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Neue Zeit 19051206 Notizen

Neue Zeit: Notizen

[Nach „Die Neue Zeit: Wochenschrift der deutschen Sozialdemokratie.“ - 24.1905-1906, 1. Band (1905-1906), Heft 11 (6. Dezember 1905), S. 374-376]

Zur Frage der Herausgabe des Marxnachlasses. Genosse Bernstein schreibt. uns darüber:

Kautsky bestreitet die Richtigkeit meiner Darstellung in Sachen der Verfügungen, die Friedrich Engels über die Herausgabe der Manuskripte von Karl Marx für den Fall traf, dass er – Engels – durch vorzeitigen Tod verhindert werden sollte, selbst die Herausgabe zu besorgen. Es stehen sich folgende Behauptungen gegenüber. Ich habe erklärt. dass Friedrich Engels im Januar 1889, nachdem er mit Eleanor Marx, meiner Frau und mir den Plan durchgesprochen, Kautsky und mich zum Zweck der eventuellen Herausgabe des vierten Bandes „Kapital" und sonstiger Marxscher Manuskripte in die Marxsche Handschrift einzuarbeiten, dies Kautsky, der damals von London verzogen war, brieflich mitteilte. Nachträglich will ich hinzufügen dass Engels mir den betreffenden Brief, bevor er ihn absandte, vorlas. Kautsky behauptet dagegen, dass Engels ihn schon 1887, als er noch in London lebte, in die Handschrift eingearbeitet und zum präsumtiven Herausgeber bestimmt habe. Es wäre doch widersinnig gewesen, schreibt er, „mich, den Abwesenden, in die Entzifferung des Marx-Manuskripts einzuarbeiten, eine Aufgabe, die brieflich fast unmöglich zu lösen war, statt Bernstein dazu heranzuziehen, den er mehrere Mal in der Woche sah".

Hierzu sei zunächst bemerkt, dass, als Engels Kautsky im Januar 1889 den erwähnten Vorschlag machte, er dabei von der Voraussetzung ausging, dass Kautsky wieder London zum Wohnort wählen würde. Ich kann auf das Bestimmteste erklären, dass dies nicht nur die Voraussetzung, sondern zugleich auch unter einem, hier gleichgültigen Gesichtspunkt der Zweck des Vorschlags war. Bald darauf traten jedoch Umstände ein, die Kautskys Übersiedlung nach London unmöglich machten; nichtsdestoweniger beschloss Engels, und zwar wieder nach Besprechung mit mir, Kautsky die ihm nun einmal zugesagte Arbeit zu belassen, und Kautsky kam behufs Übernahme des Manuskripts besuchsweise nach London.

Ist Kautskys Darstellung richtig. so war ein Briefwechsel zwischen Engels und ihm darüber, wer den Marx-Nachlass eventuell herausgeben solle, überflüssig. Stimmt dagegen meine Darstellung, so muss ein solcher Briefwechsel stattgefunden haben. Nun liegt vor mir ein Schriftstück, in dem es heißt:

Vielleicht wäre es gut, ein Stück aus dem Brief von Engels zu zitieren, in dem er erklärt, Du und ich seien die einzigen, die den vierten Band herausgeben könnten. – Bist Du auch der Ansicht, dass es gut wäre, auf diesen Brief hinzuweisen dann usw. usw." So in einem Brief Kautskys an mich vom 13. Oktober 1896.

Damit könnte ich es für diesmal eigentlich genug sein lassen. Ich will indes dem Gedächtnis Kautskys noch etwas weiter aufhelfen. Wie er es darstellt, sei nach Engels Tode von einer Beteiligung meiner Person an der Herausgabe des Marxschen Nachlasses und insbesondere des Manuskripts zum vierten Band „Kapital" nie die Rede gewesen. Da er meine, auf Erinnerung beruhenden Aussagen für unglaubwürdig hinstellt. muss ich wiederum Schriftstücke als Zeugen anrufen. In einem an mich gerichteten Brief, der das Datum des 21. November 1895 trägt, heißt es:

Bleibt noch der vierte Band des ,Kapital' – Ich denke mir's folgendermaßen: Ich schreibe das Manuskript ins Leserliche, übergebe Dir die Abschrift zur Durchsicht und eventuellen Vergleichung mit dem Original – wenn wir beisammen säßen, läse ich es Dir einfach vor oder Du mir, einer diktierte es dem andern –, und dann redigieren wir die Sache zusammen. Meinst Du nicht auch?"

Der Verfasser dieses, drei Monate nach Engels' Tode geschriebenen Briefes heißt – Karl Kautsky.

Mit dieser Darstellung werde ich die Kontroverse wohl schließen können. Die ethischen oder sonstigen „Kapriolen" dazu zu machen, überlasse ich meinem Widersacher.

Schöneberg-Berlin, 29. November 1905.

Ed. Bernstein

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Bernstein irrt, wenn er meint, dass seine Feststellungen mich auch diesmal wieder belustigen. Nein, sie fangen an, mich zu langweilen, weil sie immer wieder dasselbe wiederholen. Er zitiert zwei Briefe von mir, die aber nur bestätigen, was ich selbst schon in Nr. 5 der „Neuen Zeit" erklärt. Schon dort wies ich darauf hin, dass Engels einmal zu mir bemerkt, Bernstein und ich seien die einzigen, die den sogenannten vierten Band des „Kapital" herausgeben könnten. Die Stelle aus meinem Briefe vom 13. Oktober 1896 zeigt bloß, dass er das auch einmal brieflich wiederholte. Ebenso hatte ich schon in Nr. 5 darauf hingewiesen, dass ich „selbst mit dem Gedanken umging, die Mithilfe Bernsteins (zur Herausgabe des vierten Bandes) zu gewinnen", und mein Brief vom 21. November 1895 bestätigt das.

Aber das alles beweist doch nicht, dass Engels Bernstein zum Mitherausgeber des Marxschen Manuskriptes bestimmt und die Marxschen Erben und ich davon gewusst und dem entgegen gehandelt hatten. Das aber war Bernsteins Behauptung, und nur diese besaß wenigstens eine Spur von allgemeinem Interesse. Alles andere ist völlig unerheblich. Wie man nun immer über Bernsteins Ausführungen denken mag, Tatsache ist, und das bestreitet er selbst nicht, dass ich und nicht er von Engels in das Marxsche Manuskript eingeweiht wurde, dass ich und nicht er schon bei Engels Lebzeiten an ihm arbeitete. Wenn Bernstein meiner positiven Versicherung nicht glauben will, dass diese Arbeit schon 1897 eingeleitet und begonnen wurde, so mag er es eben bleiben lassen. Das ist mir sehr gleichgültig und unseren Lesern wohl auch.

Eben, wie ich diese Zeilen in Druck geben will, teilt mir Frau Lafargue einen Brief mit, den ihr Engels am 17. Dezember 1894 schrieb und in dem es unter anderem heißt (aus dem Englischen übersetzt):

Und nun zum vierten Band. Von dem existiert ein sehr unfertiges (rough) Manuskript, und ich vermag noch nicht zu sagen, wie viel davon brauchbar ist. Ich selbst kann es nicht wieder unternehmen, es zu entwirren (unravel) und das Ganze zu diktieren, wie ich es mit dem zweiten und dritten Bande tat. … Ich dachte, es sei nützlich, ein oder zwei intelligente Leute der jüngeren Generation in die Marxsche Handschrift einzuweihen. Ich dachte an Kautsky und Bernstein. Kautsky war damals noch in London (es ist sechs oder sieben Jahre her). Ich forderte ihn auf und er sagte zu. … Er begann mit der Arbeit und nahm ein Heft mit sich, als er London verließ."

Damit ist die Bernsteinsche Erzählung wohl endgültig widerlegt, als hätte Engels erst nach meiner Abreise von London, die 1888 erfolgte, den Plan gefasst, mich in das Marxsche Manuskript einzuarbeiten und mir erst nach Befragung Bernsteins von dieser Absicht Mitteilung gemacht.

Aber auch wenn Bernstein nicht zu überzeugen sein sollte, dass ihn sein Gedächtnis getrogen, denke ich doch, die Diskussion für die „Neue Zeit" abschließen zu können. Will man meine Herausgeberschaft diskutieren, dann ist die Frage, wie Engels über den eventuellen Herausgeber der „Theorien vom Mehrwert" gedacht, jedenfalls ganz nebensächlich gegenüber der Frage, ob und wie der einmal bestellte Herausgeber seiner Aufgabe gerecht geworden ist.

K. Kautsky

Genosse Stampfer schickt uns folgendes „zur persönlichen Richtigstellung": In meinem Artikel „Richtung und Partei" (Nr. 9 der „Neuen Zeit“) habe ich ausgesprochen, dass ich alle Richtungstreiberei in der Partei verurteile und für parteischädlich halte. Ich habe ferner in diesem Artikel ausgesprochen, dass ich als Sozialdemokrat selbstverständlich „radikal" und „marxistisch" bin, aber eben dieser Selbstverständlichkeit wegen die Ungehörigkeit irgend einer Sondergruppierung, „die über jeden, der außerhalb ihres Kreises steht, herfällt", ablehne.

Trotzdem bringt es Genosse Kautsky in seiner Antwort „Eine Nachlese zum Vorwärtskonflikt" (Nr. 10 der „Neuen Zeit") fertig, mich einer Richtung zuzuzählen. Er erklärt mich für einen Revisionisten vierter Klasse, einen „Unausgesprochenen".

Was ich über einzelne Parteifragen denke, das habe ich jederzeit offen ausgesprochen, wie ich es für meine parteigenössische Pflicht halte, und habe dafür nicht immer Rosen geerntet. Ich protestiere darum nachdrücklich dagegen, dass mich Genosse Kautsky gegen mein entschiedenes und deutliches Bekenntnis mit Gewalt in eine Richtung einschachteln will.

Für die Meinung, die ich habe, will ich mich gerne hängen lassen. Wenn ich aber für Meinungen, die ich nicht habe und nicht billige, die ich ablehne und bekämpfe, gehangen werden sollte, bloß weil der Genosse Kautsky meint, ich hätte sie am Ende doch, so würde ich ein solches Verfahren ein wenig hart finden.

Friedrich Stampfer.

Wenn Genosse Stampfer sich für einen „radikalen Marxisten" hält, so ist das selbstverständlich sein unveräußerliches Menschenrecht. Jedoch nicht jeder ist das, als was er sich selbst vorkommt. Selbstporträts sind in der Regel geschmeichelt. Die Haltung aber, die Genosse Stampfer in den Parteikonflikten der letzten Jahre eingenommen, ähnelt der der unausgesprochenen Revisionisten wie ein Ei dem anderen. Das braucht indes seine Seelenruhe nicht zu stören. Der Großinquisitor der deutschen Sozialdemokratie hat noch niemanden seiner Meinungen wegen gehenkt. Sein Henkeramt bestand bloß darin, manche Meinungen tiefer zu hängen.

K. Kautsky.

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