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Karl Kautsky 19050607 Patriotismus, Krieg und Sozialdemokratie

Karl Kautsky: Patriotismus, Krieg und Sozialdemokratie1

[Nach „Die Neue Zeit: Wochenschrift der deutschen Sozialdemokratie.“ - 23.1904-1905, 2. Band.(1904-1905), Heft 37 (7. Juni 1905), S. 343-348, und Heft 38 (14.Juni), S. 364-371]

1. Der Patriotismus

Die vier Fragen, welche die Redaktion der Vie SociaIiste uns stellt, könnten kurz mit ein paar Sätzen beantwortet werden. Aber sie umfassen so große und schwere Probleme, dass man auch vier dicke Bücher darüber zu schreiben vermöchte. Das letztere ist hier ausgeschlossen, zu meiner Leser und meinem Glücke, aber das erstere wieder scheint mir ziemlich zwecklos, denn die Meinung eines Menschen hat höchstens Kuriositätswert, wenn man nicht die Gründe kennt, auf die sie aufgebaut ist. Ich möchte daher versuchen, meinen Standpunkt wenigstens einigermaßen zu begründen. So flüchtig es geschieht, werde ich doch nicht ganz kurz sein können, angesichts der Kompliziertheit der vorgelegten Fragen.

So ist gleich die erste Frage, ob Patriotismus und Internationalismus sich miteinander vereinbaren lassen, keine einfache. Sie hängt davon ab, was man unter Patriotismus versteht. Der Patriotismus ist aber nicht etwas von der Natur Gegebenes, er ist ein gesellschaftliches Produkt. Das Vaterland wechselt mit den gesellschaftlichen Verhältnissen, und innerhalb einer gegebenen Gesellschaft wieder ist die Rolle, die das Vaterland spielt. für jede Klasse eine andere, und damit auch ihr Patriotismus ein anderer.

Die Fragestellung weist auf das „Kommunistische Manifest" hin, aber gerade die Haltung, die Marx und Engels gegenüber den nationalen Fragen ihrer Zeit einnahmen, zeigt am besten, wie kompliziert das Problem des Patriotismus ist, denn diese Haltung war anscheinend eine sehr widerspruchsvolle. Sie verfochten mit aller Entschiedenheit die nationalen Bestrebungen der Italiener, Ungarn, Polen, ebenso sehr aber auch die der Deutschen; dies in einem Maße, dass man sie für deutsche Patrioten ansehen könnte, wenn sie nicht 1870 auf Seite der französischen Republik gegen das kaiserliche Deutschland getreten und die Abtrennung Elsass-Lothringens von Frankreich auf das Lebhafteste bekämpft hätten. Die zweite Adresse des Generalrats der Internationale über den deutsch-französischen Krieg protestierte energisch gegen das „Verbrechen, dass man in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts die Politik der Eroberungen aufs Neue ins Leben gerufen hat", und gegen den „Raub an französischem Gebiet".

Aber so lebhaft sie sich aller dieser Nationen annahmen, den Unabhängigkeitsbestrebungen der kleineren slawischen Nationen in Österreich und der Türkei standen sie stets mit Misstrauen, ja mit Abneigung gegenüber.

Das erscheint sehr widerspruchsvoll, wenn man sich auf den Standpunkt des bürgerlichen Begriffs von Nationalität und Patriotismus stellt, nicht aber, wenn man diese Erscheinungen vom Standpunkt des Emanzipationskampfes des Proletariats aus betrachtet.

Es ist schon oft darauf hingewiesen worden, dass das Proletariat als unterste aller Klassen sich nicht befreien kann, ohne aller Unterdrückung und Ausbeutung ein Ende zu machen, also auch der nationalen. Die proletarischen Mitglieder einer Nation, die von einer anderen unterdrückt, ausgebeutet oder auch nur in ihrer Selbständigkeit bedroht wird, müssen diese Unterdrückung ebenso bekämpfen wie jede andere. Andererseits aber haben die proletarischen Mitglieder einer ihre Nachbarn drückenden und ausbeutenden oder doch bedrohenden Nation nicht das geringste Interesse an dieser Stellung, die nur den herrschenden Klassen ihrer Nation zugute kommt, denselben, die sie selbst ausbeuten und unterdrücken. Die Proletarier der beherrschten Nation dagegen sind ihre natürlichen Verbündeten. Die nationalen Gegensätze brauchen also im Proletariat keinen Raum zu finden. Sie sind ihm dort fremd, wo es geistig und politisch selbständig geworden ist. Wo es so weit gekommen ist, wird es nie einen aggressiven Patriotismus entfalten, nie das eigene Vaterland, die eigene Nation auf Kosten anderer fördern wollen.

Das ist indes nur die eine Seite des proletarischen Patriotismus und nicht seine kennzeichnendste. Auch andere Klassen, die nicht zu den ausbeutenden gehören, können einen ähnlichen friedfertig-toleranten Patriotismus erzeugen, wie der kleinbürgerliche Radikalismus beweist.

Aber der proletarische Emanzipationskampf ist nicht bloß ein Kampf gegen jede Art der Unterdrückung und Ausbeutung; er ist auch ein Kampf um eine neue Produktionsweise und damit um eine neue Gesellschaftsform, durch die allein die Aufhebung jeder Art von Unterdrückung und Ausbeutung möglich ist. Dieser neuen Gesellschaft entspricht auch eine neue Ethik.

Die Warenproduktion ist die Produktion selbständiger Produzenten, die in vollster Freiheit miteinander konkurrieren. Das führt zu dem ethischen Ideal des Liberalismus und Anarchismus, der vollen Freiheit der Persönlichkeit. die sich ganz ausleben soll. Der Liberalismus unterscheidet sich hier vom Anarchismus bloß dadurch, dass er seine Ethik den Bedürfnissen der kapitalistischen Warenproduktion anpasst, mit ihren sozialen und nationalen Gegensätzen, welche die Zwangsorganisation des Staates notwendig machen, während der Anarchismus antikapitalistisch ist, was ihn zwingt, wenn er sich auch noch so modern gibt. in der einfachen Warenproduktion, der kleinbürgerlichen und kleinbäuerlichen, sein Ideal zu suchen. Der Anarchismus ist Liberalismus für alle. Der Liberalismus Anarchismus für die herrschenden Klassen und ihre Parasiten.

Aber die kapitalistische Produktionsweise kann nicht überwunden werden durch Rückkehr zur einfachen Warenproduktion, sondern nur durch Eroberung der technischen Errungenschaften der kapitalistischen Privatproduktion für die gesamte Gesellschaft, also durch gesellschaftliche Produktion, durch Produktion, die von der Gesellschaft und für die Gesellschaft betrieben wird. Dies wird das Ideal des Proletariats der kapitalistischen Produktionsweise, sobald es sich geistig und politisch von Liberalismus und Anarchismus befreit hat. Damit wird ihm aber auch die Persönlichkeit nicht Selbstzweck, sondern Mittel zum Zwecke; dieser Zweck ist indes nicht ein anderes Individuum, sondern die Gesellschaft, die Gesamtheit, der der Einzelne nun zu dienen hat. Nicht das rücksichtslose Ausleben der Persönlichkeit, sondern die rückhaltlose Hingabe an die Gesamtheit wird der kategorische Imperativ der neuen, sozialistischen Ethik, ein kategorischer Imperativ, der nicht wie der Kantsche aus irgendeiner mystischen Welt der Dinge an sich, sondern aus der sehr realen Welt der Dinge für uns, der Produktionsweise, entspringt. Der Proletarier sieht sein Glück nicht in der Größe und Macht seiner eigenen Persönlichkeit, sondern in der Größe und Macht der Organisation, welcher er angehört.

Damit wird die freie Entwicklung der Persönlichkeit jedoch nicht aufgehoben, sie wird vielmehr erst aus einem Privilegium weniger „Übermenschen", das sie heute ist, zum Gemeingut aller. Denn erst die gesellschaftliche Produktion, die den einzelnen zum bloßen Rädchen eines großen Mechanismus macht, schafft die Möglichkeit ausreichender Muße für alle, in der sie, nach getaner Produktionsarbeit, sich frei ausleben und entfalten können.

Doch dies nur nebenbei, um ängstliche Verehrer der freien Persönlichkeit über deren Schicksale zu beruhigen. Mit unserem Thema hat die letztere Bemerkung nichts zu tun.

Wie aber die Einverleibung aller Persönlichkeiten in einen großen produktiven Mechanismus, dem sie als kleine Teilchen zu dienen haben, das Ziel des proletarischen Emanzipationskampfes bildet, ist es auch heute schon das wichtigste seiner Kampfesmittel. Durch die Entwicklung seiner Organisationen schreitet es siegreich vorwärts, Organisation heißt aber nichts anderes als Unterordnung des einzelnen unter eine Gesamtheit, Einschränkung seiner persönlichen Freiheit. Unsere Gegner zetern denn auch über nichts mehr als über den „Terrorismus" in der Sozialdemokratie und den Gewerkschaften, sie vergessen aber, dass die „freie Persönlichkeit" ein Luxus ist, den sich heute außer den Lumpenproletariern, den Bohemiens, nur noch die Reichsten der Reichen erlauben können; dass die Frage nicht mehr die ist, ob die Organisation oder die freie Persönlichkeit in der Produktion und in der Gesellschaft herrschen soll, sondern die, ob kapitalistische Organisation im Dienste einiger Personen oder sozialistische Organisation im Dienste der Gesellschaft.

Was sollen aber alle diese Ausführungen? werden die meisten Leser fragen. Es handelt sich doch um die Frage des Patriotismus, nicht um die der Ethik. Sehr richtig; indes sind beide aufs Innigste miteinander verwachsen und der Unterschied zwischen bürgerlichem und proletarischem Patriotismus wird am ehesten begriffen, wenn man den zwischen bürgerlicher und proletarischer Ethik erkannt hat.

Für das bürgerliche Denken steht die Persönlichkeit des einzelnen im Vordergrund. Das Gemeinwesen ist bloß seinetwegen da, hat bloß dafür zu sorgen, dass die einzelnen sich nicht gegenseitig ins Gehege kommen. Wie die Erklärung der Menschenrechte der Revolution sagte: „Die Ausübung der natürlichen Rechte jedes Menschen hat keine anderen Schranken als die, welche anderen Mitgliedern der Gesellschaft den Genuss derselben Rechte sichern." Unter seiner Persönlichkeit versteht der Bourgeois aber nicht bloß das, was er ist – das ist so unbedeutend, dass niemand es bedroht –, sondern auch das, was er hat; das wird aber von niemand ernstlicher bedroht als von denen, die nichts haben, den Proletariern. Die Erklärung der Menschenrechte der Revolution zählte das Eigentum zu diesen unveräußerlichen Rechten. Nicht etwa bloß das Produkt der persönlichen Arbeit, nein, alles, was einer besitzt, wie immer er es erworben haben mag, wie sehr es das Produkt anderer Persönlichkeiten sein, wie wenig es seiner eigenen Person entstammen mag. Der Schutz des Eigentums gilt dem bürgerlichen Vaterland ebenso als Schutz der Persönlichkeit, wie Freiheit, Sicherheit und Widerstand gegen Unterdrückung. Und in der Praxis wird es zur vornehmsten Ausgabe des bürgerlichen Vaterlandes, das Eigentum zu schützen, wird das Vaterland als der Inbegriff alles Reichtums der Nation selbst zur Verkörperung der Gesamtheit des Eigentums.

Für die besitzenden Klassen ist das Vaterland der Inbegriff ihres eigenen Reichtums, ihrer eigenen Macht. Vor allem für die Kapitalistenklasse wird das Vaterland immer mehr zu ihrer Domäne, die sie beherrscht. von deren Ausbeutung sie ebenso wie die konkurrierenden Kapitalisten des Auslandes so auch die Proletarier des eigenen Landes auszuschließen vermag. Wie selbstsüchtig der einzelne Kapitalist sein mag, wie gleichgültig gegen das Gemeinwohl, in allen Fragen, in denen es sich um Klasseninteressen, nicht um persönliche handelt, sind die besitzenden Klassen hoch patriotisch, setzen sie das Vaterland höher als irgendeine andere gesellschaftliche Institution.

Andererseits aber heißt das Eigentum schützen nichts anderes, als diejenigen davon ausschließen, die keines haben. Und betrachtet man das Vaterland als den Inbegriff aller Reichtümer, die es enthält, dann ist der Proletarier davon ausgeschlossen. Das sagt nicht bloß das „Kommunistische Manifest", das sprach schon Tiberius Gracchus in jener berühmten Rede aus, in der er daraus hinwies, dass wohl die wilden Tiere Italiens ihre Höhlen und Lager hätten, auf denen sie ruhen könnten, die Männer aber, auf denen die Größe des italienischen Vaterlandes beruhte, mit Weib und Kind ohne festes Obdach seien:

Es ist ein Hohn, wenn die Feldherren in der Schlacht sie auffordern, für ihre Hausgötter und die Gräber ihrer Väter (also für das Vaterland) zu kämpfen; denn unter allen ist kaum ein einziger, der eine Grabstätte der Seinen und einen eigenen Hausaltar besitzt. Nur um anderen Reichtümer, Glanz und schwelgerische Genüsse zu verschaffen, tragen sie das Schwert und sterben sie auf dem Schlachtfeld. Sie haben die Welt besiegt und werden ihre Herren genannt; ihnen selbst gehört aber nicht eine Scholle Landes."

Aber die Proletarier wollen das private Eigentum an dem kapitalistischen Reichtum der Nation, am Vaterland, aufheben, um es zum Gemeingut aller zu machen; sie wollen den Staat aus einer Organisation der Herrschaft und Ausbeutung in einen Organismus der gesellschaftlichen Produktion verwandeln. Die Proletarier haben also noch kein Vaterland sie wollen es sich aber erobern und wollen seinen Bereich erweitern, indem sie es, das heißt seinen Reichtum, allen Mitgliedern der Nation zugänglich machen, und wollen es von aller Herrschaft einheimischer oder fremder Unterdrücker und Ausbeuter befreien. In diesem Sinne sind sie national und haben sie ein lebhaftes Interesse an dem Gedeihen und an der Unabhängigkeit des Vaterlandes.

Aber der gesellschaftliche Organismus der gesellschaftlichen Produktion, den sie anstreben, kann sich nicht auf eine Nation, ein Land beschränken. Die kapitalistische Produktionsweise hat den Weltmarkt geschaffen; wurde ehedem zwischen den Ländern nur Überflüssiges ausgetauscht, produzierte jedes Land alles Wesentliche selbst, was es brauchte, so ist heute der internationale Handel eine Lebensbedingung für alle kapitalistischen Nationen geworden, kann keine dieser Nationen für sich allein mehr existieren. Die Aufhebung der Warenproduktion führt daher notwendigerweise schließlich zu einer gesellschaftlichen Regelung der gesamten internationalen Produktion, zur Herstellung eines Organismus der gesellschaftlichen Produktion, der den ganzen Weltmarkt umfasst; damit wird aber auch die Gesamtheit, der der einzelne zu dienen hat, nicht mehr das Vaterland oder die Nation, sondern die Kulturmenschheit.

Das ist aber nicht etwa eine phantastische Utopie der Zukunft, das macht sich heute schon auf höchst praktische Weise geltend im proletarischen Klassenkampf, der immer mehr und mehr zu einem internationalen wird.

Wohl muss auch die bürgerliche Welt eine Art Internationalität anerkennen, die der Weltverkehr mit sich bringt. Aber diese Internationalität ist nur eine Übertragung des Verhältnisses, das nach der bürgerlichen Ethik zwischen den Individuen herrschen soll, auf das Verhältnis zwischen den Nationen. Die kapitalistische Ethik proklamiert für das einzelne Land wie für das einzelne Individuum das Recht, sein Eigentum und seinen Machtbereich auf Kosten der anderen so weit auszudehnen und so zu gebrauchen, wie es seine Machtmittel gestatten. Nicht so brutal ist der kleinbürgerliche Radikalismus oder Anarchismus, der der einfachen Warenproduktion entspricht. Dieser fordert das laisser faire, laisser aller für die Nationen wie für die Individuen; aber wie diese, nach der Erklärung der Menschenrechte, so sollen auch jene ihre Schranken in dem gleichen Rechte der anderen finden.

Ganz anders als diese Art Internationalität, die jede Nation treiben lässt, was sie will, solange sie den anderen nicht zu nahe tritt, ist die des Proletariats, die die Zusammenfassung ebenso der Nationen wie der Individuen zu gemeinsamem planvollem Handeln fordert und dementsprechend heute schon die proletarischen Organisationen der verschiedenen Nationen zu solchem Handeln zusammenfasst.

Das Endziel der internationalen sozialistischen Gesellschaft und die Bewegung des internationalen Emanzipationskampfes des Proletariats sind nicht voneinander zu trennen, sind gleichbedeutend. Nichts absurder als die Idee, das eine als nichts und das andere als alles hinzustellen. Mag man aber das Endziel ins Auge fassen oder die Bewegung oder beide zusammen, stets wird diesem Ziele und dieser Bewegung gegenüber das Vaterland ebenso wie das Individuum aufhören, der Angelpunkt zu sein, um den sich unser ganzes politisches und soziales Denken und Arbeiten dreht. Wohl muss die Erreichung des sozialistischen Endziels die Masse der Individuen weit mehr befreien, muss die einzelnen Nationen reicher und sicherer machen, als es irgendeine gesellschaftliche Organisation bisher vermochte. Und wohl muss die Bewegung zu diesem Endziel im Ganzen und Großen auch schon von einer steigenden Befreiung der Individuen, vom Wachstum des Reichtums und der Sicherheit der einzelnen Nationen begleitet sein. Aber immerhin sind Individuum wie Nation dem internationalen Emanzipationskampf des Proletariats unterzuordnen, und wo eines ihrer Sonderinteressen in Gegensatz zu den Bedürfnissen dieses Emanzipationskampfes tritt, da hat das individuelle ober nationale wie auch jedes andere Sonderinteresse, zum Beispiel das zünftige oder berufliche, dahinter zurückzutreten.

Der kapitalistisch denkende Nationalist mag erklären: right or wrong, my country – ob es recht oder unrecht tut, ich stehe stets aus der Seite meines Vaterlandes; der Sozialdemokrat muss Intelligenz und Mut genug haben, es erkennen zu können, wenn das Sonderinteresse einer Nation, und wäre es auch seine eigene, dem Emanzipationskampf des Proletariats in den Weg tritt, und dementsprechend zu handeln. Aus dieser Überzeugung ist es zu erklären, wenn Marx und Engels sich nicht nur den nationalen Aspirationen der Slawen Österreichs (mit Ausnahme der Polen) und der Türkei widersetzten, solange sie glaubten, dass der schlimmste Feind des internationalen Emanzipationskampfes daraus Nutzen ziehe; es ist daraus auch zu erklären, dass sie es unternahmen, und die gesamte deutsche Sozialdemokratie mit ihnen, im deutsch-französischen Kriege dem Nationalismus der eigenen Nation entgegenzutreten, als er Formen annahm, die nur das Hohenzollerntum und den Zarismus fördern konnten, die aber die Demokratie in Deutschland wie in Frankreich aufs Tiefste schädigen mussten.

Soviel über die erste Frage, über das Verhältnis von Vaterland und Internationalität. Und nun zu den anderen, von denen ich nur die vierte behandeln möchte; die zweite und dritte erledigen sich nebenbei von selbst. Die vierte dagegen erheischt einige längere Ausführungen.

2. Der Krieg

Wenn man die Frage des Krieges zu unbedingt beantwortet, kann man leicht in eine unangenehme Zwickmühle geraten; sowohl dann, wenn man meint, es sei die Pflicht der Sozialdemokratie, jeden Krieg, welcher immer er sei, zu verabscheuen und unmöglich zu machen, als auch dann, wenn man erklärt, es sei die Pflicht der Sozialdemokratie, wenn immer das Vaterland in Kampf mit einem auswärtigen Feinde gerate, freudig alles zu seiner Verteidigung aufzubieten.

Der letztere Punkt ist schon im vorigen Artikel gestreift worden. Wenn für den Sozialdemokraten das Vaterland der Güter höchstes nicht ist, wenn dessen Interessen untergeordnet sind denen des allgemeinen proletarischen Emanzipationskampfes, dann kann seine Verteidigung auch nicht unter allen Umständen Pflicht der Sozialdemokratie sein, sondern nur dann, wenn das patriotische Interesse mit den proletarischen Interessen oder denen der allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklung zusammenfällt. Notabene, wir sprechen hier von jener Teilnahme der Sozialdemokratie, die eine freiwillige ist, nicht von jener, die sie etwa unter dem Zwange der Wehrpflicht zu leisten hat. Von dieser handeln wir noch später.

Kann es aber nicht Pflicht der Sozialdemokratie eines Landes sein, sich unter allen Umständen für jeden Krieg, sei er auch ein Verteidigungskrieg, zu begeistern, den es etwa zu führen hat, so ist es ebenso wenig ihre Pflicht, von vornherein jede freiwillige Teilnahme an einem Kriege in Bausch und Bogen zu verurteilen, etwa mit der Motivierung, der Krieg sei ein unsittliches, barbarisches Mittel, wir wollten Frieden zwischen allen Völkern.

Sicher wollen wir den ewigen Frieden, aber nicht mehr, als wir etwa die Aufhebung der Klassengegensätze wollen. Folgt aber aus diesem Wollen, dass wir auf den Klassenkampf verzichten? Im Gegenteil, gerade wir erkennen dessen Notwendigkeit in der heutigen Gesellschaft weit schärfer als alle diejenigen, die diese Gesellschaft der Klassengegensätze und des Klassenkampfes verewigen wollen. So verhält es sich auch mit dem Kriege. Wir Sozialdemokraten wollen einen internationalen gesellschaftlichen Organismus schaffen, in dem alle großen sozialen und nationalen Gegensätze überwunden sind und eine gemeinsame gesellschaftliche Macht gegeben ist, die jede einzelne Nation überragt und dadurch über ihnen allen steht als Schiedsrichter in etwaigen kleinen Differenzen. So wollen wir die Möglichkeit eines ewigen Friedens zwischen den Nationen schaffen. Aber gerade deswegen erkennen wir um so deutlicher die Unmöglichkeit dieses Friedens heute, wo wir noch weit entfernt von einer derartigen internationalen sozialistischen Gesellschaft sind, und wissen um so besser, dass alle Versuche Utopien sind, durch Schiedsgerichte der souveränen kapitalistischen Regierungen der einzelnen Länder und ähnliche Schönheitspflästerchen die tiefen Abgründe zu überbrücken und zu verdecken, die zwischen ihnen gähnen und denen immer wieder neue Kriegsursachen entsteigen. Der Krieg wie die Revolution sind Katastrophen, die von Zeit zu Zeit mit eherner Notwendigkeit die heutige Gesellschaft heimsuchen und nur mit ihr verschwinden können.

Seit einem Jahrhundert sind beide schon unzählige Mal totgesagt worden, aber nur, um allen Leichenreden zum Trotze immer wieder zu neuem, robustem Leben zu erwachen. Stets war bei diesen Prophezeiungen nur der Wunsch der Vater des Gedankens gewesen, der Wunsch, der Tatsache entspringend, dass Krieg und Revolution für die bürgerliche Gesellschaft in demselben Maße zu immer furchtbareren Geißeln werden, je mehr sie wächst und die Keime zu neuen Kriegen und Revolutionen in ihrem Schoße entwickelt.

Wohl sind manche der früheren Kriegsursachen zurückgetreten, aber nur, um neuen Platz zu machen. Die kapitalistische Produktionsweise eines Landes bedarf beständiger Entfaltung, beständiger Ausdehnung ihres Marktes und Machtbereichs, das führt aber zu ständiger Eroberungspolitik aller großen kapitalistischen Nationen. Allerdings ist in Europa selbst seit dreißig Jahren ein Gleichgewichtszustand hergestellt, der nur unter den furchtbarsten Katastrophen gestört werden könnte und der daher vorläufig keine Nation an Eroberungskriege in unserem Erdteil – außer etwa gegen die Türkei – denken lässt. Aber um so einiger sind sie alle bemüht, in Asien und Afrika so viel Gebiete zusammenzuraffen, als noch „herrenlos", das heißt ohne einen europäischen Herrn, daliegen. Jeder derartige Eroberungszug birgt aber den Keim auch zu europäischen Verwicklungen und Kriegen in sich. Man braucht bloß an Faschoda und Marokko zu denken.

Jede Gesellschaft, die auf Gegensätzen von Klassen oder Nationen beruht, bedarf der Gewalt der Waffen zu ihrer Erhaltung. Es ist eine Torheit, wenn die bürgerlichen Friedensschwärmer die kapitalistische Produktionsweise aufrechterhalten und den Krieg, ihre notwendige Folge, aufheben wollen.

So groß unsere Friedenssehnsucht sein mag, so sehr wir vor allen Gewaltmitteln zurückscheuen mögen, wir werden es nicht verhindern, dass in den modernen Kämpfen der Klassen und Nationen ebenso wie in früheren Zeiten Situationen sich einstellen, in denen von der einen oder der anderen Seite Gewalt angewandt wird und nur Gewalt imstande ist, die Gewalt abzuwehren, die Anwendung von Gewalt eine Notwendigkeit wird. Wer à la Tolstoi die Anwendung von Gewalt unter allen Umständen für sündhaft erklärt, hilft damit nur jenen unter den herrschenden Klassen, die am skrupellosesten mit der Gewalt verfahren.

Hält man aber unter Umständen Gewalt für gerechtfertigt, dann kann man auch den Krieg als solchen nicht von vornherein unter allen Umständen in der heutigen Gesellschaft verurteilen. Der Krieg ist bekanntlich die Fortsetzung der Politik mit der Gewalt der Waffen. Wollen wir über die Berechtigung eines Krieges vom proletarischen Standpunkt aus urteilen, müssen wir vor allem zu einem Urteil über die Politik kommen, deren Fortsetzung der Krieg darstellt. Das, und nicht die bloße Tatsache der Anwendung der Gewalt, ist für uns entscheidend.

Dass angesichts der Gräuel, die jeder Krieg verursacht und unter denen die arbeitenden Klassen weit mehr noch als alle anderen leiden, die Anwendung kriegerischer Gewalt nur in den dringendsten Fällen gerechtfertigt sein kann, ist selbstverständlich. Aber ein Sozialdemokrat könnte in große Verlegenheiten kommen, wollte er mit Hinblick aus diese Gräuel jeden Krieg verurteilen. Nicht einmal jeder Angriffskrieg ist zu verurteilen.

Die Unterscheidung zwischen Angriffs- und Verteidigungskrieg ist überhaupt in den meisten Fällen eine sehr zweifelhafte. Der Krieg bildet ein so furchtbares Wagnis, dass es wenige Regierungen geben dürfte, wie despotisch und frivol sie auch wären, die ihn gern unternähmen. In der Regel greifen sie zu ihm nur in einer Zwangslage, in einem Konflikt, den die Verhältnisse schaffen und aus dem die beiden Gegner keinen friedlichen Ausweg mehr finden. Wer dann den Anfang macht und den Krieg erklärt, das ist eine Frage sehr sekundären Ranges, darüber entscheiden weniger Rücksichten auf „Gerechtigkeit" und „Volkswohl" der einen oder anderen Seite als diplomatische Geschicklichkeit und strategische Erwägungen hier und dort.

War Japan der anweisende Teil im jetzigen Kriege? Waren es die Buren den Engländern gegenüber? Wer könnte mit Gewissheit diese Fragen entscheiden? Wer seine Zustimmung zu einem Kriege davon abhängig machen wollte, ob seine Nation angegriffen oder der Angreifer ist, dürfte selten früher als einige Jahre nach Friedensschluss in die Lage kommen, diese Frage präzis entscheiden zu können.

Die Sozialdemokratie kann aber sogar in die Lage kommen, selbst einen Angriffskrieg zu fordern. Im Jahre 1848 hielten Marx und Engels den Angriffskrieg Deutschlands gegen Russland für notwendig. Im Juli 1848 schrieb die „Neue Rheinische Zeitung":

Nur ein Krieg mit Russland ist ein Krieg des revolutionären Deutschlands, ein Krieg, worin es die Sünden der Vergangenheit abwaschen, worin es sich ermannen, worin es seine eigenen Autokraten besiegen kann, worin es, wie es einem die Ketten langer, träger Sklaverei abschüttelnden Volke geziemt, die Propaganda der Zivilisation mit dem Opfer seiner Söhne erkauft und sich nach innen frei macht, indem es sich nach außen befreit..“ („Gesammelte Schriften von Marx und Engels", herausgegeben von Mehring, Band, S. 111.)

Später suchten Marx und Engels auf die öffentliche Meinung Englands zu dem Zwecke einzuwirken, dies Land zu kriegerischem Vorgehen gegen Russland anzustacheln. Der Zarismus erschien ihnen als der gefährlichste Feind der europäischen Freiheit und nur die Gewalt der Waffen eines westeuropäischen Großstaats imstande, ihn unschädlich zu machen. Dürfen wir sie deswegen tadeln? Sicher nicht.

Aber hier handelt es sich um mehr als um ein bloßes Urteil über die Vergangenheit, was ja ziemlich nebensächlich wäre. Es handelt sich vielmehr um eine Frage, die gerade jetzt durch die russische Revolution jeden Augenblick zu einer akuten werden kann. Nehmen wir an, die Revolution siege in Russland und ihre Rückwirkung bringe auch in Frankreich ein proletarisches Regime ans Ruder, veranlasse dagegen eine Koalition der europäischen Monarchen gegen die russische Revolution. Würde da die internationale Sozialdemokratie dagegen protestieren, wenn die französische Republik der russischen zu Hilfe käme? Wir glauben kaum. Dann aber tut sie gut, nicht jeden Krieg von vornherein unter allen Umständen zu verurteilen.

Freilich, solange wir nur mit kapitalistischen Regierungen zu tun haben, wird fast jeder Krieg, den diese anzetteln, den Interessen des Proletariats und den mit diesen übereinstimmenden Interessen der allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklung schädlich und daher vom proletarischen Standpunkt verwerflich sein.

Bei den jüngsten Diskussionen über die Hervésche Propaganda in Frankreich wurde dem Genossen Hervé zwar von manchen Seiten entgegengehalten, wenn es zum Kriege zwischen Frankreich und Deutschland käme, könnte das ein Krieg zwischen Republik und Monarchie werden, in dem mit Frankreich auch die Demokratie bedroht wäre; es wurde sogar das Schreckgespenst heraufbeschworen, das von Deutschland besiegte Frankreich liefe Gefahr, seine nationale Integrität, seine Eigenart, ja seine Sprache zu verlieren. Aber alles das sind leere Phantastereien.

Selbst 1871, als Frankreich wehrlos zu Boden lag, seine Republik die Eierschalen ihres revolutionären Ursprungs noch nicht abgestreift hatte und der republikanische Gedanke noch propagandistische Kraft im Liberalismus aller Länder besaß, hütete sich Bismarck, Frankreich die Monarchie aufzudrängen. Und jetzt sollte irgend ein deutscher Staatsmann daran denken, wo die bürgerliche dritte Republik eine konservative Macht geworden ist, die sich mit dem Erbfeind der Demokratie verbrüdert und die Marseillaise im Reiche des Zaren hoffähig gemacht hat? Wo der Gedanke der bürgerlichen Republik jede propagandistische Kraft verloren hat und die Monarchien sich nur noch von der Sozialdemokratie und nicht vom bürgerlichen Republikanismus bedroht fühlen? Wo Paris das Mekka aller Monarchen geworden ist, dessen bürgerliche Bevölkerung ihnen heute begeisterter zujubelt, als etwa 1867 unter dem Bas-Empire?

Aber ebenso wenig denkt irgend ein deutscher Staatsmann daran, wenn es einmal zu einem Kriege mit Frankreich kommen sollte, als Siegespreis ein Stück des französischen Gebiets in Europa zu fordern. Deutschland leidet noch heute genug daran, dass es kein reiner Nationalstaat ist, dass es an seinen Grenzen Franzosen, Dänen, Polen sitzen hat, die ihm oft schwer im Magen liegen. Eine Vermehrung dieser Elemente bedeutete nur eine Vergrößerung der Verlegenheiten des Deutschen Reiches.

Und ist das deutsche Kaisertum nicht protestantisch? Jedes Stück Frankreichs, das es annektierte, würde aber bloß seine katholische oder, was noch bedenklicher, seine unchristliche Bevölkerung vermehren. Schon der Partikularismus der katholischen Bayern ist dem preußischen protestantischen Kaisertum unbequem genug.

Deutschland hat eine Seite, nach der es sich noch ausdehnen könnte, ohne allzu viel Widerstand zu finden. Die Deutschen in Österreich würden in ihrer Mehrzahl der Annexion an Deutschland freudig zustimmen, die altersschwache Monarchie der Habsburger könnte keinen erheblichen Widerstand leisten. Trotzdem haben die preußischen Staatsmänner den deutschen Irredentismus in Österreich stets abgelehnt, weil es ihnen gefährlich erschiene, die nichtpreußischen, nichtprotestantischen Elemente im Reiche zu vermehren. Wo sollte da ein deutsches Verlangen nach französischem Gebiet aufkommen können!

Nur zwei Ursachen gibt es, die Frankreich heute in einen Krieg verwickeln können: seine Allianz mit Russland und seine Kolonialpolitik.

Und wie in Frankreich, steht es in den übrigen Staaten Europas. Es ist im Moment, wo das zarische Russland zu Boden liegt, kein europäischer Krieg denkbar, der nicht aufs Äußerste ruchlos und verwerflich wäre. Keiner, der nicht die Interessen des Proletariats und der gesellschaftlichen Entwicklung aufs Tiefste schädigte. Keiner, dessen Verhütung es nicht mit allen Erfolg versprechenden Mitteln anzustreben hätte.

Welche Mittel kann es aber dazu anwenden?

Ein sehr wirksames Mittel wäre die Umwandlung der stehenden Heere in Milizheere. Diese Umwandlung macht die Kriegführung nicht unmöglich, macht das Land nicht wehrlos. Wohl ist bei dem heutigen Stande der Kriegskunst oder Kriegswissenschaft eine erfolgreiche Kriegführung nur möglich durch geschulte Soldaten unter der Führung eines wissenschaftlich gebildeten Offizierskorps. Aber es ist ein Unsinn, zu behaupten, dies sei nur durch die Form des stehenden Heeres zu erreichen, nur durch ein Offizierskorps, das eine privilegierte Kaste bildet, nur durch die Loslösung des Soldaten vom Volke, durch die Unterstellung des zu schulenden Wehrmanns unter ein besonderes Militärrecht, das ihn in allen Dingen, innerhalb und außerhalb des Dienstes, zum willenlosen Sklaven desjenigen macht, der ihn im Schießen, Marschieren, Fechten in Verbänden zu unterrichten hat; und dass diese Schulung endlich erfordere, dass die Wehrmänner, die nicht in der Kaserne unter dem Regime des Kadavergehorsams stehen, waffenlos seien.

Das Milizsystem hindert nicht die genügende Schulung des Wehrmanns, ermöglicht es eher, noch mehr Wehrmänner zu schulen als das stehende Heer;. aber es macht es unmöglich, die Armee als blindes Werkzeug der Regierung zu verwenden. Damit ist die Möglichkeit ausgeschlossen, dass die Regierung einen Krieg unternimmt, für den im Volke keine Begeisterung herrscht, und so wird die Kriegsgefahr, wenn auch nicht völlig beseitigt, so doch erheblich reduziert.

Gegen das stehende Heer in jeder Weise, auch bei Budgetabstimmungen, aufzutreten, ist eine der ersten Pflichten jedes sozialistischen Politikers. Wer sich dagegen versündigt, übt Verrat an der Sache des Proletariats.

Indes sind wir noch nicht soweit, dadurch die Durchführung des Milizsystems erzwingen zu können. Es wird einer Revolution bedürfen, um dahin zu gelangen.

Gibt es aber inzwischen kein anderes Mittel, Kriege zu vereiteln? Seit Jahren schon glaubten die Anarchisten, wie sie überhaupt die „direkte Aktion" lieben, einen direkten Weg gefunden zu haben, der sofort zum Ziele führt, und von ihnen haben es die stark anarchistisch durchsetzten Gewerkschafter in Frankreich übernommen, aus deren Reihen wieder Anhänger dieses direkten Weges auch in die sozialistische Partei gelangt sind. Dieser Weg ist einfach die Dienstverweigerung der Soldaten oder wenigstens der Reservisten, wie sie unter anderem Genosse Hervé propagiert, was ja die Veranlassung zur jetzigen Enquete wurde.

In der Tat, das Mittel ist ein sehr einfaches und, wenn durchgeführt, ein unfehlbares. Würde seine Anwendung tatsächlich bewirken, einen Krieg unmöglich zu machen, so könnte man dagegen kaum etwas in jenen Fällen – und es sind 99 von 100 – einwenden, in denen der Krieg dem Volksinteresse verderblich werden muss. Ich sehe keine ethischen Gründe, die vom Standpunkt des proletarischen Patriotismus von vornherein dagegen sprächen.

Aber wird und kann es durchgeführt werden?

Das ist die entscheidende Frage.

Zunächst, soll das Mittel den Krieg unmöglich machen, so darf es nicht einseitig, sondern muss auf beiden Seiten angewandt werden. Kommt es nur auf der einen Seite in Anwendung, so bewirkt es nicht die Verhinderung des Krieges, sondern die Öffnung der Landesgrenze für eine feindliche Invasion, bewirkt also bloß, dass der Krieg für das Land die schlimmste Form annimmt, die er anzunehmen vermag. Das kann aber doch nicht die Aufgabe einer proletarischen Aktion sein. Eine Invasion feindlicher Kriegsheere bedeutet so namenloses Elend für das ganze Land, dass sie von selbst die gesamte Bevölkerung zur Abwehr dagegen aufruft und keine Klasse sich der mächtigen Strömung entziehen kann.

In der Tat. wenn manche Genossen den Unterschied machen zwischen Verteidigungs- und Angriffskrieg und meinen, im ersteren Falle müsse unter allen Umständen jedermann, der dazu imstande, ob verpflichtet ober nicht, gegen den Feind zu Felde ziehen, so haben sie jedenfalls unter dem Verteidigungskrieg die Abwehr einer feindlichen Invasion im Auge gehabt. Doch sind das zwei verschiedene Dinge. Welches immer die Kriegsursache sein mag, jede Nation, die angegriffene wie die angreifende, muss danach trachten, den Kriegsschauplatz vom eigenen Lande fernzuhalten und ins feindliche Land zu verlegen. Ob es dazu kommt, das hängt aber nicht davon ab, wer den Krieg verursacht, sondern davon, wer der Stärkere und Flinkere ist. Notabene, ein Milizheer schließt keineswegs aus, dass der Krieg in Feindesland getragen ist. Im Gegenteil. Es erlaubt, das Heer zahlreicher zu machen und rascher zu mobilisieren – da jeder Wehrmann seine Ausrüstung zur Hand hat – als das System der stehenden Heere mit Reserven, die sich ihre Ausrüstung erst holen müssen.

Man mag den Krieg noch so sehr verurteilen, so kann man doch unmöglich ihn dadurch bekämpfen wollen, dass man die schlimmsten seiner Verheerungen bloß dem eigenen Lande aufhalst. Die Idee des Militärstreiks hat also von vornherein nur dann einen Sinn, wenn sie von beiden Seiten ausgeht. Die einseitige Propaganda des Militärstreiks wäre sinnlos. Wer damit vorgehen will, muss sich zum Mindesten vergewissern, dass in den anderen Nationen eine gleiche Agitation hervorgerufen wird.

Damit sei aber nicht gesagt, dass der zweiseitige Militärstreik besseren Erfolg verheißt.

Sollte dieser Streik wirken, so müsste er ein wahrhafter Massenstreik werden. Ist das zu erwarten? Beim stehenden Heere gibt Hervé die Sache selbst auf. Bleiben die Reservisten. Aber die Bauern werden sicher nicht streiken, ebenso wenig die Kleinbürger, auch nicht die indifferenten Proletarier. Also nur die organisierten Proletarier kommen in Betracht, das heißt jene unter ihnen, die Reservisten sind. Aber glaubt man denn, dass auch nur diese allgemein streiken werden? Ein Streik, dessen Teilnehmer mit dem Tode bestraft werden können! Und das ist nicht der Tod dem man sich, umgeben von der Masse der Kameraden, in der Leidenschaft des Kampfes aussetzt, sondern für den man sich kalten Blutes zu entscheiden hat, im Schoße der Familie! Wäre es nicht unerhörter Optimismus, anzunehmen, dass in irgendeinem Staate 10.000 Mann dieses Heroismus fähig wären? Was sind aber 10.000 Mann für ein modernes Massenheer? Man würde ihre Abwesenheit kaum merken.

Ein jeder Versuch einer massenhaften Fahnenflucht würde sofort im Blute der tapfersten Kämpfer des Proletariats erstickt. Aber es könnte nicht einmal zum bloßen Versuch kommen ohne eine vorhergegangene jahrelange und eindringliche Propaganda der Fahnenflucht. Weiß man aber, was das in den meisten Staaten heißt? Würde die deutsche Sozialdemokratie den Militärstreik auf einem ihrer Kongresse als taktische Waffe anerkennen und dann diesem Beschluss entsprechend propagieren, so wäre dies das beste Mittel, die deutschen Gefängnisse zu überfüllen und die Redaktionen und Organisationen der deutschen Sozialdemokratie hinwegzufegen.

Will man schließlich noch sagen, dass man dieses Risiko um der großen Idee willen auf sich nehmen müsse, die man da verfechte? Aber was würde man erreichen? Ein Martyrium um einer Idee willen, die der Masse der Bevölkerung als ein Verbrechen erschiene, als das Verbrechen, im Kriegsfall das Land der feindlichen Invasion mit allen ihren Schrecknissen zu öffnen.

Ohne die geringste Möglichkeit. einen Krieg wirklich zu verhindern, würde man die schlimmsten Verfolgungen provozieren, bloß um das eine Resultat zu erzielen: die Partei aufs Tiefste zu kompromittieren, ihre propagandistische Kraft völlig zu lähmen. Und dies letztere müsste auch in Ländern eintreten, in denen die Freiheit der Presse und der Rede derartige Agitationen erlaubt. Sie können unsere Sache unter allen Umständen mir schädigen.

Die Idee des Militärstreiks ist also sicher gut gemeint, höchst edelmütig und heroisch, aber eine heroische Torheit. Er ist heroischer, aber nicht weniger Torheit als die Versuche der bürgerlichen Friedensschwärmer, durch Schiedsgerichte die Kriege aus der Welt zu schaffen.

Die eine wie die andere Torheit beruhen auf dem Fehler, dass der Krieg als ein isoliertes Faktum aufgefasst wird. Dem gegenüber müssen wir uns immer wieder erinnern, dass er nur die Fortsetzung der Politik mit gewaltsamen Mitteln ist. Solange wir nicht die Kraft haben, die Politik zu hindern, die zum Kriege führt, so lange haben wir auch nicht die Kraft, den Krieg zu hindern. Haben wir aber einmal das Vermögen, diese Politik zu hindern, dann müssen wir es aufwenden, ehe sie so weit geführt hat, dass der Krieg in drohende Nähe gerückt ist. Nur auf diese Weise lassen sich Kriege vermeiden. Alle Bestrebungen, dem Kriege im Gegensatz zu den Regierungen erst dann entgegenzuwirken, wenn er zur greifbaren Tatsache zu werden droht, sind zum Scheitern verurteilt.

In dieser vorbeugenden Weise ist aber unsere Partei in allen Ländern und seit langem tätig. Nur unter außergewöhnlich günstigen Umständen, die sich nicht voraussehen lassen, dürfte es ihr möglich sein, durch eine vereinzelte heroische Kraftäußerung einen Krieg zu vereiteln, der schon proklamiert ist; überall aber wirkt sie ununterbrochen dahin, die Bande der Internationalität zu stärken und die Verhetzung der Nationen zu paralysieren. Durch ihre prinzipielle Bekämpfung der modernen Schutzzöllnerei und Kolonialpolitik und durch den Nachweis, dass diese nicht den Interessen des Proletariats oder der Gesamtheit der Gesellschaft, sondern nur denen einzelner privilegierter Schichten im Staate zum Schaden von Proletariat und Gesellschaft dienen, dass die Völker nicht den mindesten Grund haben, sich wegen Zöllen und Kolonien in die Haare zu geraten; durch diese Propaganda hat sie es verhindert, dass Kolonialkriege und Zollkriege populär werden, hat sie es den Regierungen unmöglich gemacht, große Volksbewegungen für ihre völkerverhetzenden Absichten zu entfesseln

Das stärkste Hindernis eines europäischen Krieges bilden aber die sozialistischen Parteien der verschiedenen Länder schon durch die bloße Tatsache ihrer kraftvollen Existenz und ihres revolutionären Programms, wodurch jedes kapitalistische Regime bedroht wird, das infolge einer Katastrophe zusammenbricht. Diejenige Katastrophe, die zum gründlichsten Zusammenbruch führt, ist aber die Niederlage in einem frivolen Kriege.

Das wissen alle Regierungen; sie wissen, dass dort, wo eine starke Sozialdemokratie besteht, eine Niederlage im Kriege für sie weit mehr bedeutet als bloß eine Einbuße an Macht, Geld, vielleicht auch Steuerzahlern, und Prestige: dass sie das Ende alles bürgerlichen Regimentes im Lande bringen kann. Und darum vertragen sie sich immer wieder und vertagen ihre Abrechnungen miteinander.

So wenig wir daher heute noch in der Regel gegen einen Krieg ausrichten können, wo er unmittelbar vor dem Ausbruch steht, so brauchen wir doch nur unsere Pflicht im Alltag zu erfüllen, unserem Programm gemäß zu kämpfen und unsere Kraft zu mehren, um alles für den Weltfrieden zu um. was bei den heutigen Machtverhältnissen für ihn getan werden kann.

Sollte es aber trotzdem zum Kriege kommen, dann freilich ist das Proletariat heute noch kaum irgendwo stark genug, um durch eine Revolution – und der Militärstreik bedeutet eine Revolution, und noch dazu eine vorbereitete, gemachte – vor dem Kriege den Krieg unmöglich zu machen. Aber schon ist es in allen kapitalistischen Staaten stark genug, dass jeder verlustreiche, vergebliche Krieg der Ausgangspunkt werden muss zu einer Revolution, die ein proletarisches Regime begründet und damit die Bahn zu einer Entwicklung eröffnet. die zum ewigen Weltfrieden führt.

1 Vorliegender Artikel wurde für unser französisches Bruderorgan, „La Vie Socialiste“, geschrieben, in Beantwortung einer Aufforderung, die folgendermaßen lautet:

Werter Genosse,

Angesichts der heutigen Situation, wo der Bourgeoisimperialismus den Weltfrieden bedroht, und nach den jüngsten Polemiken in Frankreich, glaubt die „Vie Socialiste“, es sei von Interesse, eine ausgedehnte Enquete über den sozialistischen Internationalismus und seine praktischen Konsequenzen zu eröffnen.

Marx und Engels schrieben vor mehr als einem halben Jahrhundert im „Kommunistischen Manifest":

Die Arbeiter haben kein Vaterland. Man kann ihnen nicht nehmen, was sie nicht haben. Indem das Proletariat zunächst sich die politische Herrschaft erobern, sich zur nationalen Klasse erheben, sich selbst als Nation konstituieren muss, ist es selbst noch national, wenn auch keineswegs im Sinne der Bourgeoisie."

1. Was halten Sie von diesem Satze und wie fassen Sie ihn auf, lassen sich Patriotismus und Internationalismus miteinander vereinbaren?

2. Welche praktische Haltung, welche Form der internationalen Propaganda bedingt er für die Sozialisten angesichts des Militarismus, der Kolonialpolitik, ihrer Ursachen und ihrer ökonomischen Rückwirkungen?

3. Welche Rolle haben die Sozialisten in den internationalen Beziehungen (Schutzzöllen, Arbeitsschutz usw.) zu spielen?

4. Welche Pflichten haben die Sozialisten im Falle eines Krieges?

Wir hoffen, werter Genosse, dass Sie uns Ihre persönliche Ansicht mitteilen werden, wie sie aus der Situation der sozialistischen Partei Ihres Landes entspringt usw.

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