapitalistischen Gesellschaft? Werden sie gefördert, um diese Gesellschaft zu erhalten oder zu zerstören? Dieser grundtiefe Unterschied verschwindet in Vollmars Rede vollständig. Ja, in einem Punkt ist er noch nicht einmal so konsequent, wie der Kathedersozialismus. Brentano erklärt es wenigstens nicht für einen „Trugschluss“, dass der Arbeiterschutz im Interesse des Kapitalismus gelegen sei; er sagt vielmehr ganz offen: Jawohl, anders als durch Fabrikgesetze und Gewerkschaften ist die bürgerliche Gesellschaft nicht zu erhalten, und deshalb will ich sie auf diesem Wege retten.

Und nun Vollmars Stellung zur Pariser Kommune! Er sagt, über historische Ereignisse sei schwer zu urteilen, weil sie gewöhnlich mit elementarer Gewalt kämen, aber schlechter würden die Pariser Arbeiter in Frühjahr 1871 der Sache des Proletariats nicht gedient haben, wenn sie geschlafen hätten, und so viel sei jedenfalls sicher, dass sich keine unhistorischere Auffassung denken lasse, als in der Kommune ein Stück Sozialdemokratie zu sehen. Nun erklärten, als die Kommune am 28. März sich erhob, Marx in London, Bebel und Liebknecht in Leipzig als Führer der Eisenacher, Schweitzer und Hasselmann in Berlin als Führer der Lassalleaner augenblicklich: das ist Fleisch von unserem Fleisch und Blut von unserem Blut; so tief verfeindet damals die beiden Fraktionen der deutschen Sozialdemokratie waren, so haben sie über ihre Stellung zur Pariser Kommune niemals gestritten. Dabei waren Marx und Bebel und Schweitzer, wenn auch keine „praktischen Politiker“, so doch leidlich gescheite Leute, die keineswegs so „unhistorisch“ dachten, den Pariser Aufstand mit der deutschen Sozialdemokratie in einen Topf zu werfen, und die sehr gut wussten, dass ihre Solidaritätserklärung mit der Kommune der deutschen und der internationalen Arbeiterbewegung nicht den geringsten greifbaren Nutzen, wohl aber die schwersten Nackenschläge eintragen würde, wie sie denn auch in überreicher Fülle eingetroffen sind. Wenn sie trotzdem nicht achselzuckend sagten: die Pariser Arbeiter hätten auch klüger getan, sich schlafen zu legen, sondern den „roten Lappen schwangen“ und die „roten Phrasen her beteten“, so werden sie dazu allerdings wohl ihre guten Gründe gehabt haben, und ihre proletarisch-revolutionäre Politik hat sich denn auch auf die Dauer, wie jedermann aus der Geschichte der Partei weiß oder wissen kann, mit reichen Wucherzinsen gelohnt. Vollmar aber nennt die Solidaritätserklärung mit der Kommune einfach „Blanquismus“ und findet für diese Ansicht „lebhafte Zustimmung“ auf dem Parteitage.

Seine Stellung einerseits zum Arbeiterschutz und andererseits zur Gewerkschaftsbewegung war der rote Faden seiner Rede, und wir brauchen auf seine weniger wesentlichen Einzelheiten um so weniger eingehen, als es uns, wie gesagt, zunächst nicht auf Kritik, sondern auf Feststellung des Tatbestandes ankommt. Mit den vorstehenden Proben glauben wir genügend gezeigt zu haben, dass tiefgreifende Meinungsverschiedenheiten über die Taktik auf dem Parteitage hervorgetreten sind. Es ist nun zwar richtig und überaus erfreulich, dass namentlich nach Kautskys glänzender und gründlicher Auseinandersetzung mit Bernsteins bekannten Behauptungen die alte proletarisch-revolutionäre Taktik einen sichtlichen Triumph davontrug, allein, es wäre eine gefährliche Illusion, daraus zu schließen, dass die von Vollmar vertretene Richtung das Zeitliche gesegnet habe. Dazu wurzelt sie viel zu tief, wo sie einmal eingewurzelt; es handelt sich ja gar nicht mehr bloß um verschiedene Gedanken über die Parteitaktik, sondern um eine total verschiedene Denkweise, die nicht mit einem Schlage herumgeworfen werden kann. Es fragt sich demnach, ob diese Meinungsverschiedenheiten vertuscht oder ob sie ausgetragen werden sollten, und wenn sie ausgetragen werden sollen: wie sie ausgetragen werden können.

IV.

Die leichteste und seichteste Art, sich über die in der Partei vorhandenen Meinungsverschiedenheiten hinwegzuhelfen, ist der Versuch, sie hinweg zu witzeln. In diesem einen Punkte wurde der sonst so schöne Verlauf des Stuttgarter Tages allerdings ein wenig getrübt. Wir sind gewiss keine Sauertöpfe: ginge es nach unseren Wünschen, so würde sich die befreiende und lösende Kraft goldenen Humors im proletarischen Emanzipationskampfe viel stärker entfalten, als sie sich nach den ganzen Bedingungen dieses Kampfes leider entfalten kann. Wir haben nichts gegen einen guten und selbst nicht einmal etwas gegen einen schlechten Witz, sobald er sich spontan aus Rede und Gegenrede ergibt; wenn ein Redner in Stuttgart sich 'mal etwas verhieb, indem er einem Bandwurm die Giftzähne ausziehen wollte und ein anderer Redner darüber einen Scherz machte, so war das selbstverständlich ganz in der Ordnung. Dagegen kommen wir nicht mehr mit, wenn darauf ausgegangen wird, systematische Heiterkeit als ernsthafte Waffe der politischen Debatte zu erregen; wir finden keinen Geschmack an der Art, wie beispielsweise die Laterne heruntergeputzt, oder wie ein paar gescheite und tapfere Frauen mit den urältesten Kalauern der fliegenden Blätter über weibliche Beredsamkeit regaliert wurden.

Es gab eine Zeit, wo die parlamentarische „Heiterkeitsmacherei“ in der Partei aufs Schärfste verurteilt wurde, nämlich in den sechziger und siebziger Jahren, als „Unser Braun“ und andere Nationalliberalen ihre Giftpfeile gegen die „prinzipiellen Raubeine“ abschossen, die der „praktischen Politik" des Nationalliberalismus ernsthafte Einwände machten. Die Witze „Unseres Brauns" waren dabei noch viel besser als die in Stuttgart gemachten Witze, was diesen Witzen übrigens nicht zum Tadel, sondern sehr zur Entschuldigung gereicht. Denn alle solche Witze, gute wie schlechte, kommen ja aus der reaktionären Rüstkammer, und jener Redner in Stuttgart, der seine Späße über die Rrrrrevolution lieber gleich im Gardeleutnantston vortrug, dachte von seinem Standpunkte aus ganz richtig: Wenn schon, denn schon, Aber da alle derartigen Witze aus der reaktionären Rüstkammer stammen, so gehören sie nicht auf einen sozialdemokratischen Parteitag, und eben deshalb war es das beste an den Stuttgarter Witzen, dass sie gar so schwach herauskamen. Ein wirklich guter Witz gelang den witzigen Rednern erst, als sie anfingen, ernsthaft zu werden, und die Vertreter der proletarisch-revolutionären Richtung innerer Unsicherheit beschuldigten: bis jetzt hat, so lange die Welt steht, der Verdacht innerer Unsicherheit stets auf denen geruht, die sich durch schlechte oder auch gute Witze aus einer ernsthaften Sache zu ziehen versuchten.

Ein anderer Einwand, dass es sich nämlich bei den taktischen Meinungsverschiedenheiten in der Partei nur um die Haarspaltereien einiger Theoretiker handle, ist durch den Verlauf des Stuttgarter Parteitags selbst so gründlich widerlegt worden, dass kein Wort mehr darüber verloren zu werden braucht, ebenso hinfällig Ist es, der proletarisch-revolutionären Richtung eine ungesunde Hinneigung zur Theorie nachzusagen. Theoretiker gibt es hüben und drüben, wie es Praktiker hüben und drüben gibt. Es ist sogar sehr die Frage, ob die Theoretiker der „praktischen Politik“ nicht, freiwillig ober gezwungen, der praktischen Bewegung im allgemeinen ferner stehen, als die Theoretiker der anderen Seite, Doch gehen wir darauf nicht näher ein, sowohl deshalb nicht, weil solche persönliche Untersuchungen, selbst wenn sie nicht verletzen sollen, doch gewöhnlich zu verletzen pflegen, als auch deshalb nicht, weil wir das Ausspielen der Praxis gegen die Theorie oder auch der Theorie gegen die Praxis für ein sehr zweischneidiges Beginnen halten.

Bisher war es der Ruhm der Partei, Praxis nicht ohne Theorie und Theorie nicht ohne Praxis zu treiben. Sie hat nie einen so abstrakten Theoretiker besessen, wie Ferdinand Lassalle, aber auch nie einen so praktischen Agitator, wie denselben Ferdinand Lassalle. Von ihm stammt denn auch das gute Wort, dass alle Praxis nichts tauge, in deren Lungen nicht die Lebensluft der Theorie kreise. Theoretiker in dem einseitigen Sinne des Wortes gibt es unseres Wissens überhaupt nicht in der Partei; alle, die man Theoretiker nennen mag, sind auch in der praktischen Bewegung tätig, und wir würden sehr bedauern, wenn es Praktiker in der Partei geben sollte, die sich um die Theorie nicht kümmern. Wenn Theorie ohne Praxis gewiss ebenso wenig wert ist. wie Praxis ohne Theorie, so kann Praxis ohne Theorie für die Partei doch viel gefährlicher werden, als Theorie ohne Praxis. Sollte einmal ein Theoretiker vor lauter Bäumen den Wald nicht sehen, so geht die Partei über ihn zur Tagesordnung, was selbst einem Theoretiker wie Marx nicht erspart geblieben ist, mit dem sich doch alle heutigen Theoretiker nicht entfernt messen können. Aber wenn sich die Massen der Partei ganz in der „praktischen Kleinarbeit“ verlieren, die an ihrem Orte natürlich ihr volles Verdienst hat, so können daraus viel gefährlichere Nackenschläge entstehen. Nur drei Jahre, nachdem die Partei über den Einspruch von Marx gegen das Gothaer Einigungsprogramm ohne alle Gefährde hinweggeschritten war, schuf ihr die Vernachlässigung der Theorie manches bittere Ungemach, als die Katastrophe des Sozialistengesetzes hereinbrach.

Dies führt uns auf den letzten Einwand, auf die Frage: Soll die Partei gerade jetzt, wo sie schweren Kämpfen in vollkommener Geschlossenheit entgegen geht, ihre Zeit und Kraft mit Diskussionen über Meinungsverschiedenheiten zersplittern, die in gar keinem Zusammenhange mit jenen Kämpfen stehen? Wir wollen nun nicht untersuchen, ob dieser Zusammenhang so ganz fehlt, aber selbst wenn er fehlen würde, so müssten wir doch antworten: Gerade deshalb ist es nötig, die taktischen Meinungsverschiedenheiten jetzt auszutragen. Des „Schweineglück“ der Partei ist eine sehr angenehme Beigabe, aber auf die Fehler der Gegner allein kann sich keine große Partei verlassen. Diese Fehler können einmal aufhören und, so oder so, werden sie einmal aufhören. Trifft aber eine große Wendung der Dinge, die jeden Augenblick eintreten kann, die Partei in der gegenwärtigen taktischen Unklarheit, dann mag leicht eine sehr böse Lage entstehen, und in zehn Tagen kann verloren sein, was in zehn Jahren mühsam aufgebaut worden ist. Selbst aber, wenn die Partei auf einige Jahre vor allen fatalen Überraschungen sicher wäre, wofür selbstverständlich auch der klügste Prophet nicht die geringste Bürgschaft übernehmen kann, so wäre es dennoch ein schwerer Fehler, die Dinge laufen zu lassen, wie sie mögen. Nichts ist für demokratische Parteien verhängnisvoller, als die Vertuschung einmal vorhandener Gegensätze. Das gilt selbst für bürgerliche, geschweige denn für proletarische Demokratien. Die preußische Fortschrittspartei der Konfliktszeit hatte in noch viel höherem Grade als heute die deutsche Sozialdemokratie, das ganze Volk hinter sich, aber da sie alle Gegensätze in ihrem Schoße ängstlich vertuschte, weil sie ja doch der feudalen Reaktion gegenüber einig sei, so zerbrach sie in der kritischen Stunde wie Glas. Nicht die Gegensätze sind gefährlich — denn jede große Volkspartei hat Gegensätze in ihrem Schoße und muss diese Gegensätze ertragen können, worauf wir noch zurückkommen — aber das Vertuschen der Gegensätze rächt sich an jeder Demokratie, und würde sich an der proletarischen Demokratie noch viel schwerer rächen, als es sich von jeher an jeder bürgerlichen Demokratie gerächt hat.

Deshalb sind wir der Meinung, dass die taktischen Meinungsverschiedenheiten, die in Stuttgart hervorgetreten sind, nicht vertuscht werden dürfen, sondern ausgetragen werden müssen. In einem fünften leitenden Artikel — ganze vierundzwanzig sollen es nicht werden, Genosse Vollmar! — wollen wie noch einen Blick darauf werfen, wie sie ausgetragen werden können.

V.

(Schlussartikel.)

Geht man auf den tiefsten Grund der taktischen Meinungsverschiedenheiten, die in der Partei bestehen, so wird man ihn in ihrer historischen Entwicklung finden. Ursprünglich eine reine Arbeiterpartei, hat sie durch ihre ehrliche und konsequente Politik immer größere Scharen kräftiger Elemente aus anderen, namentlich aber aus den kleinbürgerlichen Bevölkerungsschichten an sich gezogen, hat sie bei dem gänzlichen Verfalle der bürgerlichen Opposition mehr und mehr alle Aufgaben einer bürgerlichen Demokratie mit auf ihre Schultern nehmen müssen.

Diese Entwickelung rückgängig zu machen oder auch nur zu beklagen, kann höchstens Toren einfallen. Hätte sich die Partei dagegen gesperrt, wie sie es nie auch nur einen Augenblick getan hat, so hätte sie den ersten Schritt zu ihrer seelenmäßigen Verkrüppelung gemacht. Aber mit dieser Entwicklung kamen auch Gegensätze in die Partei, insofern als bei allem ehrlichen Bekenntnis zum Parteiprogramm die einen die Dinge doch immer etwas anders ansahen, als die anderen. Sich ganz über die sozialen Bedingungen hinwegzusetzen, unter denen man aufgewachsen ist, unter denen man arbeitet und wirkt, vermag kein Mensch; selbst unter so großen Meistern des abstrakten Denkens, wie Lassalle und Marx waren, machten sich bei aller prinzipiellen Übereinstimmung doch taktische Gegensätze geltend, die sich auf die sozialen Bedingungen zurückführen lassen, unter denen sie gearbeitet und gelebt haben. Solche Gegensätze hat es seit lange in der Partei gegeben; sie müssen ertragen werden, und die Warnung, die Greulich in Stuttgart vorm „Absägen“ aussprach, war vielleicht nicht so notwendig, wie sie berechtigt war. Sie können aber auch ertragen werden, ja sie werden das Parteileben viel eher erfrischen und stärken als hemmen und versumpfen, wenn sie anders im richtigen Schwergewicht zu einander stehen.

Selbstverständlich kann es sich nicht darum handeln, die Parteimitglieder, je nach ihrer sozialen Herkunft, in Genossen erster und zweiter Klasse zu scheiden. Die vollständige Gleichberechtigung jedes Einzelnen versteht sich ja von selbst. Aber die Partei ist ihrem historischen Wesen nach eine proletarische und keine kleinbürgerliche Partei. Ihr historischer Kern ist das moderne, großindustrielle, seiner ganzen Klassenlage nach revolutionäre Industrieproletariat; dies Proletariat ist, um mit Vollmar zu sprechen, der Preisfechter der Partei, ohne dessen starken und unzerbrechlichen Arm das Parteiprogramm niemals verwirklicht werden kann. Deshalb gebührt ihm innerhalb der Partei kein undemokratisches Vorrecht, aber wohl die Stellung, die seiner Fähigkeit und seiner Kraft entspricht. Wenn die historische Entwicklung aus der deutschen Sozialdemokratie ein vielstimmiges Orchester gemacht hat, so hat die kleine Flöte so gut das Recht, sich hören zu lassen, wie der große Brummbass, aber gespielt werden muss der große Brummbass vom modernen Industrieproletariat, weil er nur von ihm gespielt werden kann. Noch wird er von ihm gespielt, aber die Gefahr droht, dass er in Hände gerät, die ihn nicht spielen können, und hieraus entspringen die erbitterten und verbitternden Streitigkeiten über die Taktik.

Soweit die „praktischen Politiker“ durch ihre eigene Rührigkeit einen Einfluss in der Partei errungen haben, der über das der sozialen Parteigliederung entsprechende Maß hinausgeht, muss man philosophisch genug denken, um ihnen ein aufrichtiges Kompliment zu machen und jedem, der sich dadurch beschwert fühlt, einfach zu sagen: Gehe hin und tue desgleichen! Aber sie verdanken ihre Erfolge nicht nur ihrer Rührigkeit, sondern auch der Gunst der Umstände. Wir wollen nicht allzu tief auf diese Seite der Sache eingehen, um nicht etwa Auseinandersetzungen hervorzurufen, die den Zweck verdunkeln könnten, auf den es uns in diesen anspruchslosen Glossen ankommt. Nur einen Punkt, der in Stuttgart verhandelt worden ist, wollen wir berühren. Bekanntlich sieht der Vorwärts seine Aufgabe als führenden Organ darin, nicht zu führen; ob diese Auffassung richtig oder unrichtig ist, haben wir nicht zu untersuchen; jedenfalls hat sie die Wirkung, dass dadurch 250.000 Genossen in Berlin und seinen Vororten, der neunte Teil der sozialdemokratischen Wählerschaft, von jedem mitbestimmenden Einfluss auf die geistigen Strömungen, auf die innere Entwicklung der Partei so gut wie ausgeschlossen sind. Möglich, dass sie das schwere Opfer um höherer Parteiinteressen willen bringen müssen, aber dass die gewaltige Stimme dieser Kerntruppen, in deren Reihen der proletarisch-revolutionäre Geist mächtig ist, aus dem Parteikonzert verschwindet, ist für die „praktischen Politiker“ ein Gewinn, an dem sie kein Verdienst, und für uns andere ein Schaden, an dem wir keine Schuld haben.

Um so mehr aber sollten die anderen großen Industrie- und Parteizentren, die in keiner Weise gebunden sind, sich rappeln und rühren, um der proletarisch-revolutionären Richtung wieder die ihr gebührende Geltung in der Partei zu verschaffen. Versteht sich: in der legitimsten Weise von der Welt, durch ehrliche und freie Diskussion, wie sie sich für eine demokratische Partei ziemt. Sie können dabei selbst sehr gut den Schein vermeiden, als wollten sie irgend eine Zwietracht in die Partei tragen. Lafargue schrieb neulich in der Neuen Zeit: „Die einen diskutieren scholastisch die Richtigkeit der materialistischen Geschichtsauffassung an und für sich; die anderen folgen dem Beispiele des Diogenes, der die Bewegung dadurch nachwies, dass er ging.“ Scholastisch ist die Frage der Taktik reichlich genug diskutiert worden; soweit auf diesem Wege Klarheit geschafft werden konnte, ist sie in Stuttgart geschafft worden. Jetzt mag gezeigt werden, was die proletarisch-revolutionäre Richtung geben kann, das heißt ihre Richtigkeit mag an jeder praktischen Tagesfrage praktisch nachgewiesen werden, wozu die historischen und theoretischen Überlieferungen der Partei das reichste Material bieten.

Geben die großen Industrie- und Parteizentren in ihren Organisationen und ihren Presseorganen also vor, wogegen von keinem Gesichtspunkte aus irgend etwas eingewandt werden kann, so wird das richtige Schwergewicht in der Partei sehr bald wieder hergestellt, so werden die taktischen Meinungsverschiedenheiten sehr bald ausgetragen, das heißt nicht ausgerottet, aber ihres aufreibenden und verbitternden Charakters entkleidet sein. Es wird dann gehen wie es in Stuttgart ging: nach einigem Hin- und Herschwanken wird die proletarisch-revolutionäre Richtung einen durchschlagenden Erfolg erringen und sich die leitende Stellung in der Partei sichern, die ihr nach allem historischen und logischen Rechte gebührt.

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