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Karl Kautsky 19051129 Eine Nachlese zum Vorwärtskonflikt

Karl Kautsky: Eine Nachlese zum Vorwärtskonflikt

[Nach „Die Neue Zeit: Wochenschrift der deutschen Sozialdemokratie.“ - 24.1905-1906, 1. Band (1905-1906), Heft 10 (29. November 1905), S. 313-326]

1. Was ist der Revisionismus

Die Polemik in der Parteipresse über den Redaktionswechsel im „Vorwärts" hat so ziemlich aufgehört, und es ist mit Freuden zu begrüßen, wenn unsere Kampfblätter sich anderen Gegenständen zuwenden. Die „Neue Zeit" aber ist ein Organ der Kritik und der Diskussion, und da sind, im Anschluss an den Artikel des Genossen Stampfer, wohl noch einige Bemerkungen kritischer Nachlese am Platze.

Genosse Stampfer dekretiert in seinem Artikel über „Richtung und Partei", dass es in unserer Partei keine verschiedenen Richtungen geben dürfe, und schließt daraus, dass es auch keine gibt. Was als solche erscheint, sei nur die Erfindung einer kleinen Gruppe von „Obendreinmarxisten", die das Bedürfnis haben, sich wichtig zu machen. In Wirklichkeit sind wir alle bloß Sozialdemokraten und Marxisten in dem Sinne, dass wir Karl Marx als unseren „größten, richtunggebenden Lehrmeister" anerkennen.

Das klingt sehr sozialdemokratisch und marxistisch und ist doch sehr nichtssagend. Der Inhalt unseres Programms, unserer Taktik, unseres ganzen Wirkens wird da auf den Kultus einer Persönlichkeit reduziert, der zu sehr wenig verpflichtet. Marx als Theoretiker wird heute in der sozialistischen Welt allgemein anerkannt, aber leider noch nicht allgemein begriffen. Diese allgemeine Anerkennung führt dazu, dass jede Richtung in unseren Reihen das Bedürfnis empflndet, sich auf Marx zu berufen, so dass die Kämpfe dieser Richtungen untereinander die Form von Kämpfen über die Auslegung der Marxschen Worte annehmen, die den oberflächlichen Beschauer oft sehr sonderbar anmuten, der nicht ahnt, dass hinter den anscheinenden Tüfteleien über einzelne Worte sehr materielle Differenzen stecken.

Blicken wir zum Beispiel auf Frankreich und Italien. Niemand wird leugnen wollen, dass der „Syndikalismus", die eigenartige Form revolutionärer, antiparlamentarischer Nurgewerkschaftlerei der direkten Aktion und des Generalstreiks, dort eine besondere Richtung in der Sozialdemokratie bildet. Diese Richtung beruft sich aber uns gegenüber auf Marx, behauptet, wir verstünden Marx nicht, sie seien die wahren Marxisten.

Andererseits repräsentierte Domela Nieuwenhuis, als er anfing, sich von unserer Richtung loszulösen, ebenfalls eine besondere Richtung in der Sozialdemokratie. Aber auch die wurde verteidigt durch den Hinweis auf Marx, als dessen einzig richtigen Interpreten sich Domela hinstellte, der behauptete, selbst Engels habe Marx missverstanden.

Oder um nach Deutschland zu gehen und neuere Beispiele heranzuziehen, so wird kaum jemand behaupten wollen, dass Bernstein und ich die gleiche Richtung vertreten, weil wir beide Sozialdemokraten sind, oder dass der Gegensatz zwischen uns eine bloße Erfindung von mir sei. Aber Bernstein stützt sich auch auf Marx und behauptet, der bessere Marxist zu sein. Denn Marx habe zwei Seiten, eine sterbliche und eine unsterbliche. Diese vertrete er, einen von allen Flecken gereinigten Marxismus, während ich in meiner Blindheit mich gerade an das Vergängliche in Marx klammere, gerade seine Flecken hochhalte.

Und jüngst erst wieder in seinen Artikeln über „Wenn und Aber" führte ein ähnliches Spiel Kurt Eisner mir gegenüber aus, indem er erklärte, er vertrete den wahren Marxismus, indes der meine ein falscher, ein versteinerter Marxismus sei. Denn ich lehre das, was Marx vor einem halben Jahrhundert gelehrt, während der Eisnersche Marxismus in vollem Gegensatz dazu der Marxismus von heute sei, ein Marxismus, wie ihn Marx nie gelehrt, aber wie er ihn heute lehren würde, wenn er noch lebte und alles das wüsste, was Eisner seitdem erfahren.

Ja sogar Professor Sombart erkennt Marx als „größten, richtunggebenden Lehrmeister" an, in einem ähnlichen Sinne wie Bernstein und Eisner, nur mit etwas mehr ökonomischem Verständnis. Und dabei ist er nichts weniger als ein Sozialdemokrat.

Man sieht, die bloße Berufung auf Marx als Lehrmeister sagt noch sehr wenig und hindert durchaus nicht das Bestehen der verschiedensten Richtungen nebeneinander.

Sollten Genosse Stampfer alle diese Tatsachen unbekannt sein? Man könnte wirklich annehmen, er habe das letzte Jahrzehnt verschlafen und sei jetzt plötzlich erwacht, ein sozialdemokratischer Rip van Winkle, um verwundert zu fragen: „Revisionismus, was ist das? Davon habe ich noch nie gehört." Träume davon scheint er allerdings gehabt zu haben, aber in sehr verworrener Weise, denn er erzählt, die kleine Gruppe der Obendreinmarxisten „zog aus, um den Revisionismus. zu bekämpfen, vergaß aber dabei eine Kleinigkeit – nämlich, sich zu fragen, was Revisionismus sei?"

Da müssen wir unseren Rip van Winkle doch dahin aufklären, dass nicht wir Obendreinmarxisten es waren, die auszogen, den Revisionismus zu bekämpfen, sondern umgekehrt, die Revisionisten waren es, die auszogen, unser Programm und unsere Taktik für verkehrt und veraltet zu erklären und deren Umwandlung, deren Revision zu fordern – daher ihr Name. Ich möchte Stampfer sehr raten, das Protokoll von Stuttgart nachzulesen mit der Bernsteinschen Erklärung, dass das Kommunistische Manifest in seiner Erwartung der Verschärfung der Klassengegensätze geirrt habe und das Rechnen mit politischen Katastrophen aus unserer Taktik auszuschalten sei. Und wenn er dann die Publikationen Bernsteins und Davids und des letzteren Rede in Hannover nachliest, wird er es noch deutlicher ausgesprochen finden, dass diese Genossen es waren, die auszogen, um die Marxschen Theorien der Verschärfung der Klassengegensätze, der Konzentration des Kapitals, der Krisen, der Eroberung der politischen Macht, wesentliche Punkte unseres Programms und unserer Taktik, für falsch zu erklären und zu behaupten, es sei möglich, schon auf dem Boden der heutigen Gesellschaft ein Stück Sozialismus zu verwirklichen. Und sie verkündigten das unter großem Beifall zahlreicher Genossen. Damals wehrten sich die Revisionisten nicht dagegen, eine besondere Richtung innerhalb der Sozialdemokratie darzustellen. Sie waren vielmehr stolz darauf, denn sie rechneten damit, dass ihre Richtung bald zur herrschenden in der Partei werde.

Und erst recht stieg der Jubel im Lager der Revisionisten, als ein bürgerliches Ministerium in Frankreich einen sozialistischen Minister in seinem Schoße ausnahm. Die Frage des Ministerialismus brachte einen tiefen Riss in die ganze internationale Sozialdemokratie, einen Riss, der in Frankreich selbst so stark wurde, dass er die Partei spaltete. Auch da waren die Revisionisten die Angreifer, die erklärten, die „neue Methode" des Zusammengehens mit der radikalen bürgerlichen Demokratie und des Zusammenregierens mit ihr sei der einzig mögliche Weg für die Partei, zu politischer Macht zu kommen. Unsere bisherige Taktik sei unsinnig, die danach ging, die Alleinherrschaft, die Diktatur des Proletariats aus eigener Kraft erobern zu wollen.

Auch wir in Deutschland hatten zahlreiche Millerandisten, die bloß die Blindheit des herrschenden deutschen Regimes bedauerten, das so gar nicht begreifen wollte, wie nützlich für alle Beteiligten ein Sozialist in einem bürgerlichen Ministerium sei.

Der „Vorwärts" machte damals ebenfalls nach Kräften für den Ministerialismus Propaganda. Auch in der „Neuen Zeit" (Nr. 42 vom Juli 1901) veröffentlichte Eisner einen Artikel über „Parlamentarismus und Ministerialismus", in dem er nachzuweisen suchte, dass unsere Teilnahme an bürgerlichen Ministerien ebenso notwendig sei wie unsere Teilnahme am Parlamentarismus, und dass der Minisierialismus die unvermeidliche Konsequenz des Parlamentarismus wenigstens in parlamentarisch-demokratischen Staaten bilde.

Der Kuriosität wegen seien hier ein paar Stellen aus dem Artikel zitiert. Eisner leugnete die Einheitlichkeit eines Ministeriums – sie schien ihm ebensowenig notwendig wie die einer Redaktion.

So meinte er:

Dasselbe Ministerium, das nach China geht, den Militarismus propagiert und Freundschaft mit dem Absolutismus unterhält, kann die nützlichsten Rechte und Schutzreformen für das Proletariat gewähren. Da die verschiedenen Geschäfte der kapitalistischen Ordnung keine geschlossene, sachliche Einheit bilden, so stellt auch ein kapitalistisches Ministerium keine sachliche Einheit dar" (S. 487).

Eisner ahnte damals also gar nicht, dass der Drang nach kolonialen Eroberungen, Flotten- und Heeresvergrößerungen sowie nach Stärkung des Absolutismus einerseits und nach stärkster Ausbeutung des Proletariats andererseits eine unzertrennliche Einheit bilden, dass sie alle denselben Klasseninteressen der großen Bourgeoisie, des Scharfmachertums, entspringen, dass man das eine nicht fördern kann, ohne das andere zu fördern. Er hielt es für möglich, dass dasselbe Ministerium gleichzeitig die kapitalistischen und die proletarischen Interessen wahrt, und er fand nichts dagegen einzuwenden, dass ein Sozialist an einem Ministerium mitwirke, welches an dem Hunnenfeldzug teilnahm und dem Zarentum durch seine finanzielle Unterstützung das Leben verlängerte. Bezeichnend sind noch folgende Sätze im Schlusse des Artikels: „Ist dermaßen in wahrhaft konstitutionellen Staaten der sozialistische Ministerialismus nichts als ein Ausläufer und eine Konsequenz des sozialdemokratischen Gegenwartsprogramms mit seiner parlamentarischen Gegenwartsarbeit, steht es mit dem Ministerialismus nicht anders als mit dem Parlamentarismus, so sollte man doch weder seine Kraft in der Erreichung dieses Zieles erschöpfen, noch diesen Triumph des sozialistischen Machtzuwachses überschätzen. Der Eintritt eines Sozialisten in ein bürgerliches Ministerium stellt keine Eroberung der politischen Macht dar, auch keine teitweise. Die Erwerbung eines Ministerportefeuilles ist nur graduell verschieben von der Erlangung eines parlamentarischen Mandats. Auch ein durchweg sozialistisches Ministerium stellt noch keine Eroberung der politischen Macht dar, wenn es die Laune eines Monarchen oder, in parlamentarischen Staaten, der Zufall einer augenblicklichen Parteikonstellation beruft"

(S. 491).

Dieser Schluss soll offenbar radikal sein, bezeugt aber nur eine geradezu unglaubliche politische Naivetät. Wo wäre ein ernsthafter Politiker zu finden, der es für möglich hielte, dass ein „durchweg sozialistisches Ministerium" durch die „Laune eines Monarchen" oder den „Zufall einer augenblicklichen Parteikonstellation" geschaffen werde? Was mag sich Eisner bei diesem Satze wohl gedacht haben, der die kühnsten Utopien der Naumänner weit hinter sich lässt!

Als Eisner diesen Artikel schrieb, waren theoretischer Revisionismus und Ministerialismus auf ihrem Höhepunkt angelangt. Von nun an ging es rasch mit ihnen bergab, denn sie standen in zu schroffem Widerspruch mit den Tatsachen. Die Massen, die eine Zeitlang unserem Kampfe mit dem Revisionismus zugesehen, ohne recht zu wissen, auf welcher Seite die Wahrheit, wendeten sich nun immer entschiedener gegen den theoretischen und politischen Revisionismus, und sein Bankrott wurde immer offenbarer.

Aber gleichzeitig erstand eine neue Art von Revisionismus, der gewerkschaftliche, der in einem Teil der gewerkschaftlichen Bürokratie seine Stütze fand. Dieser Revisionismus predigte unter der Flagge der Neutralität ein Abrücken von der Sozialdemokratie. Er betrachtete diese nicht als die Arbeiterpartei, sondern als eine Partei wie jede andere. Nicht als die Partei, die das Proletariat vereinigt, sondern als eine von den vielen Parteien, in die das Proletariat sich spaltet. Die Sozialdemokratie wurde als ein die organisatorische Vereinigung des Proletariats hemmender Faktor angesehen. Wollte man die ultramontanen, konservativen und liberalen Arbeiter mit den sozialdemokratischen in einer Gewerkschaft vereinigen, so sollte das nicht dadurch geschehen, dass man jenen die Nützlichkeit und Notwendigkeit der Sozialdemokratie begreiflich machte, sondern dadurch, dass die Gewerkschaft auf allen sozialdemokratischen Geist verzichtete, aufsdem sie geboren worden.

Neben diesen drei Arten des Revisionismus, dem theoretischen, politischen und gewerkschaftlichen, finden wir aber noch eine vierte, die man den stillen Revisionismus nennen könnte, oder vielleicht besser noch, da manche seiner Anhänger sehr laut sind, den unausgesprochenen. Er besteht aus Genossen, die nicht die bestimmte Absicht haben, die proletarische Bewegung umzuformen, ihr neue Grundlagen zu geben oder neue Wege zu weisen, die sich aber in der Partei, wie sie ist, nicht recht behaglich fühlen, sich in das proletarische Fühlen und Denken nicht hineinfinden können oder durch die proletarische Disziplin beengt werden. In ihren Anschauungen den ausgesprochenen Revisionisten meistens nahestehend, fühlen sie sich vor allem dadurch mit ihnen verwandt, dass diese, daran verzweifelnd, die Majorität in der Partei zu erobern, nur noch dadurch glauben sich behaupten zu können, dass sie für Vergrößerung der „Meinungsfreiheit" in der Partei eintreten, das heißt nach möglichster Unabhängigskeit der Vertrauensleute – Abgeordnete, Redakteure und dergleichen – von der Partei, und nach möglichster Unabhängigkeit der einzelnen lokalen Organisationen von der Gesamtorganisation hinstreben. In diesem Streben finden sich schließlich alle vier Arten von Revisionismus, jede von ihnen begünstigt aber auch sonst die anderen Unterarten ihrer Richtung, wo sie kann.

So ist es richtig, dass der Revisionismus, genau genommen, keine einheitliche, geschlossene Richtung bildet, sondern ein Konglomerat verschiedener Richtungen. Was man bei uns als Revisionismus im engeren Sinne versteht, den theoretischen Revisionismus der Bernstein und David, das ist heute den meisten praktischen Revisionisten Hekuba geworden, den geben sie leichten Herzens preis, weil ihnen die Theorie überhaupt etwas Gleichgültiges oder gar Lästiges ist.

Aber trotz aller Unterschiede in ihren eigenen Reihen bilden sie doch einen bestimmten Personenkreis, der sich immer wieder zusammenfindet in seinen Sympathien für Fremdkörper in unserer Partei, in der Verfechtung bestimmter föderalistischer oder liberalisierender Tendenzen, und der immer wieder zusammensteht gegen den ihnen gemeinsamen Feind, das ist gegen die Verfechter des bisherigen Charakters der Partei, der bisherigen Auffassung des Marxismus. Am schroffsten trat der Gegensatz zwischen beiden Tendenzen dort zutage, wo sie gezwungen wurden, tagaus tagein zusammenzuarbeiten, wie in der Redaktion des „Vorwärts".

Der Bankrott des theoretischen und des politischen Revisionismus hat den Gegensatz beider Richtungen oder, wenn man lieber will, Tendenzen nicht gemindert, sondern nur dazu beigetragen, ihm einen unangenehmeren Charakter zu geben. Die ausgesprochenen Revisionisten fühlen sich persönlich gekränkt durch ihre Gegner. Die stillen Revisionisten aber, die weder das Verständnis noch das Interesse an einer sachlichen Verfechtung revisionistischer Grundsätze besitzen, an einer Verfechtung, die aussichtslos geworden ist, suchen um so mehr ihren und ihrer Freunde Zwecken zu dienen durch persönliche Bekämpfung der Gegner des Revisionismus. An Stelle sachlicher Kritik setzten sie persönliche Diskreditierung. Nicht mehr um den Kampf zweier sachlich unterschiedenen Richtungen soll sich's handeln, nein, sondern um den Kampf zwischen höherer und niederer Intelligenz, Begabung, Moral, wie die Sechs bescheiden versichern und wie der „Vorwärts" in den letzten Jahren nicht müde wurde auszuführen.

Alle nur irgendwie dazu verwendbaren Vorkommnisse wurden für diesen edlen Zweck entsprechend zugestutzt. Auf dem Dresdener Parteitag gab es einige wüste Szenen: flugs wurden diese zum wichtigsten Inhalt des ganzen Parteitags gestempelt und in einer Weise behandelt, als seien sie das notwendige Endergebnis jeder Auseinandersetzung der Marxisten mit den Revisionisten, wobei sorgfältig verschwiegen wurde, dass es gerade die Freunde der leitenden Köpfe des „Vorwärts" waren, die diese Szenen herbeigeführt hatten. Die Dresdener Resolution selbst aber wurde in unserem Zentralorgan möglichst diskreditiert. Freilich sie sachlich abzulehnen, wagte man nicht. Man tadelte sie vielmehr, weil sie eine Selbstverständlichkeit ausspreche. Man verschwieg den Genossen, welch große Bedeutung diese „Selbstverständlichkeit" hatte; dass die große Masse des Volkes, ja dass die ganze Welt, soweit sie sich um die deutsche Politik kümmert, auf das Gespannteste den Verhandlungen von Dresden entgegengesehen hatte, weil sich's dort entscheiden musste, ob die deutsche Sozialdemokratie nach ihrem ungeheuren Wahlsiege sich wandeln werde oder nicht. Wenn jemals eine Änderung unserer Partei in revisionistischem Sinne hätte möglich sein können, so war es damals der Fall. Dass sie nicht eintrat, dass die Sozialdemokratie erklärte, zu bleiben, was sie ist, das galt so wenig als selbstverständlich, dass es vielmehr die grimmigste Wut der gesamten bürgerlichen Welt entfesselte. Man musste ein geärgerter Revisionist sein, der es nicht wagte, seinem Ärger frei Ausdruck zu geben. wenn man, wie der „Vorwärts", diese historische Bedeutung der Dresdener Resolution nicht sah und über letztere spöttelte, weil sie etwas sage, was alle Welt wisse.

Als aber ein Jahr später die Dresdener Resolution dem Amsterdamer Kongress vorlag, da erschien sie den deutschen Revisionisten aus ganz anderen Gründen fehlerhaft als in Dresden selbst. Ihre Sätze, die eben noch eine Selbstverständlichkeit für jeden Sozialdemokraten gebildet, wurden nun als Maximen hingestellt, die nur für die besonderen Verhältnisse Deutschlands anwendbar seien und keine internationale Geltung beanspruchen könnten. Und als die Resolution trotzdem angenommen worden, da brachten es dieselben Leute fertig, den Amsterdamer Beschluss dadurch zu verhöhnen, dass sie die Majorität dafür aus die des Japaners Katayama reduzierten und erklärten, alle großen sozialistischen Parteien hätten dagegen gestimmt. Die selbstverständliche Pflicht jedes Sozialdemokraten, dafür zu stimmen, war völlig vergessen.

Das Verkleinern und Diskreditieren unserer Erfolge und Fortschritte, das war die neue Methode der Revisionisten, die nun an Stelle der offenen Verfechtung des Revisionismus gesetzt wurde.

Solange dieser im Aufsteigen begriffen gewesen, hatte man jede seiner Kritiken an Programm und Taktik als eine große Geistestat gepriesen, als eine Befreiung von überkommenen Dogmen. Seitdem es mit dem Revisionismus bergab ging, wurde jede sachliche Diskussion in der Partei zu einem frivolen Literatenkrakeel gestempelt. Es war reiner Zufall, dass die vor Bremen sich abspielende Diskussion mit Schippel diesem Schicksal entging. Wetzker erboste sich diesmal gegen Schippel und verschob dadurch die Majorität im „Vorwärts". Wäre es auf Eisner angekommen, dann war ich es, der damals wegen Störung des Parteifriedens im „Vorwärts" verdonnert wurde und nicht Schippel.

Wo aber Revisionisten als Kritiker gegen die Partei auftraten, da wurden alle Gegensätze möglichst vertuscht. So noch in diesem Jahre nach dem Kölner Gewerkschaftskongress.

2. Unsere Blamage in Jena

Ehe ich diesen Gegenstand verlasse, sei mir eine Abschweifung erlaubt, um ein Histörchen richtigzustellen, das seit Jena immer wieder durch die Blätter geht und das, obwohl es in der „Leipziger Volkszeitung" schon berichtigt worden, von den Sechs in ihrem Briefwechsel mit dem Parteivorstand wieder aufgewärmt wird, den sie eben bei der „Münchener Post" im Druck erscheinen lassen. Neben diesem Histörchen wird dort noch ein anderes mitgeteilt über die zerschmetternde Niederlage, die meine Auffassung vom Massenstreik in Jena erlitten hätte, wo ich gar nicht einmal den Mut fand, öffentlich meinen eigenen Standpunkt zu verteidigen! Eine Richtigstellung dieser Räubergeschichte kann ich wohl meinen Lesern und mir ersparen. Eine offenbarere Aufschneiderei hat es ja noch nie gegeben. Von den Differenzen über den Massenstreik zwischen dem „Vorwärts" und mir ist in Jena im Plenum von niemand mit einem Wort gesprochen worden. Auch in der Resolution Bebel steht keine Silbe davon. Ich hatte keinen Grund vor der Öffentlichkeit diese Streitfrage anzuschneiden, die wir in der Kommission behandelt. Will Eisner behaupten, dass ich dort darüber geschwiegen?

Eingehender als diese Falstaffiade muss ich aber das Folgende behandeln, weil hier die Aufschneiderei nicht so deutlich erkennbar und Wahres mit Falschem gemischt ist.

Es handelt sich um die Geschichte, die schon die „Berliner Volkszeitung" erzählte, die Ströbel und ich dann sofort richtigstellen wollten. Aber der Parteivorstand legte uns damals unter Zustimmung Eisners ein „Schweigegebot" auf, dass heißt, er erklärte es für unsere Pflicht, zu schweigen, weil er fürchtete, unsere Aufklärung könne einen neuen „Literatenkrakeel" heraufbeschwören und die Genossen seien dessen müde. So sehr wir danach verlangten, die für uns so blamabel hingestellte Geschichte richtigzustellen, die Parteidisziplin und der Parteifriede standen uns höher als unsere Literatenehre, und so fügten wir uns dem Parteivorstand. Jetzt aber, nach der Veröffentlichung der „Münchener Post" sind wir natürlich dadurch nicht mehr gebunden, und so darf ich denn den Vorgang aufklären.

Die Sechs berichten:

In der Kommission gelang es Eisner, den zwingenden experimentellen Nachweis zu führen, dass hinter den tiefen prinzipiellen Gegensätzen der Vorwärtsminderheit gegenüber der Mehrheit im Wesentlichen entweder ärgste Prinzipienkonfusion oder verblendete und verblendende persönliche Rivalität oder beides zusammen steckt. Der Vorfall ist inzwischen öffentlich bekannt geworden. Ströbel griff (wie schon unmittelbar vor Jena der Kollege Cunow in der letzten Konferenz des Parteivorstandes mit der Redaktion und Genossen Kautsky) in der Kommission eine Definition des Klassenkampfes auf das Wildeste an, wie sie in einem Eisnerschen Artikel enthalten war. Er bezeichnete sie unter ermunternd zustimmenden entrüsteten Zwischenrufen Franz Mehrings als blödsinnig, als Gallimathias, als dem ABC des Marxismus widersprechend usw. Ströbel wurde dann durch Zwischenfragen Eisners noch besonders darauf festgelegt. dass er das Gegenteil der Sätze für richtig, für selbstverständlich halte. Eisner konstatierte schließlich, dass die angegriffenen Sätze aus Kautskys Erläuterung zum Erfurter Programm und einem Aufsatz Kautskys in der ,Neuen Zeit' wörtlich stammen. Er konstatierte ferner, um alle Ausreden und Verdunkelungen des klaren Tatbestandes von vornherein unmöglich zu machen, dass die Kautskyzitate in genau derselben Fassung, in genau demselben Zusammenhang, in genau derselben Tendenz als Definition unserer Anschauung vom Klassenkampf bereits vor den letzten Wahlen in einer vom Parteivorstand offiziell veranlassten Wahlschrift Eisners, unter besonderer Zustimmung von Kautsky selbst, als Parteimeinung gegenüber den Gegnern festgelegt war. Der Zusammenbruch der Angreifer nach dieser Feststellung war so überwältigend, dass trotz der abwartenden Aufforderung des Vorsitzenden Dietz sich niemand mehr zum Wort meldete. Es war nach dieser beispiellosen Katastrophe der Minderheit für die Kollegen Eisner und Gradnauer ein Grund mehr gegeben, sich nicht öffentlich zu verteidigen. Sie waren gern bereit. den Überführten die öffentliche Feststellung der Blamage zu ersparen, unter der Voraussetzung natürlich, dass man nicht wahrheitswidrig die Kommissionsverhandlungen gegen sie selbst auszubeuten versucht. Aus dieser inzwischen schlecht gelohnten Rücksicht schwiegen sie also."

Welch Zartgefühl für die „Blamierten", wenn man, um ihnen jede öffentliche Austragung des Vorfalls zu ersparen, diesen hinter ihrem Rücken aller Welt in einer Weise aufgebauscht und entstellt erzählt, dass sie schließlich in der bürgerlichen Presse öffentlich an den Pranger gestellt werden! Das ist in der Tat der Gipfel des Edelmuts, und die Sechs haben alle Ursache, über den schwarzen Undank zu klagen, der diese „Rücksicht" so „schlecht lohnte".

Ich bin rücksichtslos genug, an der Erzählung der Sechs, die sich mit der der „Berliner Volkszeitung" im Wesentlichen deckt, einige kleine Korrekturen anzubringen. Vor allem ist es unrichtig, dass Mehring Ströbel durch entrüstete Zwischenrufe unterstützt habe. Ich hatte sofort zu Mehring bemerkt, ich fürchte, Ströbel lasse sich aufs Eis locken, da ich einige der vorgelesenen Sätze als die meinen erkannte. Stolten hat auch in seinem Bericht im „Hamburger Echo" diese Zwischenrufe Mehrings in Abrede gestellt.

Dann aber ist die Bedeutung des Vorfalls von den Sechs kolossal übertrieben worden. Von unserer zweitägigen Verhandlung vor der Kommission füllte er kaum fünf Minuten auf! Und erschütterte die Kommission so wenig, dass sie im Gegensatz zu Eisner und Gradnauer konstatierte, die Pressefehden der jüngsten Zeit seien kein bloßes Literatengezänk, ihnen lägen ernste, prinzipielle Differenzen zugrunde.

Und nun zu den umstrittenen Sätzen selbst. Die ersten davon, die Ströbel „wild angriff", waren folgende:

Manche Parteigenossen halten es für notwendig, immer noch über unsere festeste und sicherste Einsicht zu philosophieren, als ob für sie irgend eine Gefahr bestände: über den Klassenkampfcharakter der sozialdemokratischen Bewegung, der doch wahrhaftig, namentlich in Deutschland, niemand irgendwie verborgen oder verschleiert sein kann. Kein Parteigenosse hat jemals dies Grundprinzip unserer Bewegung in Frage gestellt, dass das Proletariat als Klassenpartei die Überwindung der Klassen erstrebt. Und auch über das Verhältnis des Proletariats zu den Ausgebeuteten anderer Klassenschichtungen hat niemals ein Zweifel bestanden."

Diese Sätze bilden eine versteckte Polemik Eisners gegen einen Artikel, den Cunow unmittelbar vorher im „Vorwärts" veröffentlicht hatte, und in dem aufgeführt wurde, das Zuströmen nicht-proletarischer Elemente zur Sozialdemokratie führe die Gefahr mit sich, den Klassencharakter unserer Partei zu trüben, wenn die neuen Elemente nicht genügend theoretisch geschult würden. Diese Befürchtungen Cunows verhöhnte Eisner in den oben zitierten Sätzen.

Eisner weiß selbst nicht mehr, was er damals geschrieben hat, wenn er jetzt mitteilt, sein Artikel habe eine Definition des Klassenkampfes enthalten, und Ströbel habe diese angegriffen. Von einer Definition des Klassenkampfes ist da nirgends die Rede.

Die Sätze, in denen Eisner die Gefahr einer Trübung des Klassenkampfcharakters unserer Partei verlachte, und die Ströbel „auf das Wildeste angriff", stammen aber von Eisner, nicht von mir. Kein Wort davon habe ich geschrieben. Ich halte sie ebenso für verkehrt, wie Ströbel es tat. Sie aber sind die entscheidenden Sätze des ganzen Absatzes. Sie enthalten das, was Eisner beweisen will.

Sein Artikel fuhr fort:

Ist einmal das Proletariat eine Macht geworden, dann bleibt es nicht allein, dann ziehen seiner Fahne auch aus den anderen ausgebeuteten Klassen Rekruten zu, aus den Proletariern der geistigen Arbeit, den Kleinbürgern und Kleinbauern, die bisher den konservativen und liberalen Fahnen nachgelaufen sind. Gleich den Proletariern sehen Bauern, Kleinbürger und besitzlose ,Gebildete' sich ausgeschlossen von all den glänzenden Errungenschaften der modernen Produktion, die einzig und allein den Kapitalisten und Großgrundbesitzern, den Monopolisten der großen gesellschaftlichen Produktionsmittel, zugute kommen, und die nur durch die Verwandlung dieses Privateigentums in Gemeineigentum allen zugänglich gemacht werden können. Die Arbeiterklasse versteht in diesem Kampfe nicht bloß ihre eigene Sache, als die unterste der unterdrückten und ausgebeuteten Klassen, die in letzter Linie unter jeder Art von Ausbeutung und Druck zu leiden hat, auch wenn sie dadurch nicht unmittelbar berührt wird, sieht sie in jedem Ausbeuter und Unterdrücker ihren Feind und bekämpft sie die Ausbeutung und Unterdrückung der kleinen Beamten und sonstigen Kopfarbeiter, sowie der Bauern und Kleinbürger ebenso entschieden wie ihre eigene."

Mit wachsendem Erstaunen liest man diese Ausführungen und fragt sich immer wieder von neuem, was sie denn hier sollen. Eisner will beweisen, dass das Zuströmen nicht-proletarischer Elemente in die Partei ihren Klassenkampfcharakter nicht verwischen kann, und führt als Beweis dafür an – dass die Sozialdemokratie auch noch andere Interessen zu verfechten imstande ist als rein proletarische Klasseninteressen. Aber das ist doch ein ganz neuer Gedankengang, das behandelt ein ganz anderes Problem des Klassenkampfs, passt also zum vorhergehenden wie die Faust aufs Auge und muss jedem logisch Denkenden als ein Gallimathias erscheinen. Wehe aber dem unglücklichen Marxisten, der das zu behaupten wagt; Eisner donnert ihn nieder mit dem Nachweis, dass er diese Sätze gar nicht verfasst, sondern von mir abgeschrieben hat. Er merkt gar nicht, wie er dadurch nur den „zwingenden, experimentellen Nachweis" dafür erbringt. dass er auch den vernünftigsten Satz von mir nicht zu gebrauchen weiß, ohne ihn in einen Zusammenhang zu bringen, in dem er sich in sein Gegenteil verkehrt.

Wenn Eisner behauptet, in seinem Artikel ständen meine Sätze in „genau demselben Zusammenhang" und „genau derselben Tendenz" wie in seiner Broschüre, aus der er sie herausschnitt, oder in meinem Original, so muss ich das entschieden bestreiten. Weder hier noch dort wird mit einem Worte die Frage untersucht, die Cunow aufgeworfen und gegen die Eisner sich im „Vorwärts" wendete, ob der Zuzug von Mitläufern den Klassenkampfcharakter der Partei verdunkeln könne. In meinen „Grundsätzen und Forderungen der Sozialdemokratie" (S. 22, 23) handelt es sich vielmehr um die Frage, ob das Proletariat in seinem Klassenkampf noch andere Interessen vertreten könne als seine eigenen. In seiner Kampfschrift gegen Richter verwendete Eisner einzelne Sätze aus diesen Ausführungen, um Richter ad absurdum zu führen, der behauptete, die Sozialdemokratie verfechte nur Sonderinteressen, nicht auch allgemeine Interessen. Das ist eine Frage ganz anderer Art als die von Eisner gegen Cunow aufgeworfene, und wenn er nun meine Sätze unterschiedslos hier wie dort anführt, so beweist er damit nur, dass er den Unterschied der beiden Fragen nicht zu fassen weiß.

Zieht man die langatmige Argumentation Eisners gegenüber Cunow kurz zusammen, dann besagt sie: Die Mitläufer der Sozialdemokratie können deren Klassenkampfcharakter nicht trüben, denn die Sozialdemokratie ist imstande, auch andere als proletarische Klasseninteressen zu vertreten. Jeder wird zugeben, dass dieser Satz ein Gallimathias ist, auch wenn er seinen zweiten Teil, der meinem Gedankengang entnommen ist, für völlig richtig anerkennt.

Noch deutlicher tritt der Gallimathias in dem folgenden Satze des Eisnerschen Artikels zutage, der die Fortsetzung des oben zitierten Passus bildet:

Weder nach dem sozialen Personenkreis noch nach dem Inhalt unseres Programms ist irgend eine Verwirrung über den zugleich weiten und klar abgegrenzten Begriff unseres Klassenkampfs denkbar. Ist doch gegenüber der Eugen Richterschen Auffassung von der professionellen Beschränktheit des Klassenkampfes auch die Auffassung sicheres Gemeingut der Partei, dass, wenn jemals der (freilich undenkbare!) Fall eintreten würde, dass berufliche Arbeiterinteressen mit den allgemeinen Kulturinteressen gegensätzlich zusammenstoßen, die Kulturinteressen den Vorrang hätten."

Auch gegen diesen Absatz wendete sich Ströbel, auch er stammt keineswegs vollständig von mir, vielmehr sind seine entscheidenden Teile Eisnersches Produkt. Von mir stammen – angeblich – die letzten Worte: „wenn jemals der (freilich undenkbare!) Fall eintreten würde" usw. Und auch da muss ich Ströbel zustimmen. Es ist in der Tat ganz sinnlos, zu erklären, irgend eine Verwirrung über den Begriff unseres Klassenkampfs sei gar nicht denkbar. Also wenn heute unsere Partei von Kleinbauern oder Journalisten überschwemmt würde, so müssten diese sofort die klarste Vorstellung von unserem Klassenkampf besitzen! Und warum? Weil, wenn jemals Arbeiterinteressen mit Kulturinteressen kollidieren, diese den Vorrang hätten.

Diesen letzteren Satz, behauptet triumphierend Eisner, hätte ich irgendwo in der „Neuen Zeit" geschrieben. Schon möglich, aber was, um des Himmels willen, beweist er dafür, dass eine Verwirrung über den Begriff unseres Klassenkampfes unmöglich ist? In der Tat, als Beweis für diesen Eisnerschen Satz wird auch der meine zum Gallimathias.

Aber wie um recht sinnenfällig zu beweisen, dass er meinen Satz absolut nicht versteht und daher sinnlos verwendet, hat Eisner sich noch folgendes Stückchen geleistet. In der Broschüre gegen Richter hat mein Satz den Wortlaut:

Wenn jemals der Fall eintreten würde, dass berufliche Arbeiterinteressen mit den allgemeinen Kulturinteressen gegensätzlich zusammenstoßen, haben die Kulturinteressen den Vorrang."

Der Sinn dieses Satzes ist klar. Wenn sich zum Beispiel Arbeiter aus Sonderinteresse gegen die Einführung von Maschinen oder die Frauenarbeit oder die Aufhebung zünftiger Beschränkungen wenden, kann die Sozialdemokratie derartige Arbeiterinteressen nicht vertreten. Solche Fälle sind nicht selten vorgekommen.

Wie gestaltet ober Eisner den Satz im „Vorwärts" gegen Cunow? „Wenn jemals der (freilich undenkbare!), Fall eintreten würde, dass berufliche Arbeiterinteressen mit allgemeinen Kulturinteressen gegensätzlich zusammenstoßen", hätten diese den Vorrang. Hier hat er also ein „freilich undenkbar" eingeflickt und damit aus meinem Satze tatsächlich vollkommenen Unsinn gemacht, denn was er als undenkbar bezeichnet, hat sich nur zu oft ereignet. Es war offenbar die Verwechslung allgemeiner proletarischer Klasseninteressen, die allerdings heute nirgends mit allgemeinen Kulturinteressen kollidieren, mit besonderen beruflichen Arbeiterinteressen, die ihm da einen Streich spielte, womit er klärlich erwiesen hat, dass in seinem eigenen Kopfe die angeblich undenkbare „Verwirrung über den Begriff unseres Klassenkampfes" noch eine ganz gewaltige ist. Dieser angeblich von mir herrührende Satz entpuppt sich aber nun als doppelter Gallimathias: einmal wegen des Zusammenhanges, in dem er verwendet wird, und dann wegen der lächerlichen Form, die er durch eine sinnlose Einschiebung erfahren hat.

Ich konstatiere also: es ist total falsch, wenn Eisner erklärt, er habe festgestellt, „dass die angegriffenen Sätze aus Kautskys Erläuterungen zum Erfurter Programm und einem Aufsatz Kautskys aus der Neuen Zeit wörtlich stammen." Die wichtigsten der angegriffenen Sätze stammen von Eisner selbst, die meinigen aber sind in einem Zusammenhang wiedergegeben, in dem sie unsinnig werden, und der eine ist nicht wörtlich, sondern mit einer Einschiebung wiedergegeben, die ihn aufhebt und beweist, dass Eisner keine Idee davon hat, was ich damit sagen wollte.

Warum habe ich das aber nicht schon in Jena konstatiert? Einfach deswegen, weil mir das Material dazu fehlte, um diese verzwickte Geschichte aufzuhellen und die ganze Eisnersche Konfusion klarzulegen. Zitiert doch Eisner so liederlich, dass es mir bis heute noch nicht gelungen ist, festzustellen, ob der aus einem meiner Artikel der „Neuen Zeit" zitierte Satz auch wörtlich so von mir niedergeschrieben wurde, noch auch, wann und wo ich Eisner meine „besondere Zustimmung" zu seiner Anwendung meiner Sätze ausgesprochen.

Ströbel war also vollständig berechtigt, den ganzen Eisnerschen Artikel für konfus zu bezeichnen. Daran ändert die Tatsache gar nichts, dass Eisner einzelne Sätze von mir, ohne mich zu nennen, als Zeugen für seine Konfusion in diese hinein verwoben hat. Wenn Eisner vermeinte, den „zwingenden, experimentellen Nachweis zu führen, dass hinter den tiefen, prinzipiellen Gegensätzen der Vorwärtsminderheit gegenüber der Mehrheit im wesentlichen entweder ärgste Prinzipienkonfusion oder verblendete und verblendende persönliche Rivalität oder beides steckt", so ist ihm dieser Beweis für die „ärgste Prinzipienkonfusion“ sicher „zwingend" gelungen, nur in anderer Weise, als er vermeinte. Er begreift gar nicht die Kritik, die an ihm geübt wird, und dünkt sich daher triumphierender Sieger, wo er seine Unwissenheit dargetan.

Genosse Stampfer sieht keine verschiedenen Richtungen in der Partei. Tatsächlich sind die Unterschiede zwischen ihnen so groß, dass die Angehörigen der einen und der anderen oft eine ganz verschiedene Sprache sprechen, das heißt mit denselben Worten ganz verschiedene Dinge bezeichnen, so dass sie sich gar nicht mehr verstehen, jede Aussprache mit Missverständnissen endigt!

Ehe ich wieder auf die sachliche Seite der von Stampfer aufgeworfenen Frage zurückkehre, sei hier noch eine persönliche Angelegenheit erledigt. Eisner veröffentlicht im letzten Hefte der „Neuen Gesellschaft" einen Artikel über „Literaten-Psychologie" und teilt in einer Fußnote mit, dieser Artikel bilde die Abwehr eines Angriffs, den Ledebour in der „Neuen Zeit" gegen die Sechs gerichtet. Ich hätte jedoch Eisners Antwort abgelehnt, und so „erleben wir das erbauliche Schauspiel, dass die ,Neue Zeit' Karl Kautskys das Jahr der russischen Revolution durch keine würdigere Tat in Deutschland zu feiern versteht als durch den Rettungsruf des Zarismus: Schlagt die Intellektuellen tot!" Dann entrüstet sich Eisner dort noch über die unerhörte Brutalität, dass die Mehrzahl der Parteiorganisationen dem Parteivorstand zustimmt, und er erhebt zum xten Mal den Ruf: „Die Würde und Unabhängigkeit der Parteijournalisten steht auf dem Spiele!"

Diese Würde suchte er in dem von mir zurückgewiesenen Artikel dadurch zu wahren, dass er alle Parteijournalisten, die nicht in sein Horn bliesen, aus das unglaublichste beschimpfte. Als ich ihn ersuchte, diese persönlichen Beschimpfungen zu streichen, die mit der Sache gar nichts zu tun hatten, entgegnete er, sein Artikel müsse unverändert erscheinen. Darauf antwortete ich:

14. 11. 1905.

Werter Genosse!

Ich lasse mir nicht die Pistole auf die Brust setzen und einen Artikel nicht aufzwingen. Sie haben das Recht, zu verlangen, dass wir Ihre Antwort veröffentlichen, soweit sie Ihrer Ansicht nach irrige Ausführungen Ledebours richtig stellt. Sie haben aber kein Recht darauf, in der „Neuen Zeit" unter dem Vorwand einer Abwehr der Angriffe Ledebours eine Reihe anderer Parteigenossen zu beschimpfen, die mit den Ausführungen Ledebours nichts zu tun haben. Die „Neue Zeit" ist kein Organ für Skandal und Rachsucht.

Ich hätte darüber hinweggesehen, als die Pressepolemik noch weiter fortzugehen drohte. Da aber inzwischen die Vermittlungsaktion des Vereins Arbeiterpresse greifbarere Formen angenommen hat, halte ich mich nicht für berechtigt, diese Aktion zu stören und durch Veröffentlichung von Artikeln wie der Ihre Öl ins Feuer zu gießen. Ich habe auf meine polemischen Ausführungen verzichtet, obwohl sie sehr zur Sache gehörten. Um so mehr darf ich verlangen, dass Sie auf polemische Ausführungen verzichten, die mit der Sache gar nichts zu tun haben.

Bestehen Sie auf dem unveränderten Abdruck im nächsten Hefte, dann bitte ich Sie, frei über Ihren Artikel zu verfügen. Bei uns erscheint er dann nicht.

Karl Kautsky.

Ist das nicht offenbar brutalster Hooliganismus? Aber leider, leider wird nicht bloß in der „Neuen Zeit" die Würde und Unabhängigkeit der Parteijournalisten im Beschimpfen von Parteigenossen mit Füßen getreten, nein, selbst die so tolerante „Neue Gesellschaft" ist schon vom Hooliganismus angesteckt und schlägt, wenn auch noch nicht die Intellektuellen, so doch ihre edelsten Geisteskinder tot. Schamhaft verbirgt das freilich Eisner, er verschweigt in seiner entrüsteten Fußnote, dass er, um seinen Artikel in der „Neuen Gesellschaft" unterzubringen, mindestens die schlimmste der Beschimpfungen und Ehrabschneidungen streichen musste, an denen ich Anstoß genommen!

Die völlige Unabhängigkeit der Parteijournalisten, nach der er begehrt, die Partei als eine Bande von Schuften und Idioten hinzustellen, wird Eisner nur noch in der gegnerischen Presse finden. Seine Methode der Parteipolemik ist weiter nichts mehr, als die ins Ethisch-Ästhetische übersetzte Methode des Korbmachers Fischer.

3. Richtung und Partei

Will Stampfer noch mehr Beweise dafür, dass es verschiedene Richtungen in der Partei gibt? Ich fürchte, ich bin jetzt schon zu ausführlich geworden. Trotzdem werde ich ihn nicht überzeugt haben, wenn er wirklich die letzten Jahre verschlafen hat. Oder sollte er sie nicht verschlafen haben, aber unsere innere Parteigeschichte nur aus unserem Zentralorgan kennen? Das käme in der Wirkung auf dasselbe hinaus. Denn der „Vorwärts" hat allerdings alles aufgeboten, was in seinen Kräften stand, jede Erkenntnis unserer inneren Differenzen zu verhindern. Und das war der schlimmste Fehler, den er sich zuschulden kommen ließ.

Denn unsere Meinungsverschiedenheiten spielen eine ganz andere Rolle im Parteileben, als Stampfer annimmt. Heute behaupten er und seine Freunde, in der Partei dürfe es verschiedene Richtungen nicht geben; vor wenigen Jahren noch, als der Revisionismus im Aufsteigen begriffen war, wurde uns dagegen von dessen Verfechtern versichert, die Partei könne gar nicht gedeihen, wenn nicht verschiedene Richtungen in ihr existierten. Ohne diese müsste sie verknöchern und erstarren. Die eine Anschauung ist ebenso falsch wie die andere.

Die Partei bedarf zur Anregung ihres geistigen Lebens nicht verschiedener Richtungen; der Kampf mit unseren Gegnern genügt schon, unser Denken in beständiger Anspannung zu erhalten, und je einheitlicher die Partei bleibt, je geringer die Differenzen in ihrem Schoße, desto schlagkräftiger ist sie, desto mehr kann sie ihre ganze Macht auf den Kampf gegen unsere Gegner konzentrieren. Aber daraus folgt nicht, dass es verschiedene Richtungen in ihr nicht gibt, noch geben darf. Mitunter sind sie unvermeidlich, und dann muss die Partei sich mit ihnen abfinden, so störend und hemmend sie auch wirken mögen. Und unter Umständen können sie nicht bloß unvermeidlich, sondern auch nützlich werden. Nicht jede neue Richtung bedeutet einen Fortschritt, manche von ihnen sind bloße vorübergehende Moden; aber jeder wirkliche Fortschritt, sei es in unserer wissenschaftlichen Grundlage, sei es in unserer Taktik, kann zuerst nur geltend gemacht werden durch eine neue Richtung in der Partei, ehe es gelingt, diese in ihrer Masse dafür zu gewinnen. Andererseits aber kommen nur solche Meinungsverschiedenheiten, die ganze Richtungen bilden können, für die Partei praktisch in Betracht. Meinungsverschiedenheiten, die auf einzelne Personen beschränkt bleiben, Sondereinfälle von Eingängern, spielen in der Politik und den Klassenkämpfen überhaupt keine Rolle.

Ist also die Existenz verschiedener Richtungen in der Partei nicht immer erfreulich, mitunter direkt schädlich, so ist sie doch zeitweise unvermeidlich und kann unter Umständen höchst förderlich sein.

Wo aber verschiedene Richtungen nebeneinander bestehen, da ist es auch unerlässlich, dass sie einander bekämpfen, und zwar, dass sie nicht bloß miteinander debattieren und schwatzen, sondern dass jede von ihnen trachtet, zur Mehrheit zu werden und die Vertreter ihrer besonderen Anschauungen in die Machtpositionen der Partei zu bringen, das heißt den Gang der Partei in ihrem Sinne zu bestimmen. Denn jede Richtung will einen anderen Weg weisen, die Partei kann aber nur einen Weg gehen. Jede Richtung hält den ihrigen für den kürzesten, den besten, hält die anderen Wege für verlustreiche Umwege oder gar Abwege. Jede Richtung muss daher im Parteiinteresse selbst danach streben, die Partei auf den Weg zu leiten, den sie für den richtigen hält.

Tatsächlich kämpft denn auch jede Richtung um die Macht in der Partei, das ist nichts Verwerfliches, sondern etwas Gebotenes. Verwerflich aber wird es, wenn eine Richtung dadurch zur Macht kommen oder sich in einer Machtposition zu behaupten sucht, dass sie die Genossen irreführt, dass sie ihnen den Glauben beizubringen sucht, es gebe keine verschiedenen Richtungen, dass sie die gegnerische Richtung nicht sachlich und offen, sondern durch persönliche Herabsetzung ihrer Vertreter bekämpft.

Wie immer man über die einzelnen Richtungen denken mag, auf jeden Fall ist es für das Gedeihen der Partei unerlässlich, dass die Parteigenossen über diese Richtungen genau unterrichtet sind. Das „Erkenne dich selbst" der alten Philosophen ist eine Pflicht auch für die Partei, und diese Erkenntnis zu fördern, bleibt eine ebenso dringende Aufgabe der Parteipresse, wie der Kampf gegen den gemeinsamen Feind. Unparteilichkeit darf man dabei auf keiner Seite verlangen, Unparteilichkeit heißt in solchen Fällen entweder Konfusion oder Heuchelei oder Indifferenz. Wohl aber darf man Offenheit verlangen, und von einem Parteiredakteur auch Klarheit. Die Parteigenossen müssen genau wissen, wie das innere Leben der Partei sich abspielt, welche Strömungen und Differenzen in ihr miteinander ringen, welche Probleme sie uns aufgeben, welche Resultate dabei in Frage stehen. Das heißt nicht, die Partei spalten, nicht die Zwietracht in ihren Reihen schüren, es heißt nur sie klar erkennen lassen, was ist, heißt die Parteigenossen instandsetzen, über die verschiedenen Richtungen nachzudenken, damit sie mit vollem Bewusstsein zwischen ihnen entscheiden können.

Wohl kann der Kampf zweier verschiedener Richtungen in einer Partei auch einmal zu einer Spaltung führen, wenn die Gegensätze zu schroffe sind und zu tief in das praktische Parteileben eingreifen. Aber dadurch, dass man die vorhandenen sachlichen Gegensätze in persönliche verwandelt, indem man die sachlichen Differenzen leugnet und nur solche der Intelligenz und Ehrlichkeit zugeben will, werden diese Gegensätze nicht aufgehoben, sondern nur verbittert.

Vom Kampfe mit dem Revisionismus haben wir aber in unserer Partei eine Spaltung nicht zu fürchten, denn der Riss, den der Revisionismus in sie gebracht. geht nicht in ihre Tiefe. Die Masse der Partei ist einig; der Revisionismus findet in ihr keine Stätte, von wenigen Lokalitäten in vorwiegend kleinbürgerlichen Gegenden abgesehen. So wie der selige Nationalsozialismus ist auch der Revisionismus ein Generalstab ohne Armee; so wie jener rekrutiert er sich fast ausschließlich aus den Intellektuellen – mögen diese nun Akademiker oder Autodidakten sein. Er wird daher nie zu einer Spaltung der Partei führen, denn die Intellektuellen können für sich allein keine Partei bilden. Andererseits aber werden wir ihn kaum so bald völlig los werden, denn er entspringt tiefen Bedürfnissen, die aus der besonderen Klassenlage der Intellektuellen hervorgehen, und die nur jene unter ihnen überwinden können, die eine gründliche theoretische Bildung mit dem Wesen und den Bedingungen des proletarischen Klassenkampfes völlig vertraut macht.

Der Revisionismus kann also nicht siegen, aber auch nicht ganz sterben. Das ist ein Zustand, der nicht immer erfreuliche Resultate schafft, der aber auch nicht so gefährlich werden kann, wie manche unter uns meinen. Er ist einfach eine unvermeidliche Begleiterscheinung unserer wachsenden Größe. Solange Partei und Gewerkschaften es verstehen, ihre Abgeordnetem Journalisten und Verwaltungsbeamten im Rahmen proletarischer Disziplin zu halten, brauchen wir dabei für den einheitlichen Klassenkampfcharakter unserer Partei nichts zu befürchten. Und dass dieser nicht abflaut, sondern immer schärfer hervortritt. dafür wird die russische Revolution mit ihren westeuropäischen Konsequenzen sorgen.

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