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Karl Kautsky 19070925 Der Essener Parteitag

Karl Kautsky: Der Essener Parteitag

[Nach „Die Neue Zeit: Wochenschrift der deutschen Sozialdemokratie.“ - 25.1906-1907, 2. Band (1906-1907), Heft 52 (25. September 1907), S. 852-858]

Der Kongress von Essen war naturgemäß weit weniger glanzvoll und bedeutend als der von Stuttgart. Aber man täte ihm Unrecht, wenn man ihn einen bloßen Geschäftsparteitag nennen wollte. Er hat nicht bloß die alljährlich wiederkehrenden Parteigeschäfte erledigt, sondern auch eine Reihe wichtiger Fragen von allgemeiner Bedeutung diskutiert, zeitweise sehr lebhaft diskutiert, und eine neue Institution geschaffen, die imstande ist, den Charakter unserer Parteipresse sehr erheblich zu beeinflussen; wir dürfen erwarten, in erfreulichem Sinne. Es wird wohl wenige seiner Teilnehmer gegeben haben, die ihn nicht mit voller Befriedigung verließen.

Es stand eine Reihe von Gegenständen höchst strittiger Natur und von größtem praktischen Interesse auf der Tagesordnung. Trotzdem zeigten die Verhandlungen des Parteitags eine Geschlossenheit und Einmütigkeit, wie sie nur wenigen seiner Vorgänger beschieden war.

Schon in der Alkoholfrage hatte man scharfe Zusammenstöße der Mehrheit der Genossen mit den Abstinenten erwarten dürfen. Aber der Resolution wie dem Referat Wurms gelang es, alle Seiten zu befriedigen, obwohl sie sich durchaus nicht in allgemeinen Redensarten bewegten, den Dingen auf den Grund gingen und sehr präzise Forderungen aufstellten. Es zeigte sich, dass in der Hauptsache die Gesamtheit der Parteigenossen in gleicher Weise darüber denkt und das Gebiet, auf dem sich die abstinenten Sozialisten von den anderen Genossen scheiden, nur relativ geringfügig ist.

Einig sind wir in der Anerkennung der Bedeutung der Frage und ihres sozialen Ursprunges. Wohl ist der Alkoholgenuss so alt wie die menschliche Kultur, an deren Schwelle er anhebt, aber der Alkoholismus, die Schädigung der Menschen durch den Alkoholgenuss, ist als Massenerscheinung ein Produkt der kapitalistischen Produktionsweise. Diese hat nicht nur den Arbeitsprozess, mehr als jede andere Produktionsweise vor ihr, in einer Weise gestaltet, die allen hygienischen Bedürfnissen Hohn spricht und dadurch aus den verschiedensten Gründen das Bedürfnis nach Alkohol steigert; sie wirkt in gleicher Richtung durch die körperliche Verelendung breiter Volksschichten, eine Folge nicht bloß von Überarbeit, Unterernährung, scheußlichen Wohnhöhlen, sondern auch von Überreizung des Nervensystems – eine Ursache körperlicher Verelendung, die die Besitzenden wie die Intellektuellen noch in höherem Grade degeneriert als die Masse der Handarbeiter.

Dieselben Ursachen also, die das Bedürfnis steigern, durch Alkoholgenuss alle die quälenden Empfindungen wenigstens vorübergehend los zu werden, die aus den modernen Arbeits- und Lebensbedingungen entspringen – dieselben Ursachen wirken dahin, die Widerstandskraft des Körpers gegen die schädigenden Folgen des Alkohols herabzusetzen, diese Folgen immer gewaltiger zu steigern.

In der kapitalistischen Produktionsweise verwandelt sich aber auch die Produktion von alkoholischen Getränken immer mehr aus einer Produktion für den Selbstverbrauch in eine für den Verkauf zu Profitzwecken.

Es erstehen jetzt Schichten von Kapitalisten, die ein Interesse an möglichst großem Alkoholkonsum des Volkes haben, und die Macht dieser Schichten ist in stetem Wachsen. Skrupellos, wie jedes Kapital, strebt auch das Alkohol produzierende Kapital mit allen Mitteln der Verführung und des moralischen wie ökonomischen Druckes danach, die Vergiftung der Volksmasse durch den Alkohol möglichst zu steigern, da ihre Profite aus dieser Vergiftung fließen.

Seine Bestrebungen werden begünstigt durch die Auflösung der Familie, die immer mehr Leute zwingt., ihre regelmäßigen Mahlzeiten in Wirtschaften einzunehmen; durch die Entwicklung der Beleuchtungstechnik, die immer mehr die Nacht zum Tage macht, sowie durch die Ausdehnung der Arbeitszeit, die für die große Mehrheit der Menschen den ganzen Tag in Arbeitszeit für andere verwandelt und als Lebenszeit für sich nur die Nacht übrig lässt, die Zeit, wo weder die freie Natur noch die Museen oder sonstige Bildungsstätten offen stehen, so dass allen jenen, die nicht über ein angenehmes Heim verfügen, als einziger Ort der Erholung die Kneipe übrig bleibt.

Infolge von alledem erhalten aber auch in der kapitalistischen Produktionsweise die aus früheren Gesellschaftsformen überlieferten Trinksitten und falschen Anschauungen über das Wesen des Alkohols eine weit schädlichere Bedeutung, als sie ehedem hatten, da sie allen aus der heutigen Produktionsweise entstammenden Antrieben und Verführungen zum Alkoholgenuss noch Vorschub leisten und deren Wirken verstärken.

Ist der Alkoholismus ein Stück der Wirkungen des Kapitalismus, so muss der Kampf gegen diesen von selbst schon, wenigstens indirekt, ein Kampf gegen den Alkoholismus werden. Dagegen ist auf umgekehrtem Wege, durch bloßen Kampf gegen den letzteren ohne Antastung des ersteren nichts von Belang zu erreichen.

Aber damit ist nicht gesagt, dass jede Art der Bekämpfung des Kapitalismus schon zu einer Eindämmung des Alkoholismus wird, dass dieser nicht besondere Methoden der Agitation und Aktion notwendig macht, die freilich den notwendigen Zusammenhang mit dem großen Kampfe gegen den gesamten Kapitalismus nie aus den Augen verlieren dürfen. So ist ja der Kampf gegen den Militarismus auch durch unsere allgemeine sozialistische Propaganda schon gegeben, das schließt aber nicht aus, dass unter Umständen eine besondere antimilitaristische Agitation notwendig werden kann.

Die Wurmsche Resolution enthält nun unseres Erachtens alles, was für den besonderen Kampf gegen den Alkoholismus erforderlich ist. Ein Bekenntnis zur Abstinenz konnte und durfte sie nicht enthalten. Damit hätte der Parteitag die Grenzen überschritten, die einer politischen Körperschaft gezogen sind.

Ein Parteitag ist kein Kongress von Ärzten, er kann nicht medizinische Streitfragen einschätzen. Wir erkennen gern alles an, worin die Heilwissenschaft einig ist, die Verwerflichkeit jeglichen Alkoholgenusses der Jugend, seine Schädlichkeit bei der Arbeit, auch bei der wichtigsten Arbeit, die wir zu leisten haben, der Parteiarbeit, also zum Beispiel in Versammlungen. Strittig aber bleibt es, ob es notwendig sei, den Alkoholgenuss auch für jene Momente grundsätzlich auszuscheiden, wo wir weder Arbeiter noch Kämpfer sind, sondern erholungsbedürftige Menschen. Seit vielen Jahrtausenden erfreut sich die Menschheit an alkoholischen Getränken als einem Mittel, Frohsinn und Heiterkeit zu fördern; ist es geboten, gerade in unserer an Freuden so armen Zeit gesunden Menschen, die dadurch nicht geschädigt werden, unter allen Umständen diesen Freudenbecher vorzuenthalten?

Ob jeder Alkoholgenuss unter allen Umständen schädlich ist, darüber wird in wissenschaftlichen Kreisen noch sehr gestritten. Die Abstinenten sind selbst nicht einig darüber. Während die einen jeden Alkoholgenuss für verderblich erklären, geben andere zu, dass gesunden Menschen mäßiger Alkoholgenuss nichts schade, bezweifeln aber, dass die Menschen mäßig sein können. Wieder andere lassen auch diesen Zweifel fahren, verwerfen aber den mäßigen Alkoholgenuss wegen des bösen Beispiels, das dadurch jenen gegeben wird, die nicht mäßig sein können.

Das sind Erwägungen, die Beachtung und Untersuchung heischen mögen, es bleibt den Abstinenten unbenommen, sie in ihrer Agitation vorzubringen. Ein politischer Kongress kann darüber nicht beschließen.

Das verlangen unsere abstinenten Genossen auch nicht, und so konnte die Resolution mit voller Einmütigkeit zur Annahme gelangen.

Nicht minder einmütig war die Aufnahme, die Bebels Referat über die Reichstagswahlen fand. Und hier war die Einmütigkeit noch bedeutungsvoller und erfreulicher. Sie bezeugte, dass uns die Schlappe vom Januar nicht im Geringsten erschüttert hat.

Eine abgeschlagene Attacke wird erst dann zu einer Niederlage, wenn sie Verwirrung in den Reihen der Kämpfenden erzeugt, Misstrauen gegen ihre Führer und deren Taktik, Unlust zur Fortsetzung des Kampfes. Wie wenig von alledem nach der letzten Reichstagswahl in unseren Reihen die Rede war, wie sie vielmehr die Angriffslust und Energie der Genossen angestachelt, ihre Geschlossenheit gefördert hat, das hat sich seitdem bei jeder Gelegenheit gezeigt.

Immerhin konnte man es noch für möglich halten, dass eine Kritik an unserer bisherigen, auf den Beschlüssen von Dresden aufgebauten Taktik, dass Beschuldigungen und Vorwürfe darüber auf dem Parteitag einsetzen würden. Scheuen unsere Genossen ja nicht – und mit Recht – bei unseren Kongressen vor der schärfsten Selbstkritik zurück. Aber trotzdem Bebels Referat, wie der „Vorwärts" sagte, eine Unterstreichung der Dresdener Resolution bildete, die Anwendung der theoretischen und taktischen Grundsätze, die unsere Partei bisher leiteten, auf die politische Lage, stieß es kaum hie und da auf eine leise Mahnung, nicht allzu schroff vorzugehen, nirgends aber auf eine entschiedene scharfe Kritik unserer Haltung in den letzten Jahren.

Dass wir bleiben, was wir waren, das wusste man schon vor Essen, darüber konnten sich nur sehr naive Leute täuschen. Aber kaum auf einem Parteitag vorher ist das mit solcher Einmütigkeit und Freudigkeit zutage getreten, wie diesmal. Wenn die deutsche Regierung nach jedem ihrer Husarenritte solche Niedergerittene hinterlässt, geht sie bösen Zeiten entgegen.

Weniger erfreulich als die Verhandlungen über die Alkoholfrage und die Reichstagswahlen gestalteten sich die über den Internationalen Kongress, das heißt tatsächlich über die Kolonialfrage. Wer erwartet hatte, es werde zu einer sachlichen Auseinandersetzung zwischen den Vertretern der Majorität und der Minorität kommen, die sich innerhalb der Stuttgarter Delegation in der Kolonialfrage gebildet hatten, wurde sehr enttäuscht. Das kam aber nicht etwa daher, dass die Minorität, die angeblich bloß 4 Mann von 300 betragen hatte, verzagt auf jede Verteidigung ihres Standpunktes verzichtete, sondern daher, dass sich aus der angeblich so erdrückenden Mehrheit auch nicht einer fand der deren Auffassung vertreten hätte.

Wäre es uns nur um den persönlichen Erfolg zu tun, dann könnten wir mit der Verhandlung in Essen über die Kolonialfrage wohl zufrieden sein; denn aus unserer angeblich so winzigen Minorität wurde die einstimmige Anerkennung der Minderheitsresolution durch den Kongress. Selbst David stimmte dafür.

Aber die sachlichen Gegensätze, die in Stuttgart so scharf zutage getreten waren, verschwinden damit keineswegs. Eine Reihe von Argumenten sind in Stuttgart entwickelt worden, die mit unserer bisherigen Taktik unvereinbar sind, die aber dort plausibel genug schienen, so dass sie erheblichen Beifall fanden. Diese Argumente werden uns von unseren Gegnern vorgehalten werden, wir müssen uns klar sein, wie wir darüber denken. Das ist um so nötiger, als die Kolonialfrage unter allen politischen Fragen unserer Zeit die wichtigste, aber für Proletarier vielleicht auch die schwierigste ist, weil es sich da um ihnen völlig fremdartige Verhältnis handelt, bei denen der bloße Klasseninstinkt nicht weit hilft. Das Wort von dem Streit um des Kaisers Bart hat leider die Klärung unserer Begriffe in der Kolonialfrage nicht erleichtert, da es das Streben danach zu einem überflüssigen stempelt. Trotzdem wird diese Klärung durch sachliche Auseinandersetzung vollzogen werden müssen.

Wie die Kolonialdebatte war auch jene über den Militarismus ein Nachklang zum Stuttgarter Kongress, wenn sie sich auch nicht bei der Debatte über diesen, sondern beim parlamentarischen Bericht, anknüpfend an den Fall Noske, entspann.

Auch hier traten geringe sachliche Meinungsverschiedenheiten zutage. Die sachlichen Auffassungen der Kritiker des Genossen Noske wurden kaum von irgendwem bestritten. Dessen Verteidiger plädierten vornehmlich für mildernde Umstände. Man brauche nicht jedes Wort gleich auf die Goldwaage zu legen, im Allgemeinen habe Noske nichts gesagt, was nicht schon andere vor ihm gesagt hätten, ohne getadelt zu werden.

Das ist ganz richtig und wäre in Betracht zu ziehen, wenn ein Parteitag eine Zusammenkunft von Schulmeistern wäre, denen die Aufgabe zufällt, Zensuren auszuteilen. Aber er ist vielmehr eine politische Körperschaft, die politische Wirkungen erzielen will und danach ihre Kritik bestimmt. Eine Entgleisung, die keine politische Wirkung nach sich zieht, braucht ihn nicht zu bekümmern. Wohl aber muss er sie zurückweisen, wenn sie bei unseren Gegnern, bei der großen Masse, die außerhalb unserer Partei steht, aus der diese sich aber rekrutiert, sowie endlich bei den Bruderparteien im Ausland falsche Anschauungen über die Tendenzen der Mehrheit der Parteigenossen hervorruft.

Nach zwei Seiten hin hat Noskes Rede einen falschen Eindruck. erzeugt.

Unmittelbar nach der anscheinenden Wahlniederlage war es doppelt geboten, zu zeigen, dass unsere Partei ungebrochen in ihrer Kampfstellung verharre und jeden Gedanken an ein Entgegenkommen gegen das herrschende Regime weit von sich weise.

Andererseits aber ist in der gegebenen weltpolitischen Situation an einen Krieg, bei dem ein proletarisches oder demokratisches Interesse zur Verteidigung oder zum Angriff in Frage kommen könnte, gar nicht zu denken. Sicher gebietet die Demokratie das Eintreten für die Selbständigkeit der Nation, und die Internationalität das Eintreten für die Selbständigkeit jeder Nation. Aber nirgends ist heute die Selbständigkeit einer jener großen Nationen bedroht, die bei einem Kriege in Betracht kämen. Die einzige Kriegsgefahr droht heute von der überseeischen Weltpolitik, der das Proletariat von vornherein grundsätzlich ablehnend gegenüberstehen muss: auch hier stoßen wir wieder auf die Bedeutung welche die prinzipielle Ablehnung jeglicher Kolonialpolitik für unser praktisches Verhalten gewinnt. In dieser Situation gilt es nicht, die Regierung zu versichern, dass sie auf die Begeisterung des Proletariats rechnen könne, wenn sie wegen ihrer Weltpolitik von einem auswärtigen Feind angegriffen werde, sondern jeden Krieg, der sich entspinnen mag, als Verbrechen an den Interessen des Volkes zu brandmarken.

Das ist durch unsere Vertreter nicht in genügendem Maße geschehen, und so erstand, namentlich unter den ausländischen Genossen, die unsere Partei nicht genau kennen, der Eindruck, als wollte die deutsche Sozialdemokratie sich in der Kriegslage von der Internationale loslösen, durch nationale und nicht durch internationale Erwägungen ihre Haltung bestimmen.

Dieser falsche Eindruck wurde noch verstärkt durch die Art und Weise, wie von manchen unserer Vertreter die Forderung einer gemeinsamen antimilitaristischen Aktion für den Kriegsfall zurückgewiesen wurde. Sicher kann die deutsche Sozialdemokratie keine bindenden Verpflichtungen für diesen Fall eingehen. So eng sie in ihrem Empfinden mit den Proletariern aller Länder verknüpft sein muss, und so gern sie der Internationale das Recht zugesteht, die Grundsätze festzulegen, die für unser Handeln maßgebend zu sein haben, so muss sie sich doch die freie Wahl der Mittel vorbehalten, durch welche sie in gegebenen Situationen für diese Grundsätze eintritt. Sie muss dies bei der antimilitaristischen Agitation und Aktion um so mehr betonen, je eigenartiger und stärker der deutsche Militarismus ist. In keinem Lande der Welt steht der Sozialdemokratie eine so starke und so völlig dem Militarismus ergebene Regierung gegenüber wie in Deutschland, in keinem Lande der Welt hat der Militarismus die ganze bürgerliche Gesellschaft, samt jenem Teil des Proletariats, der noch in bürgerlichem Denken befangen ist, in so hohem Grade durchseucht wie hier. Da kann die Agitation gegen den Militarismus nicht einfach nachahmen, was unter gänzlich verschiedenen Verhältnissen geübt wird.

So notwendig es daher war, dass die deutsche Sozialdemokratie sich die volle Freiheit der antimilitaristischen Agitation wahrte und jede Verpflichtung auf die Propagierung oder Anwendung bestimmter Mittel ablehnte, so geschah dies doch mitunter in Formen, die das Missverständnis noch verstärkten, das durch Reden wie die Noskesche hervorgerufen war, als gedenke die deutsche Sozialdemokratie sich im Falle eines Krieges außerhalb des Bereichs der internationalen Solidarität zu stellen.

Es bedurfte nicht geringer Arbeit in Stuttgart, das Missverständnis aufzuklären und der Internationale das Bewusstsein beizubringen, dass das deutsche klassenbewusste Proletariat dagegen gefeit ist, durch irgendwelche Mittel oder Situationen zur Kriegsbegeisterung verhetzt zu werden, dass sein internationales Empfinden so stark ist wie je, dass die Internationale stets auf das Proletariat Deutschlands rechnen kann.

Als dies am letzten Tage des Stuttgarter Kongresses aufs Unzweideutigste kundgegeben wurde, da ging ein Aufatmen der Erleichterung durch den Kongress, das bald zu stürmischem Jubel anschwoll.

Die Verhandlungen von Essen haben in dieser Beziehung bestätigt, was Stuttgart bezeugt hatte.

Und wenn hier wie dort auch nur die internationale Gemeinsamkeit der antimilitaristischen Empfindungen dargetan wurde, indes gleichzeitig jede internationale Bindung zu einer bestimmten antimilitaristischen Aktion abgelehnt werden musste, so ist damit keineswegs gesagt, dass die deutsche Sozialdemokratie einem drohenden Kriege weniger kraftvoll begegnen wolle oder könne, als irgend eine ihrer Bruderparteien.

Wohl ist es richtig, dass sie eine Reihe von Mitteln nicht propagieren, wahrscheinlich auch nicht anwenden kann, die in der antimilitaristischen Propaganda des Auslands eine große Rolle spielen. Aber in viel höherem Maße als jede andere sozialistische Partei verfügt sie über ein Machtmittel, das mehr als jedes andere geeignet ist, die Kriegsbegeisterung zu dämpfen, der kriegerischen Verhetzung entgegenzuwirken.

Unter dem Regime der allgemeinen Wehrpflicht kann heute keine Regierung es wagen, einen großen Krieg zu führen, wenn sie nicht der Begeisterung der Volksmasse sicher ist. Ein moderner Weltkrieg macht die gewaltigste Anspannung aller Volkskräfte nötig, wie sie nur der freudigste Enthusiasmus erzielen kann. Eine Regierung, die auf diesen nicht rechnen darf, wird es stets doppelt und dreifach überlegen, ob sie sich in ein Kriegsabenteuer stürzt.

Das große Mittel, Kriegsbegeisterung zu erwecken, ist aber heute die Tagespresse. Nur durch sie erfährt der gewöhnliche Mensch in einem modernen Gemeinwesen die Vorkommnisse der Außenwelt, die sich außerhalb des Kreises seiner persönlichen Beobachtung abspielen; und er erfährt sie nur in der Weise, wie die Tagespresse sie bringt. Diese wirkt weit mehr als selbst etwa die Verhandlungen der Parlamente, denn auch von diesen erfährt die Masse nur das, was die Presse darüber mitteilt.

Ist die Presse oder vielmehr ihre Auftraggeber kriegerisch gesinnt, dann ist es ihr leicht, den äußeren Feind in einem so abscheulichen und gefährlichen Licht erscheinen zu lassen, dass der Volkszorn darob hoch auflodert und nach bewaffneter Abwehr oder Sühne schreit. Steht dagegen den Kriegshetzern eine starke Presse gegenüber, die friedlich gestimmt ist, so vermag diese es wohl, Licht und Schatten gleichmäßig abzuwägen, alle Lügen über den Gegner aufzudecken und die Masse bei nüchterner Überlegung zu erhalten.

So ist unter den Faktoren, die einen Krieg fördern, aber auch verhindern können, die Presse der wichtigste. Ist erst einmal die Kriegsbegeisterung im Volke entzündet, dann kommen alle Mittel, den Krieg zu verhindern, zu spät, dann wird jeder Versuch, das kriegerische Aufgebot zu stören, schon durch den Volkszorn selbst hinweggefegt. Einen Krieg zu verhindern, ist nur in der Weise möglich, dass man eine kriegerische Stimmung im Volke nicht erst aufkommen lässt.

Keine Sozialdemokratie kann aber in dieser Beziehung so erfolgreich wirken wie die deutsche, denn keine verfügt über eine solche Presse wie diese. In Frankreich und England zum Beispiel ist die große Presse fast ganz in bürgerlichen Händen, verfügen die kapitalistischen Schichten fast ausschließlich über das gewaltigste Mittel, kriegerische Stimmungen zu entflammen.

Dagegen durfte die deutsche Sozialdemokratie in Essen mit Stolz die Mitteilung entgegennehmen, dass die Auflage ihrer Zeitungen die erste Million überschritten hat. Und dabei ist der Absatz noch in raschem Wachstum begriffen und ist unsere Partei unter dem Eindruck der letzten Wahl aufs Energischste beschäftigt, ihre Presse auszubauen und zu vervollkommnen, von welchem Bestreben auch das neue Nachrichtenbüro Zeugnis gibt, das in Essen begründet wurde.

Die Internationale darf also mit vollster Zuversicht der deutschen Sozialdemokratie vertrauen. Wenn nicht immer mit denselben Mitteln, so doch stets mit derselben Energie und Kraft, wie die am gewaltigsten vorwärtsdrängenden sozialistischen Parteien des Auslands, wird sie stets ihre Pflicht erfüllen.

Essen hat unsere Partei so einmütig und geschlossen gezeigt wie nur je und dies wurde nicht etwa erzielt durch Erschlaffung und Indifferenz. Nein, Essen hat auch gezeigt, dass das klassenbewusste deutsche Proletariat ebenso eifrig wie bisher darüber wacht, dass der revolutionäre und internationale Charakter unserer Bewegung nicht die leiseste Abschwächung erfahre.

Wir haben allen Grund, mit diesem Parteitag zufrieden zu sein.

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