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Karl Kautsky 19071120 Die Verelendung der Zwergbauern

Karl Kautsky: Die Verelendung der Zwergbauern

[Nach „Die Neue Zeit: Wochenschrift der deutschen Sozialdemokratie.“ - 26.1907-1908, 1. Band (1907-1908), Heft 8 (20. November 1907), S. 252-258]

Es waren jetzt zehn Jahre, dass die revisionistische Bewegung ihren Ausgangspunkt nahm mit Bernsteins Artikeln in der „Neuen Zeit" über Probleme des Sozialismus, die so viele Erwartungen rege machten – ich muss gestehen, eine Zeitlang auch bei mir. Aber niemand bezeugte jetzt Lust, das Jubiläum des Revisionismus zu feiern. Denn von den großen Erwartungen, die er herausgefordert, hat er nicht eine erfüllt.

Eine sonderbare Ironie des Schicksals will, dass gerade zur Zeit dieses Jubiläums eine Schrift unseres Genossen Vandervelde erscheint. die neues Licht auf Fragen wirft, an denen nach der Behauptung der Revisionisten der Marxismus gescheitert sein sollte: die Fragen der von ihnen so genannten Theorie der „Verelendung" und der Überlegenheit des landwirtschaftlichen Kleinbetriebs.

Die Schrift führt den Titel: „Verbessert sich die Lage der Landleute?" und sie erlaubt uns, diese Frage ausreichend zu beantworten. Unter den vielen wertvollen Beiträgen zur Erkenntnis belgischer Agrarverhältnisse, die wir Vandervelde verdanken, steht sie nicht in letzter Linie.*

Sie zeigt uns in ausführlicher Weise die Veränderungen, die in einem Dorfe Brabants seit 1833 vor sich gegangen sind.

In diesem Jahre hatte die englische Regierung eine Enquête über die Armengesetze veranstaltet. Einer der Kommissäre der Enquête, der Nationalökonom Nassau W. Senior, sammelte Daten über die Lage der Tagelöhner in England und auf dem Kontinent und wandte sich zu diesem Zwecke an den Grafen Arrivabene in Belgien, der als Antwort eine Monographie über die Lage der Bewohner des Dorfes Gaesbeek gab, auf Grund der Beantwortung eines ausführlichen Fragebogens, der nicht weniger als 154 Fragen umfasste. Jetzt hat Vandervelde denselben Fragebogen aufgenommen und dessen Fragen durch seinen Freund E. Doms, einen vortrefflichen Kenner der Gegend, den Bewohnern von Gaesbeek wieder vorlegen lassen. So wurde es möglich, bis in die kleinsten Details die Veränderungen zu verfolgen, die sich im Laufe der letzten zwei Menschenalter in diesem Dorfe vollzogen haben, dessen Entwicklung in keiner Weise eine außergewöhnliche war und als eine typische gelten kann.

Da finden wir auf den ersten Blick manches, das Wasser auf die Mühle unserer Marxkritiker zu sein scheint. Auf der einen Seite hat der Kleinbetrieb zugenommen, andererseits sind die Anzeichen von Wohlhabenheit gewachsen. Die Löhne sind erheblich gestiegen, die Häuser besser gebaut, die Kleidung neuer und mannigfaltiger, mehr nach städtischer Art; das Essen wird besser serviert, Zeitungen werden gelesen, die Zahl der Kaufleute hat sich vermehrt, schon die Kinder benutzen jetzt die Sparkassen, indes solche 1833 in Gaesbeek absolut unbekannt waren.

Alles das sind typische Erscheinungen, aus denen die bürgerliche Vulgärökonomie schon lange die ihr genehmen Schlüsse gezogen hat. Aber das Bild ändert sich, wenn wir uns nicht mit der vulgärökonomischen Oberflächlichkeit begnügen.

Der Kleinbetrieb hat zugenommen. Aber die Zentralisation des Grundeigentums ebenfalls. Ein paar große Grundbesitzer haben fast das ganze Terrain an sich gebracht. Dank dem ist der Monopolcharakter des Grundeigentums unendlich gesteigert. Das erlaubt den Grundeigentümern, die Notlage derjenigen, die nach Boden verlangen, mehr als je auszubeuten. Je ärmer der Mann, desto größer seine Notlage, desto eifriger arbeitet er, desto weniger nimmt er für sich in Anspruch. Die Zwergpächter zahlen daher Pachten, wie sie der wohlhabende Pächter nie bezahlt, der gut leben und seinen Kapitalprofit machen will. Der größere Pächter zahlt 90 bis 150 Franken für den Hektar, der kleine dagegen 130 bis 200, ja sogar 250 bis 300 (S. 19).

Dank dem werden die größeren Pachtungen immer mehr zerstückelt. In sechs Jahren hat ein Großgrundbesitzer die Zahl seiner Pächter von 170 auf 330 gebracht (S. 20).

1833 gab es noch 13 Betriebe mit 12 bis 60 Bonniers (à 121,6 Ar, also mit 15 bis 75 Hektar), 1895 nur noch 4 mit mehr als 10 Hektar. 1833 besaß jeder dieser 13 Betriebe 2 bis 4 Pferde. 1895 gab es nur noch 7 Betriebe mit je 1 Pferd.

Schon das bezeugt. dass die Zunahme des Kleinbetriebs gleichbedeutend ist mit einem technischen Rückgang. Freilich vom bürgerlichen Standpunkt ist das nicht wichtig. Der fragt nur nach dem Profit und der Grundrente, nur nach dem Überschuss, den der Arbeiter dem Besitzer der Produktionsmittel liefert. Ein Sozialist muss aber verstehen, sich von dieser bürgerlichen Auffassung freizumachen und zu fragen, mit welchem Arbeitsaufwand das Produkt geliefert wird. Das ist für den Arbeiter der entscheidende Standpunkt.

Vom proletarischen Standpunkt aus ist es ein gewaltiger Rückschritt, wenn menschliche Arbeitskraft die Arbeitskraft anderer Faktoren ersetzt. Wenn die Arbeit. die früher von etwa 30 Pferden im Dorfe verrichtet wurde, heute von Menschen geleistet werden muss, ist das vom sozialistischen Standpunkt sicher das Gegenteil von Fortschritt. Dem Sozialismus handelt es sich darum, den Menschen von harter Fron zu entlasten, nicht ihn zu wachsender Mehrarbeit zu zwingen.

Man kann im Allgemeinen sagen, dass der Kleinbetrieb im Verhältnis zur aufgewendeten menschlichen Arbeitskraft weniger leistet als der Großbetrieb. Aber dabei kann er doch pro Bodenfläche mehr leisten. In Gaesbeek ist nicht einmal das der Fall. Die Kleinbetriebe sind viel schlechter bearbeitet als die größeren; schlechter beackert, vielfach mit Kühen statt mit Pferden; nicht drainiert. ungenügend gedüngt; die Zwergpächter selbst, von Überarbeit erdrückt und mittellos, da sie alle Überschüsse den Grundherren abzuliefern haben, ohne das Wissen und das Kapital, irgend welche Verbesserungen einzuführen (S. 18). Und trotzdem wächst ihre Zahl, verdrängen sie die größeren Betriebe aus dem einfachen Grunde, weil die kleinen Pächter wegen ihrer größeren Notlage leichter auszubeuten sind als die großen. Welche Überlegenheit des Kleinbetriebs!

Aber ist mit der Zahl der Kleinbetriebe nicht auch die Wohlhabenheit in Gaesbeek gewachsen, wie die oben mitgeteilten Erscheinungen dartun? In Wirklichkeit bezeugen diese nichts als den Übergang von der Produktion für den Selbstgebrauch zur Warenproduktion, oder, wie man das in der bürgerlichen Ökonomie ausdrückt. von der Naturalwirtschaft zur Geldwirtschaft. Eine Reihe von Dingen, die der Landmann ehedem selbst produzierte, kauft er jetzt, und natürlich vermag die moderne Industrie ihm manches zweckmäßiger und auch reichlicher zur Verfügung zu stellen als seine eigene Pfuscharbeit, die er neben der Landwirtschaft leistet. Seine Frauen und Töchter spinnen nicht mehr, verarbeiten nicht mehr den Flachs des eigenen Feldes, um das Gespinst im Dorfe selbst für den Gebrauch der Familie verweben zu lassen. Seit zwanzig Jahren wird kein Flachs mehr gebaut und kein Weber existiert mehr in der Gemeinde (S. 51).

Wäsche wie Kleider werden jetzt gekauft.

So baut auch der Bauer nicht mehr seine Hütte aus dem Holz des Gemeindewaldes und aus Lehm, sondern Bauhandwerker bauen sie aus Steinen und Ziegeln (S. 24) Aber dafür gehörte ehedem selbst dem Tagelöhner in der Regel sein Haus und sein Garten, heute ist diese Regel zur Ausnahme geworden. Die meisten wohnen zur Miete. Und kostete die Miete einer Hütte vor sechzig bis siebzig Jahren 30 Franken im Jahre, so heute 10 bis 12 Franken im Monat, also mindestens viermal soviel (S. 23). Die Löhne dagegen sind bei weitem nicht in dem Maße gestiegen. Sie haben sich kaum verdoppelt. So bezogen die Knechte 1833 100 bis 140 Franken im Jahre, heute erhalten sie 180 bis 240 (S. 21).

Die Häuschen sind dabei wohl schmucker, auch reinlicher geworden, indessen nicht größer. Und verfügte vor zwei Generationen noch jeder Insasse der ärmlichen Hütte über sein eigenes Bett, so kann das jetzt nicht mehr gesagt werden. Mitunter schlafen sogar drei in einem (S. 46).

Dafür wurde freilich der enorme Fortschritt gemacht, dass das Essen besser serviert wird. Das Geschirr ist billiger geworden, die Manier, aus einer gemeinsamen Schüssel zu essen, kommt allmählich ab, in manchen Familien sind schon Teller für jeden Einzelnen im Gebrauch.

Der Inhalt der Schüsseln und Teller aber hat sich ebenso wenig gebessert als die Schlafgelegenheiten in den Häusern. Wohl essen sie nicht mehr reines Roggenbrot, sondern Brot aus Weizenmehl oder gemischtem Mehl (S. 38). Aber dieser Wechsel ist von geringem Belang. Ihm steht der schwere Nachteil gegenüber, dass der Pächter und Bauer ehedem seine Milch verzehrte, indes er sie heute verkaufen muss, um seine Ausgaben decken zu können. Er gibt sie an die Molkereigenossenschaft ab.

Das wird mir freilich eine Rüge Davids eintragen.

In meiner „Agrarfrage" hatte ich darauf hingewiesen, dass die so viel gepriesenen Molkereien ein zweischneidiges Schwert seien, da sie dem Bauern zwar Geld brächten, aber ihm sein bestes Nahrungsmittel entzögen, dem er bisher in erster Linie neben dem Arbeiten in frischer Luft seine körperliche Überlegenheit über den Städter zu danken habe. Die Molkerei, die den Bauern ökonomisch retten soll, sei ein wirksames Mittel, ihn physisch zu ruinieren.

Diese Bemerkung dünkte David höchst abgeschmackt, und er höhnte mich darob weidlich in seinem Buche über „Sozialismus und Landwirtschaft":

Andere Menschen pflegen, wenn sie bessere Einnahmen erhalten, auch ihrem Magen etwas davon zugute kommen zu lassen. Es liegt das sozusagen in der Natur des Menschen, dass er gern etwas Gutes isst. wenn er das nötige Kleingeld dazu hat. Da ist es doch höchst seltsam, dass der Bauer, der für seine Milch zugestandenermaßen infolge der Genossenschaft mehr Geld erhält wie vorher, es nicht auch so macht wie andere Menschenkinder. Man kann sich das offenbar nur daraus erklären, dass sich die Bauern so ans Hungern gewöhnt haben, dass sie nicht mehr davon lassen können, selbst wenn sie es nicht mehr nötig haben. Das Hungerleiden ist zur wahren Leidenschaft geworben, der sie um so mehr frönen, je wohlhabender sie werden" (S. 555)

In der Tat. Kann man sich etwas Lächerlicheres vorstellen? So dumm wie ich ist natürlich der Davidsche Bauer nicht. Dieses Prachtexemplar eines Schlaumeiers hungert vor der vollen Milchschüssel, weil er keinen Käufer dafür findet. Er wagt es nicht, seine eigenen Produkte zu verzehren, er will nur von gekauften Nahrungsmitteln leben. Er bildet sich ein, wenn er seine Milch verkauft, dafür Geld erhält und um dieses Geld wieder Milch kauft. ein glänzendes Geschäft dabei zu machen, an Nahrungsmitteln zu gewinnen und wohlhabend dabei zu werden, denn – er bekommt dadurch Geld in die Hand, und am Golde hängt doch alles, heißt es in dem von David so gern zitierten „Faust".

Anders vollzieht sich der Prozess, wenn man sich durch den Anblick von Geld nicht berücken lässt. Wenn der Bauer seine Milch verkauft, tut er es nicht, um mit dem Erlös seinen Hunger zu stillen. Da wäre ja seine ganze Manipulation sinnlos. Sondern wenn er die Milch verkauft, die er mit den Seinen ehedem selbst konsumierte, so tut er dies, weil er Geld zu anderen Dingen braucht als zur Stillung seines Hungers. Vielleicht um Steuern zu zahlen oder einen Pachtzins oder einen Hypothekenzins, wenn er glücklicher Besitzer seines Bodens ist. Oder er muss Kleider kaufen oder Werkzeuge. Natürlich hat er auch den Nährwert der verkauften Milch zu ersetzen, aber es wäre sinnlos, kaufte er ein gleichwertiges Nahrungsmittel. Er kauft ein billigeres Surrogat, Margarine statt Butter, Magermilch für seine kleinen Kinder, die der Milch nicht ganz entraten können, statt der Vollmilch. Was er billig erwirbt, ist oft schwerverdauliches Zeug – dann soll der Alkohol helfen, die geschwächte Verdauung zu befördern und die herabgedrückten Lebensgeister zu beleben. Mit der Molkerei gedeiht auch die Schnapsbude im Dorfe. 1833 gab es in Gaesbeek drei Schenken, heute gibt's ihrer siebzehn. Dabei hat sich die Bevölkerung kaum vermehrt. Sie zählte 1833 364 Köpfe, 1900 355, und ist seitdem etwas gewachsen, auf 405 Einwohner (1906).

Das sind keine ausnahmsweisen Erfahrungen. In der Schweiz weiß man seit langem, dass der Schnaps ins Bauernhaus eindringt, wenn es seinen Milchkonsum einschränkt, um nach Davidschem Rezept „wohlhabend" zu werden.

Vor einiger Zeit gingen folgende Notizen durch die Zeitungen: „Als ein hygienischer Nachteil in den Molkereien muss es angesehen werden, dass vielfach in den Familien der Milchproduzenten nur noch Magermilch von sehr geringem Fettgehalt genossen wird und daraus den Kindern Schaden in der Ernährung droht. Namentlich in Bayern gingen Hand in Hand mit der Zunahme der Molkereien und der Käsegenossenschaften Klagen über den Rückgang der Ernährung und der körperlichen Entwicklung der bäuerlichen Bevölkerung. Das bayerische Staatsministerium weist daher darauf hin, dass die Verbesserung der Milchverwertung und die Ausbildung des Käsereiwesens, die vielfach eine Erhöhung des Gewinns zur Folge haben, für den Viehbesitzer oft den Anreiz bilden, alle verfügbare Milch in Geld umzusetzen, das Milchbedürfnis des eigenen Hausstandes hintanzusetzen und sich mit Magermilch und anderweitigen Fettsurrogaten zu begnügen. Auch der Alkoholismus werde auf diese Weise befördert.''

Man sieht, die bürgerliche Regierung Bayerns zeigt mehr sozialpolitisches Verständnis als unser sozialdemokratischer Abgeordneter und Referentenführer. Freilich wurde ihr Blick durch militärische Bedenken geschärft.

So schrieb der „Vorwärts" am 5. Mai 1907:

Bei der dieser Tage erfolgten Rekrutenaushebung in Lindau (Landbezirk) wurden von 604 Gestellungspflichtigen nur 20 Mann tauglich befunden, 217 zurückgestellt. Die übrigen 367 jungen Leute mussten infolge ihrer Körperbeschaffenheit gleich von vornherein als nicht tauglich für das aktive Heer erklärt werden. Diese vom volkswirtschaftlichen Standpunkt aus sehr bedauerliche Erscheinung hat einen sehr interessanten Hintergrund. Die Bevölkerung im Allgäu galt bis in die letzten Jahrzehnte als gesundes, kerniges Volk. Gab es in den Haushaltungen im Allgemeinen auch nicht täglich Fleisch, so bildete doch die als besonders gut und fettreich bekannte Milch des Allgäus einen Hauptbestandteil in der Ernährung dieses Volkes. Im Laufe der Jahrzehnte bildete sich die Allgäuer Käserei aber vom Kleinbetrieb zum kapitalistischen Großbetrieb durch. … Die zu Großbetrieben ausgewachsenen Käsereien brauchen aber viel Milch, und was früher an Milch zum größten Teile dem Eigengebrauch und gewissermaßen als Volksnahrung diente, das wandert heute alles in die Käsefabriken, und die Bevölkerung selbst begnügt sich mit der entfetteten, anderswo als Schweinefutter dienenden Milch, die nach Durchwanderung des ersten und zweiten Produktionsprozesses von der Fabrik zurückgekauft wird.“

Was schert das alles unseren Kantschen Ethiker? Der Bauer bekommt Geld in die Hand, und ein Esel, ein marxistisch verstockter Dogmatiker, wer bezweifelt. dass ihn das wohlhabend macht und kräftig nährt.

Ähnlich urteilt bekanntlich die Vulgärökonomie auch über die Fabrikarbeit der Kinder. Das Kind bekommt Geld in Hand, also wird dadurch der Wohlstand der Arbeiterfamilie gehoben.

Wir denken anders über den Wohlstand, und auch die Zunahme des Wohlstandes der Gaesbeeker Zwergpächterfamilien scheint uns höchst zweifelhafter Natur zu sein: außen hui und innen pfui!

Der Graf Arrivabene versuchte ein Haushaltsbudget aufzustellen und kam dabei zu dem allerdings nicht ganz zuverlässigen Resultat einer Einnahme von 840 Franken und einer Ausgabe von 898, also einem Defizit von rund 60 Franken. Die neuere Enquête von 1906 versuchte dasselbe, doch kam sie zu keinem verlässlichen Resultat. Aber jede ihrer Aufstellungen führte, wie Vandervelde sagt, „zu einem enormen Defizit. Das ist", fährt er fort, „zweifellos auch die reine Wirklichkeit und die Ursache, warum schließlich so viele Familien im Grunde im tiefsten Elend leben. Bei allen unseren Aufstellungen haben wir keinen Tagelöhner gefunden, der im Ganzen pro Kopf und Tag 45 Centimes auszugeben hatte. Wir haben welche gefunden, die nur über 27 und 32 verfügten. Und man versichert uns, dass es noch ärmere gibt."

Dafür ist die Arbeitslast, die vordem schon groß genug war, noch gewachsen. Je kleiner die einzelne Parzelle, je höher der Pachtzins, um so mehr muss sich die Familie plagen, aus dem Land herauszuschinden, was herauszuholen ist; und da dessen Ertrag nicht langt, muss Lohnarbeit zur Deckung des Defizits eintreten, entweder landwirtschaftliche oder industrielle im benachbarten Brüssel, das seit einigen Jahren durch eine Kleinbahn mit Gaesbeek verbunden ist.

Verdingt sich der Mann, dann müssen oft Weib und Kind allein den landwirtschaftlichen Betrieb besorgen. Höchstens an Sonntagen hilft der Mann mit. Oft aber müssen auch Frauen und Kinder Geld verdienen.

Die Enquête von 1833 gab als das Alter, in dem die Kinder in Dienst treten, vierzehn bis achtzehn Jahre an. Die von 1906 dagegen verzeichnet als das gewöhnliche Alter dafür elf bis zwölf Jahre! (S. 28). Die Zahl der Tagwerke, welche die Frauen im Jahr durchschnittlich für Lohn arbeiten, wurde 1833 auf 50 angegeben, 1906 auf das Doppelte! (S. 44).

Über die Arbeitszeit endlich wurde mitgeteilt:

1833. „Im Sommer beginnt das Tagwerk um 6 Uhr morgens und endet um 6 Uhr abends, im Winter beginnt es um 7 Uhr morgens und endet um 6 Uhr abends. Im Sommer gibt es 2½ Stunden, im Winter 2 Stunden ,Ruhepausen'.

1896. „Die Tagelöhner, die 1,50 Franken erhalten, arbeiten von 5 Uhr morgens bis 12 Uhr und von 1 bis 7 Uhr im Sommer, im Winter von 6 bis 11 und von 1 bis 6 Uhr.

Jene, die nur 1 Franken bekommen, arbeiten von 6 bis 11 und von 1 bis 6 Uhr sommers und winters.

Im tiefsten Winter beginnt die Arbeit mit Anbruch der Tageshelle und dauert bis in die Dämmerung" (S. 42).

1833 betrug also die Arbeitszeit 9½ Stunden im Sommer und 8 Stunden im Winter. Jetzt ist sie gestiegen für die einen Arbeiter auf 10 Stunden im Sommer und Winter, für die anderen auf 13 Stunden im Sommer und 10 im Winter. In der Tat. ein gewaltiger Fortschritt! Dafür machten auch die Arbeiter ehedem am Montag „blau", was jetzt aufhört (S. 43).

Dies die wichtigsten Ergebnisse der Vandervelde-Domsschen Enquête Sie gewähren uns einen höchst lehrreichen Einblick in die Entwicklungstendenzen der kapitalistischen Wirtschaft auf dem Lande – freilich nur für den einen Pol, den proletarischen. Wie sich die Lebenslage des anderen Pols, des besitzenden, gestaltet, lässt sie uns nicht erkennen. Die Verhältnisse der wohlhabenden Bauern und Pächter werden nur gestreift. die der großen Grundbesitzer nicht berührt. Und doch müssten wir sie kennen, um vollständig die Wandlungen der Lage von Zwergpächtern und Landarbeitern in der Gesellschaft erfassen zu können. Aber sicherlich ist die Arbeitslast der Herren großen Grundbesitzer als solcher nicht gestiegen, sondern gleich Null geblieben, ihr Einkommen hat sich aber pro Hektar erheblich, vielleicht um das Vierfache, gesteigert, indes gleichzeitig die Zahl der Hektar wuchs, die jeder von ihnen besaß.

Trotz der Verdoppelung der Löhne, des Auskommens, der Ziegelhäuser, der städtischen Kleidung, des Weizenbrotes, der zahlreichen Wirtshäuser werden wir uns also nicht täuschen lassen. Die Ernährung und Wohnung der Zwergpächter ist in manchen Punkten eine schlechtere geworden, ihre Arbeitslast gewachsen, indes die Lage ihrer Ausbeuter sich nach allen Richtungen ungemein verbessert hin. Mit anderen Worten: die Ausbeutung der ländlichen Arbeiter hat enorm zugenommen.

Damit hat sich aber auch der Klassengegensatz verschärft. Die Enquête von 1833 konnte mit Genugtuung konstatieren, dass die Tagelöhner und Zwergpächter in keiner Weise unzufrieden seien und in herzlicher Weise mit den großen Pächtern verkehrten. Wie sie sich zu den Grundherren stellen, wurde damals gar nicht gefragt. 1906 dagegen beobachtet man eine tiefgehende Unzufriedenheit und Erbitterung der ärmeren Elemente gegen die reichen und steigende Auflehnung gegen den bestehenden Zustand der Dinge (S. 69, 70).

Und das ist nicht etwa eine Folge sozialdemokratischer „Verhetzung". Die Gemeinde ist noch klerikal, nur klerikale Zeitungen werden dort gelesen (S. 65, 66).

Aber die Logik der Dinge spricht laut genug und ganz im Sinne der marxistischen „Dogmatiker".

Freilich ist es nicht die Zunahme der Klassengegensätze allein, der die rebellische Stimmung der Gaesbeeker Tagelöhner und Zwergpächter zuzuschreiben ist. Dazu kommt noch ein anderer Faktor, den die kapitalistische Produktionsweise mit derselben Naturnotwendigkeit erzeugt, wie das Wachstum der Klassengegensätze, ein Faktor, in dem sie sich trotz aller Tendenzen zur Verelendung der Volksmassen als wahrer Kulturbringer erweist: die Revolutionierung des Verkehrs. Das kleinste und entlegenste Dorf reißt sie aus seiner Abgeschiedenheit und stellt es mitten in den Strom aller der riesenhaften Umwälzungen und Kämpfe, die sie mit sich bringt. Sie erweitert den Blick der Menschen über den Horizont des Kirchturms und des Augenblicks hinaus, zerstört ihre tiefst wurzelnden Gewohnheiten, zeigt ihnen Schlag auf Schlag die Verwirklichung unerhörter Neuerungen, lässt das Kühnste für möglich, das Schönste für unerlässlich halten, lässt sie aber auch gleichzeitig die Armseligkeit ihrer Existenz schmerzlicher als je empfinden.

So bereitet sie den Boden in Stadt und Land für die Propaganda der Sozialdemokratie.

* Émile Vandervelde, Le sort des campagnards s'améliore-t-il? Brüssel, Nisch & Thron, 128, Rue Royale, 72 Seiten.

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