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Karl Kautsky 19080829 Die Budgetbewilligung

Karl Kautsky: Die Budgetbewilligung

[Nach „Die Neue Zeit: Wochenschrift der deutschen Sozialdemokratie.“ - 26.1907-1908, 2. Band (1907-1908), Heft 49 (29. August 1908), S. 809-826]

1. Der Disziplinbruch

Den Mittelpunkt der Beratungen des Nürnberger Parteitags wird wohl der Zankapfel bilden, den einige unserer süddeutschen Landtagsabgeordneten kurz vor dessen Zusammentritt in unsere Reihen geworfen haben. Der Parteitag wird damit vor eine Alternative höchst unerfreulicher Art gestellt. Er muss entweder die Aktion der drei größten süddeutschen Landtagsfraktionen energisch missbilligen oder einen Parteibeschluss und die Parteivertretung desavouieren.

Freilich, manche süddeutschen Genossen erwarten, es werde keines von beidem geschehen, man werde eine „vermittelnde" Resolution annehmen, die so vage ist, dass sie jeder in seinem Sinne auslegen kann, oder von jedem Beschluss absehen. Anders ist kaum die Bemerkung der Stuttgarter „Tagwacht" zu verstehen:

Wir haben nun richtig wieder vor dem Parteitag einen ,Fall', der zum Ergötzen der Gegner uns wochenlang beschäftigen und schließlich mit einem Kompromiss endigen wird" (13. August).

Für unsere süddeutschen Parteiorgane besteht das Verwerfliche des Falles sonderbarerweise nicht in dem „Fall" selbst, sondern in seiner Kommentierung. Wenn man sie hört, fühlt man sich an die Maxime so mancher Regierungen erinnert, die von ihren Untertanen verlangen: „Zahlen und Maulhalten“, so fordern jetzt die Verfechter der Budgetbewilligung von den Genossen gegenüber den Abgeordneten: „Wählen und Maulhalten". Natürlich ist man zu ethisch-ästhetisch, um sich eines so schlechten Tones zu bedienen. Die Regierungen geben ihrer Forderung an die Untertanen den schönen Namen „Patriotismus", und die Forderung an die Genossen tritt auf als das Verlangen nach „Parteifrieden“.

Das Wort hat einen bestechenden Klang. Diesmal aber dürfte seine Wirkung versagen. Und auch die Erwartung der „Tagwacht" dürfte nicht in Erfüllung gehen, dass die Nürnberger Behandlungen über die Budgetbewilligung wie das Hornberger Schießen ausgehen. Die Masse der Genossen allenthalben fühlt denn doch, dass die Situation zu ernst ist. Gelingt es dem Nürnberger Parteitag nicht, eine entschiedene und klare Entscheidung zu fällen, dann gestattet er stillschweigend, dass Parteitagsbeschlüsse für Süddeutschland wegen seiner „Eigenart" nicht gelten, er macht die Bahn frei für eine Entwicklung, die sicher noch keinem unserer süddeutschen Genossen als bewusste Absicht vorschwebt, die aber durch die Logik der Tatsachen auf eine Trennung der deutschen Sozialdemokratie in zwei Parteien hinausliefe, ähnlich der der deutschen bürgerlichen Demokratie, die neben der Fortschrittspartei und ihren Nachfolgern noch die süddeutsche Volkspartei aufweist. Ginge der Parteitag einer klaren Entscheidung durch eine „vermittelnde", einstimmig angenommene Resolution aus dem Wege, so stellte er damit aber auch einen Freibrief für alle Abgeordneten auf, Parteitagsbeschlüsse zu missachten und sich über und außerhalb der Parteidisziplin zu stellen.

Es wäre die Anbahnung von Zuständen, wie sie in Frankreich und Italien Parlamentarier herbeiführten, denen die hier in Frage kommenden süddeutschen Abgeordneten und deren Freunde stets große Sympathien entgegengebracht haben; die Anbahnung von Zuständen, die in den genannten Ländern die schlimmste Desorganisation der Partei nach sich zogen.

Das deutsche Proletariat legt zu großen Wert auf seine Disziplin und Geschlossenheit, als dass es diese Beispiele nachahmen wollte. Es wird die Ansätze dazu im Keime ersticken.

Die „Tagwacht" wird wohl an die württembergische Fraktion denken, die im vorigen Jahre das Budget bewilligte und doch einem missbilligenden Votum entging. Dieser „Fall" wird es auch gewesen sein, der Badensern und Bayern den Mut gab, ihn nachzuahmen.

Der Fall beweist aber bloß, dass wir wegen unserer „Ketzerriecherei" so geschmähten „Großinquisitoren" immer noch viel zu gutmütig sind.

Wenn der württembergische Fall im vorigen Jahre keinen strengen Tadel fand, so offenbar deshalb, weil man in ihm eine vereinzelte Entgleisung sah, deren Korrigierung man ohne große Staatsaktion dem Landesparteitag überlassen könne. Diese Korrektur unterblieb, aber die württembergische Fraktion braucht auf ihren Erfolg dabei nicht besonders stolz zu sein. Sie fand es nötig, in höchst wenig parteigenössischer Weise auf den Parteitag den stärksten Druck auszuüben, indem sie erklärte, eine Missbilligung der Budgetbewilligung sei für sie unannehmbar, das heißt mit anderen Worten, würde für sie ein Grund, ihre Mandate niederzulegen.

Diesmal liegt die Situation aber doch anders.

Wollten die süddeutschen Abgeordneten dem Parteitag für den Fall ihrer Desavouierung mit der Mandatsniederlegung drohen, würden sie sich nur lächerlich machen. Sind sie es doch oder ihre Freunde, die an den Parteitag appellieren! Wollten sie gleichzeitig dem Parteitag die Pistole auf die Brust sehen, so erinnerten sie zu lebhaft an jenen heißblütigen Maler, der einen eben gekommenen Freund mit den Worten empfing: „Nun, wie findest du mein neuestes Bild? Sage mir ganz ohne Rückhalt deine Meinung. Eben war der Müller da, er meinte, diesmal hätte ich mich verhauen. Der Esel! Ich habe das Rindvieh sofort hinausgeschmissen!"

Andererseits kann man diesmal nicht mehr von einem vereinzelten Falle reden, einem übereilten Beschluss, der sich nicht so leicht wiederholen werde. Jetzt haben wir es mit einem wohlerwogenen Vorgehen zu tun und einem solchen, das unter recht wenig kameradschaftlichen Formen vor sich ging, die starke separatistische Gelüste verraten. Die süddeutschen Abgeordneten besprachen sich darüber in geheimer, nicht bloß geschlossener Sitzung. Sicher hat jede Körperschaft das Recht, Interna in geschlossener Sitzung zu beraten, aber seit wann bilden die Landtagsabgeordneten der vier süddeutschen Fraktionen zusammen eine geschlossene Körperschaft? Haben die Landtagsabgeordneten gemeinsame Angelegenheiten zu besprechen, so sind das solche, die die norddeutschen ebenso angehen wie die süddeutschen. Seit wann aber gehört die Budgetbewilligung zu den gemeinsamen Angelegenheiten, die die süddeutschen Abgeordneten in corpore interessieren, die übrige Partei aber nichts angehen? Wenn jede Landtagsfraktion selbständig ist und das Recht hat, dem Parteivorstand die Tür vor der Nase zuzuwerfen, warum das Bedürfnis der Badenser, sich mit den Bayern und Hessen über ihre Fraktionssache auseinanderzusetzen? Und warum sollen die Hessen von der bayerischen Eigenart mehr verstehen als etwa die Thüringer oder Sachsen? Endlich dann gar noch das Gerede von der „Berliner Zentralinstanz", die sich in süddeutsche Angelegenheiten nicht einzumengen habe!

Und das alles, um ein Vorgehen anzubahnen und zu decken, das von der Masse der Genossen als eine Verhöhnung eines Parteitagsbeschlusses betrachtet wird.

Die Budgetbewilliger und ihre Freunde berufen sich auf das Organisationsstatut, in dem von einer Überwachung der Fraktionen durch den Vorstand nichts stehe, sowie auf den Wortlaut der Lübecker Resolution, der Ausnahmen zulasse. Jede Fraktion habe das Recht, diesen Satz so auszulegen, wie es ihr gut dünke.

Parteitagsbeschlüsse sind jedoch keine Staatsgesetze. Der Staat ist eine Zwangsinstitution, seine Gesetze haben den Zweck, einzelnen Individuen und Klassen seinen Willen aufzuzwingen. Angesichts der großen sozialen und persönlichen Interessengegensätze in der bestehenden Gesellschaft gibt es stets Interessen, die durch ein Gesetz verletzt werden und die daher alles aufbieten, jede Lücke, jede ungenaue Wendung im Gesetz herauszufinden, um ihm zu entschlüpfen.

Die Partei ist keine Zwangsinstitution, sondern eine Vereinigung Gleichgesinnter zur Erringung gleicher Ziele. Ihre Beschlüsse haben nur den Zweck, in zweifelhaften Fällen den Genossen zu zeigen, wie die Mehrheit denkt, um jene Einheitlichkeit und Geschlossenheit des Handelns zu ermöglichen, ohne die die Kräfte der Kämpfenden sich zersplittern und ihre Bestrebungen zuschanden werden. Da genügt es, dass die Beschlüsse klar genug sind, um den Willen der Mehrheit erkennen zu lassen.

Was die Mehrheit des Lübecker Parteitags wollte, daran kann kein Zweifel sein, namentlich nach der Begründung, die der Verfasser des angenommenen Antrags, Bebel, diesem gegeben, und angesichts der Vorgänge, die den Antrag veranlasst hatten. Er wurde auch allseitig richtig verstanden, da die süddeutschen Genossen hinfort bis vor kurzem von jeder Budgetbewilligung absahen. Sollten sie aber jetzt plötzlich wirklich in Zweifel darüber geraten sein, wie der Lübecker Beschluss aufzufassen sei, hätten sie erst recht die Pflicht gehabt, sich darüber mit dem Parteivorstand auseinanderzusetzen. Wenn sie dagegen den Lübecker Beschluss einer rabulistischen Auslegung unterziehen und im ihrem Vorgehen, das sie aus diese Auslegung stützen, Partei und Parteivorstand überrumpeln, weil das Organisationsstatut derartiges nicht ausdrücklich verbietet, so handeln sie der Mehrheit der Partei und ihrer Vertretung gegenüber nicht wie Genossen, sondern wie Prozessgegner.

Und wozu das? Lag der geringste Anlass zu der Befürchtung vor, die Interessen des Proletariats könnten geschädigt werden, wenn die betreffenden Fraktionen wieder das Budget ablehnten, wie sie es bisher schon so oft getan, wobei sie und unsere Sache gleich gut gediehen waren? Was war plötzlich eingetreten, das eine solche unerwartete Schwenkung ohne vorherige Befragung der Partei rechtfertigen konnte?

Die Argumente, die von Seiten der Budgetbewilliger vorgebracht werden, sind nur Ausflüchte oder Entschuldigungen; irgend einen zwingenden Grund, gerade diesmal für das Budget stimmen zu müssen, enthält keines.

2. Staat und Proletariat

Die Lübecker Resolution erklärt, dass eine Zustimmung zu dem Budget nur ausnahmsweise, aus zwingenden Gründen geschehen dürfe. Daraus schließen die Verteidiger der Budgetbewilligung, dass sie keine Frage des Prinzips, sondern bloß eine solche der Taktik sei, denn ein Prinzip lasse keine Ausnahmen zu.

Wir brauchen uns hier nicht in die etwas scholastische Frage zu vertiefen wo das Prinzip aufhört und die Taktik anfängt. Sicher ist es, dass unsere Taktik nichts anderes ist als die Anwendung bestimmter bleibender Grundsätze auf wechselnde Situationen. Mit einer Veränderung der Situation muss auch eine Veränderung der Taktik eintreten, bei allem Wechsel muss sie aber eine einheitliche, stets von den gleichen Grundsätzen getragene sein.

Der Grundsatz, von dem wir in der Frage der Budgetbewilligung auszugehen haben, ist unsere Auffassung vom Staate. Wir betrachten ihn als ein Organ der Klassenherrschaft die Regierungen als die Kommis der herrschenden Klassen. Darin unterscheiden wir uns von den Staatssozialisten, die im Staate eine über den Klassen schwebende unparteiische Macht erblicken, dagegen berühren wir und in unserer Auffassung des Staates mit den Anarchisten. Aber während diese schließen, wir hätten uns abseits vom Staate zu halten, jede Berührung mit ihm zu vermeiden, erklären wir das für unmöglich. Und ebenso wenig halten wir es für möglich, ihn einfach durch ein unpolitisches Wirken aufzuheben, unsere Aufgabe sehen wir vielmehr darin, die Staatsgewalt zu erobern, sie aus einem Organ der besitzenden Klassen in eines der besitzlosen, aus einem Organ der Unterdrückung in eines der Befreiung zu verwandeln.

Von diesen Grundsätzen aus haben wir unsere Stellung zum Staatsbudget zu betrachten. Da der Staat eine Festung ist, die wir erobern wollen, dürfen wir ihr während der Belagerung nicht selbst Proviant zuführen, und da wir möglichst große Massen der Bevölkerung zum Sturme auf diese Festung mobil machen wollen, müssen wir alles vermeiden, was ihr den Glauben beibringen könnte, sie hätte von der jetzigen Besatzung Gutes zu erwarten.

Aus beiden Gründen müssen wir den bestehenden Regierungen ausnahmslos das Budget verweigern.

Wie verhält es sich dann aber mit den Ausnahmen, von denen die Bebelsche Resolution spricht? Wenn man sie genau betrachtet, wird man finden, dass sie tatsächlich gar keine Ausnahmen von dem hier auseinandergesetzten Grundsatz darstellen.

Bebel wies in Lübeck darauf hin, dass er zwei Fälle im Auge hatte, als er den Satz vorschlug, ausnahmsweise solle eine Zustimmung zum Budget zulässig sein. Der eine Fall ist folgender:

Im Gothaer Landtag sitzen neun Genossen von uns und zehn Gegner. Nehmen wir an, nach der nächsten Wahl ist es umgekehrt! Dann verlangen wir selbstverständlich, dass unsere Genossen in Anbetracht ihrer Majorität das Budget nach ihrer Auffassung gestalten, und dann müssen sie doch auch dem Budget zustimmen."

Das ist sicher unbestreitbar, nur glaube ich, braucht man diesen Fall nicht als Ausnahme von der Regel hinzustellen. Die Regel bezieht sich selbstverständlich nur auf Budgets, die von gegnerischen Majoritäten gemacht, gegnerischen Regierungen bewilligt werden. Sitzen wir einmal in der Festung drin, müssen wir sie auch verproviantieren. Was hier als Ausnahme erscheint, ist tatsächlich unser politisches Ziel. Wir verweigern nicht das staatliche Budget, weil es ein Budget, sondern weil es ein Budget unserer Gegner ist. Aber wir streben überall nach der politischen Macht, nach einem Zustand, in dem wir das Budget nicht nur bewilligen dürfen, sondern sogar müssen, nach einem Zustand, in dem die Budgetbewilligung durch uns feste Regel wird.

Eine Ausnahme von dem Grundsatz, dass wir der Staatsgewalt die Mittel verweigern müssen, solange sie in den Händen der Ausbeuter des Proletariats liegt, ist damit nicht gegeben.

Und nun der andere Fall. Er wird durch die eigentümliche Steuertechnik mancher deutschen Vaterländer veranlasst. Dieser Fall, der zum Beispiel in Hessen schon eintrat. „ist der, dass ein für die Steuerzahler günstigeres Budget fallen kann und ihnen ein ungünstigeres aufgehalst wird, wenn unsere Genossen nicht für das erstere stimmen".

Das ist wohl so zu verstehen, dass das alte Budget von selbst in Kraft tritt, wenn ein neu vorgeschlagenes keine Annahme findet. Auch dieser Fall bildet keine Ausnahme von der Regel, denn hier handelt es sich tatsächlich nicht um eine Budgetbewilligung. Diese setzt doch das Recht der Budgetverweigerung voraus. Das besteht aber in dem gegebenen Falle nicht. Hier handelt es sich nicht darum, ob man das Budget bewilligen oder ablehnen soll, sondern darum, welches von zwei Budgets man vorziehen soll. Selbstverständlich das kleinere Übel.

Eine besondere Ausnahme für diese eigenartige Situation zu statuieren, ist ganz überflüssig. Niemand unter uns ist so verbohrt, eine Zwangslage, wie die angegebene, nicht zu begreifen.

So verwirft unsere Partei zum Beispiel auch prinzipiell jeden Lebensmittelzoll. Trotzdem stimmte unsere Reichstagsfraktion den Caprivischen Handelsverträgen zu, die einen Getreidezoll von 3,50 Mark festsetzten. Kein ernsthafter Politiker warf ihr deshalb einen Verrat an ihren Grundsätzen vor. Bei jenen Abstimmungen stand eben nicht die Beseitigung jeglichen Getreidezolls in Frage, sondern nur die seiner Herabsetzung von 5 Mark auf 3,50 Mark. Stimmten unsere Vertreter 1893 bei der Entscheidung über den rumänischen Handelsvertrag gegen den Satz von 3,50 Mark, so verhalfen sie damit dem alten Satze von 5 Mark zu weiterem Bestehen.

Der Schlusssatz der Lübecker Resolution kann daher ganz ruhig gestrichen melden, ohne dass die Genossen, die mit einem der beiden erwähnten Fälle zu tun bekommen sollten, dadurch in Verlegenheit gebracht würden. Weder der eine noch der andere bedingt ein Abweichen von unserem Grundsatz, dass wir dem Staate, solange er ein Kommis der besitzenden Klasse ist, das Budget verweigern, wo wir die Möglichkeit dazu haben. Der eine Fall setzt eine völlige Wandlung des Staates voraus, der andere ein Fehlen des Rechtes, jedes Budget abzulehnen.

3. Die süddeutsche Eigenart.

Nun meinen freilich manche Genossen, die deutschen Einzelstaaten machten doch eine Ausnahme, seien ganz eigenartige Gebilde, wie man sie in der übrigen Welt nicht wiederfinde. Es sei richtig, der heutige Staat stelle eine Organisation zur Niederhaltung der arbeitenden Klassen dar, aber er sei das doch nicht ausschließlich. Der Staat habe seine schlechten und seine guten Seiten; er sei nicht bloß Unterdrücker, sondern auch Kulturträger, der Schulen, Spitäler, Museen erhalte, Eisenbahnen, Landstraßen, Kanäle, Häfen baue usw. Im Deutschen Reiche aber seien die Verhältnisse so eigenartig, dass die schlechten Seiten des Staates vom Reichstag kontrolliert würden, seine guten von den Einzellandtagen. Sei also das Reichsbudget abzulehnen, so keineswegs das Landtagsbudget.

Es gibt sicher keine Einrichtung, bei der man nicht eine gute Seite herausfinden könnte. Aber Marx hat schon hohnvoll darauf hingewiesen, zu welchen Unsinnigkeiten man kommt, wenn man vermeint, willkürlich die guten von den schlechten Seiten trennen zu können. Er zeigte, dass man, wenn man wollte, auch der Sklaverei eine gute Seite abgewinnen könne, worauf Schippel bekanntlich ja aus Marx einen Verfechter der Sklaverei machte.

Es ist eine der sonderbarsten Illusionen, zu glauben, dass die Einzelstaaten Deutschlands durch die Reichsgründung ihren Charakter als Herrschaftseinrichtungen, als Mittel der Klassenherrschaft verloren hätten. Sie hätten vollständig aufhören müssen, Staaten zu sein, hätten vollständig bloße Provinzen des einen Staates werden müssen, ohne jede besondere Regierung, wenn sie einigermaßen diesen Charakter verlieren sollten.

Gewiss ist eine Arbeitsteilung zwischen dem Reiche und den Einzelstaaten eingetreten, aber dabei sind die Aufgaben der Niederhaltung des arbeitenden Volkes viel mehr den letzteren zugefallen als dem Reiche. Ein Republikaner und Freidenker könnte weit eher dem Reichsbudget zustimmen, das keine Zivilliste und kaum Kultusausgaben kennt (außer etwa für Militärgeistliche), als den Etats der Einzelstaaten, die sehr schwer damit belastet sind. Dem Reiche fällt hauptsächlich die äußere Politik zu, die Vertretung des Reiches nach außen sowie seine Verteidigung gegen den äußeren Feind, Aufgaben, von denen viele Leute glauben, dass sie allen Klassen einer Nation gemeinsam sind.

Dagegen Kirchenwesen, Polizei, Zuchthäuser usw., sie gehören zum Ressort der Einzelstaaten; auch die Verfügung über das Militär gegen den „inneren Feind" steht nicht der Reichsregierung zu, sondern den Einzelregierungen.

Endlich ziehen die Einzelstaaten weit größere Summen aus der Ausbeutung von Arbeitern wie das Reich, das nur die Reichspost und die paar Reichseisenbahnen dazu benutzen kann. Wie viel ausgedehnter sind dagegen die Eisenbahnnetze der größeren Einzelstaaten, und wie bedeutend fallen für manche von ihnen noch Bergwerke, Wälder und anderer Domänenbesitz finanziell in die Waagschale! In Bayern bilden die Einnahmen aus den Staatsbetrieben, also aus der Ausbeutung der Staatsarbeiter, fast die Hälfte der Staatseinnahmen.

Wir machen uns anheischig, auf jeden Grund, der für die Bewilligung der Landesbudgets ins Feld geführt wird, zwei ebenso triftige für die Bewilligung des Reichsbudgets vorzubringen.

Natürlich beweisen die einen ebenso wenig wie die anderen; das Reich kann ebenso wenig wie die Einzelstaaten den staatlichen Charakter verleugnen; sie dienen alle den gleichen Zwecken, wenn auch mit verschiedenen Mitteln und auf besonderen Gebieten. Und um dieser gleichen Zwecke willen muss man ihre Budgets, ihre Kraftquellen, in gleicher Weise behandeln.

Andere Verfechter der süddeutschen Budgetbewilligung legen auch auf diesen Punkt kein Gewicht. Sie sehen die Eigenart ihrer Landtage nicht im Unterschied der Einzelstaaten vom Reiche, sondern in dem Unterschied zwischen Süd und Nord. Der Süden sei weiter fortgeschritten, in ihm herrsche mehr Freiheit, und darum müsse die Taktik dort eine andere sein. Was im preußischen oder sächsischen Landtag selbstverständlich, sei völlig unangebracht in einem süddeutschen.

In dieser Behauptung steckt ein Körnchen Wahrheit, aber ein sehr kleines. Dass das Proletariat in Süddeutschland mehr Bewegungsfreiheit und staatsbürgerliche Rechte besitzt und die Sozialdemokratie in den Landtagen anständiger behandelt wird, kann man wohl zugeben. Wenn das bewirkt, dass auch auf unserer Seite ein weniger schroffer Ton angeschlagen wird, so wird sich dagegen kaum etwas einwenden lassen. Aber von einem höflichen Tone bis zur Budgetbewilligung ist ein weiter Schritt, den zu gehen das bisschen mehr Freiheit in keiner Weise zwingt.

Die Freiheit ist ein sehr relativer Begriff. Wenn man überall, wo man „mehr Freiheit" hat als in einem anderen Lande, das Budget bewilligen müsste, dürfte es nirgends verweigert werden; denn das reaktionärste Land mit einem Parlament, das Budgets bewilligen und ablehnen darf, besitzt immer noch „mehr Freiheit" als ein ganz absolutistisch regiertes Land. Dann müssten auch die preußischen Sozialdemokraten das Budget bewilligen, weil sie „mehr Freiheit" haben als die Russen. Am Ende könnte man auch noch die Erwartung, welche die „Fränkische Tagespost" der bayerischen Budgetbewilligung entgegenbringt, auf eine preußische ausdehnen, sie werde „aufstachelnd" auf den Zaren wirken, seinem Volke ebenso viel Freiheit zu geben, wie sie Preußen hat, und eine „äußerst wirksame politische Demonstration gegen jene Staaten bilden, die noch nicht die bescheidensten Ansätze zu einer besseren Entwicklung zeigen".

Sucht man einen Maßstab dafür, ob die Sozialdemokratie eines Landes mit seiner Staatsgewalt zufrieden sein darf oder nicht, so ist er nicht in dem Vergleich mit anderen Staaten zu suchen, die das Proletariat noch ärger kujonieren, sondern nur in den Bedürfnissen des Proletariats selbst. Jede Staatsgewalt ist zu bekämpfen, welche diesen Bedürfnissen nicht entspricht. Und eine Staatsgewalt braucht dem Proletariat deswegen nicht weniger gefährlich zu sein, weil sie ihr Herrschaftsgeschäft in urbanere Formen kleidet.

Die französische Republik ist sicher noch ein freieres Land als die bayerische Monarchie, und der regierende französische Radikalismus sicher kein schlimmeres Regime als die bayerische Pfaffenherrschaft. Trotzdem lehnen unsere französischen Genossen das Budget ab, und mit Recht.

In der Erklärung, durch welche die bis dahin feindlichen Fraktionen des französischen Sozialismus ihre Einigung bekräftigten (Dezember 1904), heißt es:

Die sozialistische Fraktion im Parlament hat der Regierung alle Mittel zu verweigern, die die Herrschaft der Bourgeoisie sichern und sie am Ruder erhalten, sie muss daher alle Forderungen für den Militarismus, für koloniale Eroberungspolitik und für Geheimfonds verweigern und das Gesamtbudget ablehnen. Sollten außergewöhnliche Umstände ein Abgehen von dieser Regel erheischen, darf die Fraktion nicht ohne Zustimmung der Partei vorgehen."

Regelmäßig stimmen in Frankreich die geeinigten Sozialisten gegen das Budget. Dafür stimmen von den als Sozialisten gewählten Abgeordneten nur Renegaten und Deserteure, denen die Freiheit der Meinungsäußerung, des Kuhhandels und des Prinzipienverrats höher steht als die Parteidisziplin und der Wille des organisierten Proletariats.

Der politische Unterschied zwischen Süd und Nord, das bisschen mehr politische Gemütlichkeit im Süden, rechtfertigt daher keineswegs die Budgetbewilligung im Süden. Aber freilich, wenn auch keine Rechtfertigung, so bietet er doch die psychologische Erklärung für sie.

Die Mehrheit unserer süddeutschen Parlamentarier und ihrer Freunde lebt in dem Wahne, Süddeutschland sei höher entwickelt als Norddeutschland. Die Norddeutschen seien Barbaren mit barbarischen Kampfmethoden. Diese mögen einem rückständigen Lande wie Preußen angepasst sein, für Kulturländer wie die süddeutschen Staaten passten sie nicht. Es sei aber verkehrt, dass das rückständige Land, weil es die Mehrheit besitze, dem höher entwickelten seine veralteten Kampfesmethoden aufzwingen wolle. Schlimm genug, dass die Norddeutschen von den Süddeutschen nicht lernen wollen, wie man fruchtbringende, positive Arbeit leistet, aber zum wenigsten dürften diese doch verlangen, dass sie dabei nicht gestört werden. Und ihr Beispiel komme der Gesamtpartei zugute, denn stets ist es das höher entwickelte Land, von dem das rückständige lernt und seine Methoden des Arbeitens und Kämpfens stimmt.

Dieser Gedankengang ist sehr schön, aber er steht und fällt mit der Behauptung, dass der Süden Deutschlands höher entwickelt sei als der Norden. Worauf stützt sich diese? Offenbar auf die größere politische Gemütlichkeit oder „Freiheit" in Süddeutschland. Aber nichts irriger als der Glaube, das höher entwickelte Land sei auch stets das freiere. Die alte bürgerliche Geschichtsschablone setzt wohl an den Anfang der historischen Entwicklung den Despotismus und meint, von da an marschiere die Menschheit geradlinig der Demokratie entgegen, aber so einfach ist der Geschichtsverlauf nicht.

Am Anfang der Entwicklung steht vielmehr die Demokratie. Das Aufkommen der Klassengegensätze führt zum Aufkommen der Staatsgewalt, die je nach dem Charakter der herrschenden Klassen die mannigfachsten Formen annehmen kann. Wo ein Gleichgewichtszustand zwischen den verschiedenen Klassen eintritt oder wo die herrschenden Klassen zu unfähig oder zu faul werden, um die Arbeit des Regierens selbst zu leisten, aber keine der beherrschten Klassen die Kraft hat, die Staatsgewalt zu erobern, da nimmt diese leicht den Charakter des Absolutismus eines Herrschers an, der sich aus Berufssoldaten und Bürokraten stützt.

So finden wir im Römerreich auf dem Höhepunkt seiner Entwicklung nicht den Fortschritt von Absolutismus zu Demokratie, sondern umgekehrt deren Überwindung durch den Cäsarismus. Und später ging in Westeuropa das Aufkommen des Absolutismus Hand in Hand mit dem Aufkommen der Bourgeoisie. Erst als der industrielle Kapitalismus eine bestimmte Höhe erreicht hatte, wurden manche Schichten der Bourgeoisie gegen den Absolutismus rebellisch, der den Feudaladel stützte und dadurch die kapitalistische Entwicklung hemmte. Wer dieses Stadium der Geschichte als die Gesamtgeschichte betrachtet, der kann allerdings sagen, dass ihr Gang vom Despotismus zur politischen Freiheit geht. Aber die höchstentwickelten Staaten unserer Zeit sind bereits in ein neues Stadium eingetreten, infolge des Erstarkens des Proletariats und der Abschwächung des Gegensatzes zwischen industrieller Bourgeoisie, Finanzkapital und Großgrundbesitz, die immer mehr identische Interessen bekommen. In den höchstentwickelten Stadien wird der Bourgeoisie die Demokratie immer unbequemer; sie braucht diese nicht, um die Staatsgewalt zu beherrschen, die ihr ohnedies untertan ist. Die Demokratie kann da nur noch Mittel sein, und wird es immer mehr, die politische Organisation und Machtentfaltung des Proletariats zu fördern – des Todfeindes der kapitalistischen Ausbeutung.

In den höchstentwickelten Staaten sehen wir daher ein Stocken der demokratischen Entwicklung, vielmehr eine Vermehrung des Ansehens und der Macht der Regierungen. Man sucht, wo das Proletariat schon zu stark ist, es mitunter noch zu beschwichtigen durch materielle Konzessionen, etwa Alterspensionen, aber man hütet sich wohl, seine politischen Rechte zu erweitern. England und Frankreich denken nicht daran, obwohl sie zurzeit radikale Regierungen haben; die englischen Arbeiter warten noch immer aufs allgemeine Wahlrecht, die französischen Gemeinden noch immer auf die Befreiung von der bürokratischen Bevormundung der Zentralregierung. Hier wie dort wachsen die Funktionen und die Machtmittel der Regierungen. Die gleiche Erscheinung finden wir in den Vereinigten Staaten.

Wollen wir rasche Fortschritte der Demokratie beobachten, müssen wir von Westeuropa nach dem Osten gehen.

Sicher ist der reine Absolutismus unvereinbar mit den Lebensbedingungen einer entwickelten kapitalisieren Gesellschaft. Wo er sich behauptet, hindert er deren Entwicklung. Wo diese sich entwickelt, verliert er den Boden unter den Füßen. Damit ist aber keineswegs gesagt, dass die kapitalistische Entwicklung innerhalb bes konstitutionellen oder parlamentarischen Staates, den sie braucht, stetig die Rechte und Freiheiten der großen Volksmassen erweitert. Im Gegenteil, von einem gewissen Punkt an entwickelt sie die entgegengesetzte Tendenz. Wie weit es dieser gelingt, sich durchzusehen, hängt dann selbst wieder von mannigfachen Faktoren ab, vor allem von der Kraft der Staatsgewalt, der Kraft des Proletariats, der allgemeinen historischen Situation. Der Grad der politischen Freiheit, dessen sich ein Land erfreut, ist also ein Produkt sehr wechselnder Verhältnisse; er kann für sich allein durchaus nicht als Maßstab der höheren oder geringen Entwicklung eines Landes gelten.

Wenn die süddeutschen Staaten bessere Wahlbestimmungen zum Landtag und mehr Bewegungsfreiheit der Volksmassen haben, so beweist das noch lange nicht, dass diese Staaten höher entwickelt sind als der Norden.

Die entscheidende Grundlage alles gesellschaftlichen Lebens ist die Ökonomie. Sie gibt auch den entscheidenden Maßstab für die Entwicklungshöhe eines Landes an. Die Daten der Wirtschaftsstatistik sprechen aber eine andere Sprache als die der bloßen politischen Geschichte.

Wir können leider nur die Ziffern von 1895 benützen, da die der jüngsten Zählung noch nicht so weit publiziert sind, um eine allseitige Vergleichung zu ermöglichen. Aber dass sich der Süden seit 1895 wirtschaftlich weit rascher entwickelt hätte als der Norden, wird wohl niemand behaupten. Die Distanz zwischen beiden dürfte sich nicht erheblich geändert haben.

Vor allem finden wir in Süddeutschland eine bedeutend stärkere landwirtschaftliche Bevölkerung wie im Norden.

Von je 10000 Erwerbstätigen gehörten 1895 zur Landwirtschaft in

Sachsen

1670

Bayern

4635

Preußen

3611

Württemberg

4443

Reich

3619

Baden

4258

Die agrarischste der preußischen Provinzen, Posen, zählte pro Zehntausend Erwerbstätigen 5771 in der Landwirtschaft; dagegen Niederbayern 6235.

Auch der Kleinbetrieb ist im Süden noch stärker als im Norden. Man zählte Selbständige pro 10000 Erwerbstätigen in:


Landwirtschaft

Industrie

Sachsen

2664

2389

Preußen

2911

2370

Reich

3098

2490

Bayern

3196

2946

Württemberg

4241

3022

Baden

3833

2451

Dasselbe Bild zeigt die Gewerbestatistik. Von je 1000 beschäftigten Personen arbeiteten in Betrieben mit


bis 5 Pers.

5 bis 50 Pers.

51 bis 200 Pers.

über 200 Pers.

Sachsen

414

264

180

142

Preußen

454

237

136

179

Reich

465

239

140

146

Bayern

561

220

110

199

Württemberg

537

209

186

118

Baden

448

245

178

129

Diese Zahlen genügen schon, zu zeigen, dass der Süden erheblich hinter dem Norden ökonomisch zurück ist. Wohl besitzt er die ältere Kultur. Aber als der ökonomische Schwerpunkt im Zeitalter der Entdeckungen vom Becken des Mittelmeeres in das des Atlantischen Ozeans verlegt wurde, da traf dies den Süden Deutschlands härter als den Norden, und dieser sah seine Entwicklung vollends begünstigt seit dem Aufkommen der Großindustrie durch seinen Besitz an Kohle und Eisen, die dem Süden fast gänzlich fehlen. Am wenigsten blieb dabei industriell Baden zurück, dank dem Rhein; am meisten Bayern, abgesehen von der ebenfalls am Rhein gelegenen Pfalz und dem Sachsen benachbarten Franken.

Diese industrielle Rückständigkeit hemmt auch die Entwicklung der Klassengegensätze im Süden. Mehr als anderswo beherrscht dort im Allgemeinen noch das Fühlen und Denken des Kleinbürgertums die gesamte Bevölkerung. Sind doch auch die Proletarier wie die Kapitalisten dem Kleinbürgertum und dem Kleinbauerntum entsprossen und bewahren noch lange dessen Denkweisen. Das Denken folgt ja nur langsam der ökonomischen Entwicklung. Im ökonomischen Leben können sich die Klassengegensätze zwischen Proletariern und Unternehmern sehr scharf zugespitzt haben, und doch können sich beide, wenn sie derselben Schicht, dem Kleinbürgertum entstammen, in Lebensgewohnheiten und Neigungen, in Geselligkeit und Politik immer noch nahe stehen. Je mehr dies der Fall, desto schwieriger die sozialistische Agitation, desto mehr verdienen ihre Erfolge Anerkennung, desto näher aber auch die Gefahr, die Bedeutung der Klassengegensätze zu unterschätzen und eine Politik des Zusammenwirkens der Klassen einzuschlagen, die bei kleinen Fragen eine Zeitlang Erfolg haben kann, aber um so gründlicher bei jeder ernsten Frage Bankrott machen muss.

Nicht minder als die ökonomische Rückständigkeit wirkte aber auch die Schwäche der Staatsgewalt im Süden bisher darauf hin, die politischen Kämpfe der Klassen zu mildern. Diese Schwäche ist nicht etwa die Folge einer besonders schlauen, staatsmännischen Politik der Sozialdemokratie, die ihre Gegner entwaffnet, sondern viel älteren Datums. Sie entstammt der Zeit der französischen Revolution und Napoleons. Die drei großen süddeutschen Dynastien koalierten sich damals mit dem „korsischen Eroberer", halfen ihm, die Fremdherrschaft in Deutschland zu begründen, wofür sie mit konfiszierten Gebieten von Reichsstädten, Bistümern, Abteien, Reichsfürsten und Reichsgrafen reich beschenkt wurden. Als aber die napoleonische Macht zusammenbrach, verloren sie jeden Halt. Von den deutschen Patrioten wurden sie gehasst als Landesverräter, von den mediatisierten Adeligen als Räuber. Sie fanden nicht, wie die Könige Preußens, im Adel eine kraftvolle Stütze gegen die unteren Klassen, sondern vielmehr erbitterte Gegner. Da blieb ihnen nichts übrig, als im Volk eine Stütze zu suchen, bei Kleinbauern und Kleinbürgern, denen aber die Bürokratie auch nicht volle Freiheit geben wollte. So wurde im Süden an Stelle der brutalen Niedertretungspolitik des Nordens die des Lavierens, Vermittelns und Beschwichtigens traditionell. Ein wirklich parlamentarisches Regime entwickelte sich im Süden ebenso wenig wie im Norden, hier wie dort blieben die Minister die Diener der Könige, aber sie zogen es vor, durch süßliches Lächeln statt durch barsches Einschüchtern die Parlamente nach ihrem Willen zu gängeln.

Sie scheuten sich um so weniger vor der „Demokratie", :vor dem allgemeinen Wahlrecht und anderen Volksrechten, je besser sie die Masse ihres Volkes kannten, die Kleinbürger und Kleinbauern. Die waren für sie nicht zu fürchten, viel eher die oberen Klassen, zuerst der Adel, dem die Regierungen in der napoleonischen Zeit zu viel genommen hatten, später die Bourgeoisie, die der Kleinstaaterei widerstrebte, nach einem einigen Deutschland verlangte. Gegen dies Streben bot gerade der kleinbürgerliche und kleinbäuerliche Partikularismus ein willkommenes Gegengewicht. In diesem Punkte waren es direkt reaktionäre Tendenzen, denen die süddeutsche „Volksfreiheit" diente.

Wie wenig sie wirklich demokratischem Fühlen und Denken entsprach, ersieht man daraus, dass dieselben süddeutschen Regierungen, die bei sich zu Hause etwas in Demokratie machten, gleichzeitig für Gesamtdeutschland die Reaktion begünstigten, immer Anlehnung bei einer reaktionären Großmacht suchten, ehedem vornehmlich bei Österreich, seit 1866 natürlich bei Preußen, deren volksfeindliche Tendenzen sie unterstützten. Ja, sie wagen es nur deshalb, so „freiheitlich" zu sein, weil sie eine starke und brutale Staatsgewalt hinter sich fühlen, die im Notfall eine gefährliche Volksbewegung gewaltsam niederwerfen kann, wie es 1849 die Preußen mit dem badischen Aufstand machten. Trotz aller gelegentlichen Friktionen findet die preußische Reaktion bei den „demokratischen" süddeutschen Regierungen die wärmste Unterstützung.

Es ist also nur einesteils die ökonomische Rückständigkeit und anderenteils eine in besonderen historischen Verhältnissen begründete Schwäche der Staatsgewalt und deren Traditionen, worin die süddeutsche Freiheit beruht. Damit ist schon ausgeschlossen, dass die süddeutschen Methoden jemals vorbildlich für den Norden werden könnten, dass der Süden dem Norden den Weg weist. Im Gegenteil, je weiter die Entwicklung vor sich geht, desto mehr werden auch die herrschenden Klassen Süddeutschlands die nordische Ungemütlichkeit annehmen. Der industrielle Fortschritt geht ja auch dort weiter, ja es ist sehr wahrscheinlich, dass die Elektrisierung der Wasserkräfte gerade das so agrarische Südbayern recht rasch industrialisiert. Das bedeutet aber nicht nur eine Vermehrung des Proletariats, sondern auch seine zunehmende Loslösung von kleinbäuerlichen und kleinbürgerlichen Denkformen, gleichzeitig aber auch eine Vermehrung der Zahl großer Kapitalisten und eine Verstärkung des scharfmacherischen Geistes unter ihnen, endlich ein Wachsen ihres Einflusses auf die Staatsgewalt. Da wird dieser bald die traditionelle Gemütlichkeit ausgetrieben werden. Die Regierung kann ja nicht immer, wie sie will. Bülow möchte seinem Temperament nach auch am liebsten in süddeutscher Manier regieren, aber jene Schichten erlauben es ihm nicht die tatsächlich das Heft in der Hand haben, die Junker und Scharfmacher.

Hat Bayern freilich keine Junker zu erwarten, so wird doch auch dort die Zahl und der Einfluss der Scharfmacher im Staate mit dem fortschreitenden Kapitalismus rasch zunehmen. Nicht Süddeutschland, sondern Norddeutschland zeigt den Weg, den die Entwicklung im Deutschen Reiche geht, wie auch dessen Geschicke im Norden, nicht im Süden entschieden werden.

Es gibt kaum eine schlimmere Illusion als die, zu glauben, dass die augenblickliche politische Gemütlichkeit Süddeutschlands den Beginn einer neuen Ära darstellt, die auch neue Kampfesmethoden der Sozialdemokratie und ein Aufgeben ihrer bisherigen Haltung erheische. Wer solche Illusionen hat, wird nur zu bald bittere Enttäuschungen erleben.

4. Positive Politik.

Aber nicht nur für die Zukunft bedeutet die Politik des Entgegenkommens zu den herrschenden Gewalten, die ihren Ausdruck in der Budgetbewilligung findet, eine Irreführung des Proletariats, das mit trügerischen Erwartungen erfüllt und auf falsche Bahnen geleitet wird, sie ist auch ein Fehler schon vom Standpunkt bloßer Gegenwartspolitik gemessen.

Es gibt keine Staatsgewalt, die nicht von Zeit zu Zeit in die Lage käme, Maßregeln vorschlagen oder unterstützen zu müssen, die für das Proletariat oder einzelne seiner Schichten Vorteile bringen. Die Gründe dafür können der verschiedensten Art sein. Es kommt vor, dass eine Klasse oder Partei politische oder soziale Vorteile für sich nicht erlangen kann, ohne dass sie gleichzeitig dem Proletariat zugute kommen. Oder sie sucht das Proletariat für sich zu gewinnen, ihren Zwecken dienstbar zu machen, es dem Einfluss der sozialistischen Parteien zu entreißen, was ebenfalls am besten durch einzelne Konzessionen geschieht. Namentlich kleinbürgerliche reaktionäre Parteien, die dem Großkapital feindlich gegenüberstehen, tragen wenig Bedenken, auf diese Weise proletarischen Stimmenfang zu treiben. Am ehesten findet man solche Politik bei einem neuen Regime, das sich noch nicht sicher im Sattel fühlt, sowie dort, wo das Proletariat wie die Sozialdemokratie schon stark genug geworden sind, dass die bürgerlichen Parteien und Regierungen mit ihnen rechnen müssen, aber noch nicht so stark, um als eine unmittelbare Gefahr für die bürgerliche Welt zu erscheinen.

Konzessionen dieser Art bilden wichtige Etappen für den Fortschritt des Proletariats, wo es nicht weit genug ist, der gesamten Staatsgewalt aus eigener Kraft seinen Willen aufzuzwingen. Es wäre unsinnig, wollte die Sozialdemokratie solche Konzessionen deshalb zurückweisen, weil sie vom Feinde stammen und nur deshalb gegeben werden, um das Proletariat einzuschläfern, in Sicherheit zu wiegen oder zu spalten und dadurch seinen Klassenkampf zu lähmen. Das Bestehen und die Agitation der Sozialdemokratie selbst ist ein mächtiger Antrieb zu derartigen Konzessionen; sie leistet in dieser Art „positive" Arbeit, auch in jenen Fällen, in denen sie nicht direkt den Anstoß dazu gibt.

Aber die Sozialdemokratie würde ihre Aufgabe arg verkennen, wenn sie derartige Maßregeln mit Dank akzeptierte oder jubelnd als großen Erfolg begrüßte, den man mit einer Budgetbewilligung zu quittieren habe. Sie darf nie vergessen, dass sie es mit Danaergeschenken zu tun hat, die, auch wenn sie von der Sozialdemokratie selbst vorgeschlagen sind, von den bürgerlichen Parteien nur in Formen und unter Umständen bewilligt werden, die es möglich erscheinen lassen, sie würden helfen, die Gesamtheit der bürgerlichen Ausbeutungswirtschaft verlängern zu helfen. Selbst das allgemeine, gleiche Wahlrecht wurde zu solchen Zwecken verliehen, so von Napoleon III., so von Bismarck:, so jüngst in Österreich von Baron Beck.

Aufgabe der Sozialdemokratie ist es, diese Absichten zu durchkreuzen. Marx erklärte, ihr falle es zu, das allgemeine Wahlrecht aus einem Mittel der Düpierung und Niederhaltung der Proletarier, das es gewesen, in ein Mittel ihrer Befreiung zu verwandeln. Das gilt von allen sozialen und politischen Reformen, welche die bürgerliche Gesellschaft gewährt. Dazu ist es aber notwendig, dass man an jedem Gesetz die schärfste Kritik übt, was um so näher liegt, als das, was die bürgerliche Gesellschaft dem Proletariat gewähren kann und will, stets unzureichend ist und bleiben muss, da sie ja auf seiner Ausbeutung beruht, ihr Reichtum seine Armut und Wehrlosigkeit voraussetzt. Man hat nicht dem Proletariat die Meinung beizubringen, mit dem Gegebenen sei nun ungeheuer viel erreicht, sondern zu zeigen, wie weit es hinter dem zurückbleibt, was im Interesse des Proletariats zu fordern ist. Und man muss die Motive aufdecken, denen die Konzession entspringt, und so das Proletariat davor hüten, in den Regierungen und den herrschenden Parteien seine Wohltäter zu sehen.

Wo das nicht geschieht, da werden selbst die schönsten und besten Reformen nur zu leicht zu Fesseln, die das Proletariat an die bürgerlichen Parteien ketten, es mit Zutrauen zu ihnen erfüllen und damit seinen Fortschritt lähmen. Das Beispiel Englands spricht laut genug.

Die sozialistische Budgetbewilligung als Anerkennung der Verdienste der Regierung und der Parlamentsmajorität um das Proletariat muss in gleicher Richtung wirken.

Sehen wir uns zum Beispiel Bayern an. Die Partei, die dort tatsächlich regiert, ist das Zentrum. Sie hat eine Änderung des Wahlrechtes durchgesetzt, mit Hilfe der Sozialdemokratie. Wie wenig sie dabei von Arbeiterfreundlichkeit und demokratischen Anschauungen geleitet war, zeigen die Verschlechterungen, die sie an die Gewährung der direkten Wahl knüpfte: die Hinaufschiebung der Altersgrenze der Wahlberechtigung und andere Bestimmungen, die das industrielle Proletariat schädigen und den agrarischen Elementen ins Unabsehbare die Mehrheit im Landtag sichern. Wenn trotzdem unsere bayerischen Genossen für diese Wahlreform stimmten, so durfte man annehmen, dass sie es nur mit schwerem Herzen taten, weil sie glaubten, dass die Verbesserungen doch überwogen. Aber soweit von Verbesserungen zu reden war, durfte man sie sicher nur dem Umstand zuschreiben, dass auf andere Weise das Zentrum eine Majorität nicht zu ergattern wusste, keineswegs aber einem Entgegenkommen an die Bedürfnisse des Proletariats.

Jetzt aber haben unsere bayerischen Abgeordneten das Budget bewilligt ausdrücklich mit dem Hinweis auf die große „Errungenschaft" des direkten Wahlrechtes zum Landtag.

Daneben werden rühmend erwähnt „erhebliche Beiträge für die Aufbesserung der Arbeiter in Staatsbetrieben, der Lehrer und Beamten".

Ja, ist das etwas so Außerordentliches? Solche „Aufbesserungen" gehen in der ganzen Welt vor sich angesichts der allgemeinen Teuerung. Die kommende Session wird sie wohl auch im Reiche und in Preußen bringen, sie sind unerlässlich, soll nicht der Notstand der vom Staat Bediensteten allzu skandalös werden.

In Bayern kommt aber noch ein Umstand dazu. Die Partei, die dort die absolute Mehrheit besitzt, das Zentrum, ist die einzige deutsche bürgerliche Partei, die sich auf größere Arbeitermassen stützt. Die Arbeiterdemagogie spielt bei ihr eine große Rolle. Da kann sie nicht umhin, dort, wo sie zur Mehrheit kommt, wenigstens etwas für die Arbeiter zu tun. Sie muss ihre proletarische Demagogie um so eifriger betreiben, da sie augenblicklich im Reiche in die Opposition gedrängt ist, nicht die Unterstützung der Reichsbürokratie für sich hat und auch in Bayern daher in höheren Regionen, sowie bei liberalen Bürokraten und Bourgeois auf manche Widerstände stößt. Da gilt es, sich um so mehr eine Stütze in den breiten Volksmassen zu schaffen.

Was jetzt das Zentrum und die von ihm gegängelte Regierung in Bayern tun, taten ehedem in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts in Österreich Taaffe und später in Wien der christlichsoziale Lueger. Aber es ist den österreichischen Sozialdemokraten noch nie eingefallen, Taaffe und Lueger dafür ihre Anerkennung auszusprechen. Sie bekämpften den einen wie den anderen vielmehr auf das Lebhafteste, weil beide eifrig an der Verpfaffung Österreichs arbeiteten. Die Sozialdemokratie will eben nicht bloß ein paar Arbeiterkategorien ein paar Pfennige Lohn mehr verschaffen, sie will das gesamte Proletariat von jeglichem Drucke befreien, von geistiger Knechtung wie von ökonomischer, und wer jene vermehrt, muss ihren heftigsten Widerstand finden, auch wenn er die Verdummung der Proletarier mit etwas erhöhten Löhnen einiger von ihnen bezahlt.

An Verdummungs- und Verpfaffungstendenzen kann es aber die augenblickliche Mehrheit des bayerischen Landtags mit dem reaktionärsten Regime aufnehmen, jene Mehrheit, die dem Budget seinen Charakter gibt und die vom Budget lebende Regierung beherrscht. Namentlich die Schulpolitik dieses Regimes ist skandalös.

Kein frisch aus Preußen verschriebener Urbayer, sondern ein echter Bayer, Ludwig Thoma, brandmarkt diese Politik aufs Kräftigste in einem Artikel des „März" (Juli dieses Jahres) über den Fall des Lehrers Beyhl, den der bayerische Kultusminister wegen einiger Artikel in der „Freien Schulzeitung“ gemaßregelt hatte.

Thoma schreibt:

Während sich unsere Beamtenschaft im Umlauf von zwanzig Jahren zur willfährigen Dienerin der klerikalen Herrschaft entwickelte, hat die Lehrerschaft sich von ihren Einflüssen völlig freigehalten. Sie führt einen Kampf, den jeder einzelne am eigenen Leibe verspürt. …

Das Zentrum gründete einen Gegenverein.

Wieder scheiterte ihm die Mühe. Man kann sich denken, dass es eine Gelegenheit zur Rache suchte.

Die bot sich, als man jetzt zur allgemeinen Aufbesserung der Beamten schritt.

Es ist bezeichnend für den Geist der Partei, dass sie pekuniäre Mittel anwendet, wo ihr alle anderen versagt haben. Und ebenso bezeichnend, dass sie die Macht des Geldgebers mit einer Plumpheit herauskehrt, deren sich der gewissenloseste Unternehmer schämen würde. Seit Monaten spielt das Zentrum mit den Hoffnungen der Lehrer, benützt ihre materiellen Sorgen zu widerlichen Vorstößen auf politische Freiheiten und bietet mit schamloser Offenheit Geld gegen Gesinnungen.

Und wieder erhielt es eine Absage.

Die Wut der Partei bringt der Herr v. Wehner (der Kultusminister) zum Ausdruck, wie es sein Dienstverhältnis (zum Zentrum) verlangt.

Dabei spielt er die beleidigte Autorität und erzählt dem Lande, dass er die Würde der Staatsregierung zu wahren habe, während er der Rachsucht der Landtagsmehrheit das gehorsame Werkzeug abgibt."

Das bestätigte der bayerische Abgeordnete Genosse Timm in einer Münchener Versammlung. Er rühmte sich, die Fraktion habe gegenüber der Regierung mit ihrer Kritik nicht zurückgehalten:

Dies trifft besonders zu auf den Etat Anton v. Wehners, genannt der Unterhachinger, mit dem wir manch ernsten Kampf auszufechten hatten, weil er als getreuer Schildknappe des gegenwärtig übermächtigen Zentrums handelte. Wir haben sein Verhalten gegen den Volksschullehrer Beyhl als unverschämt bezeichnet und ihn als ärgsten Reaktionär rücksichtslos bekämpft."

Rücksichtslos bekämpft dadurch, dass sie ihm ohne Rücksicht auf den Lübecker Beschluss den Etat bewilligten. So rücksichtslos haben bisher stets die Liberalen die Regierung bekämpft, gegen die sie sprachen, um für sie zu stimmen.

Der Weg, den unsere süddeutschen Parlamentarier jetzt einschlagen wollen, um „positiv" zu wirken, ihn sind die Liberalen vor ihnen gegangen, mit genau den gleichen Argumenten. Der „positive" Erfolg ihrer „Realpolitik" war der, dass sie gründlich auf den Hund gekommen sind und die Macht ihrer Gegner steigerten. Und der sozialdemokratischen „Realpolitik" droht der gleiche „Erfolg".

Es gibt keine Partei in Deutschland, deren Demagogie dem Proletariat gefährlicher wird als das Zentrum, keine, der man schärfer auf die Finger sehen, deren Heuchelei man mehr brandmarken muss!

Tut nichts, unsere Abgeordneten bewilligen das Budget. Ohne Not, denn die Gehaltsaufbesserungen waren schon bewilligt und hingen nicht von der Budgetabstimmung ab.

Sie bewilligen es gerade jetzt, wo das Zentrum die absolute Mehrheit im Landtag hat; gerade jetzt sehen sich die sozialdemokratischen Abgeordneten dazu gedrängt, der Landtagsmehrheit ihre Anerkennung auszusprechen, diese scharfen, unerbittlichen Kritiker, die bisher das Budget systematisch ablehnten! Sie bewilligen es in der demonstrativsten Weise, im Gegensatz zu ihrer bisherigen Haltung, unter Missachtung eines Parteitagsbeschlusses. Sie demonstrieren gegen die eigene Partei, um für das Zentrum zu demonstrieren.

Das Zentrum darf mit unseren bayerischen Abgeordneten zufrieden sein. Es wird nicht verfehlen, den katholischen Arbeitern jene Abstimmung als ein glänzendes Zeugnis dafür vorzuführen, was es für die Arbeiter dort leistet, wo es an der Macht ist.

Mögen unsere Abgeordneten noch so scharfe Reden gegen das Zentrum halten, die Wirkung dieser Abstimmung wird damit nicht wettgemacht. Die Masse der katholischen Arbeiter liest diese Reden nicht, und Taten sind stets eindrucksvoller als Worte.

Selbst wenn man eine Prinzipienpolitik verlacht und die Politik als ein Geschäft betrachtet, muss man die Budgetbewilligung für einen Akt großer Kurzsichtigkeit erklären. Welcher kluge Geschäftsmann wird Reklame machen für die Konkurrenz!

So unbegreiflich die süddeutschen Budgetbewilligungen vom Standpunkt der Prinzipienpolitik sind, sie sind nicht minder unbegreiflich vom Standpunkt bloßer Erfolgspolitik, wenn diese ein bisschen weitsichtig sein soll.

5. Wahlkreispolitik

So bleibt nur ein Gesichtspunkt zu ihrer Betrachtung übrig: der der Wahlkreis- oder Mandatspolitik – der niedrigste von allen.

Von diesem Standpunkt aus haben die süddeutschen Abgeordneten freilich vielfach einen schwierigeren Stand als die meisten norddeutschen. Sie haben in der Regel mehr als diese mit kleinbürgerlichen Wählern und kleinbürgerlichen Auffassungen unter einem Teile der proletarischen Wähler zu rechnen.

Der Kleinbürger ist bekanntlich der Mann des Einerseits und Andererseits. Von Haus aus ist er demokratisch und oppositionell, dort, wo er mit den Kleinbauern die große Volksmasse bildet, aus der die Regierungen und herrschenden Klassen so viel wie möglich herauspressen. Wo er sich stark fühlt und die Staatsgewalt schwach, da erhebt er trotzig gegen diese sein Haupt und sucht sie sich dienstbar zu machen. Daher finden wir in Süddeutschland im neunzehnten Jahrhundert eine starke demokratische, ja republikanische Bewegung, die den Regierungen nicht bloß Budgets verweigert, sondern sie unter Umständen sogar gewaltsam zu stürzen sucht. Namentlich gilt das von Baden, das ja, wie wir gesehen, von den süddeutschen Staaten der industriellste ist und überdies bis 1871 an das so rebellionenreiche Frankreich grenzte. Auch die bayerische Pfalz hat eine ansehnliche demokratische Geschichte.

Aber neben der demokratischen und oppositionellen Seele lebt im Kleinbürgertum auch eine servile – nicht immer im gleichen Individuum, aber innerhalb der gleichen Klasse. Das gilt namentlich von Deutschland mit seiner Kleinstaaterei und Kleinstädterei, die nirgends ein Kleinbürgertum von einer Kraft erstehen ließ, wie sie das von Riesenstädten wie London und Paris zeitweise erlangen konnte. Auf kleine Verhältnisse beschränkt, ist der politische Horizont des Kleinbürgers ebenso niedrig wie sein Kraftgefühl gering, und erscheint ihm nur zu leicht die Regierung als eine übermächtige Einrichtung, erscheinen ihm aber auch vom Kirchturmstandpunkt aus Erleichterungen, die er von der Regierung auf Kosten der Nachbarn gewinnen kann, ebenso wertvoll wie solche, die er im Verein mit diesen den herrschenden Mächten abzutrotzen vermag; jene Erleichterungen aber sind ihm meist lieber, da sie keine Gefahr und Mühe in sich schließen. Endlich, je kleiner er sich selbst fühlt, desto mehr überschätzt er die Regierung, desto bedeutender erscheint ihm alles, was diese für ihn tun könnte, wenn sie nur wollte.

Dieselben Kleinbürger, die sich heute gegen den Militarismus ereifern, weil er ihnen unerschwingliche Steuern auferlegt, petitionieren morgen um eine Garnison, die in ihr Städtchen verlegt werden soll. Sie brandmarken die Allmacht der Regierungen, gegen die das Volk sich zusammenscharen müsse, und betteln beim Minister darum, er möge ihrem Städtchen und nicht den Nachbarn eine Brücke oder Landstraße bewilligen.

Die politische Unzuverlässigkeit und Wankelmütigkeit des Kleinbürgertums, der so mancher unvermittelte Umschlag von Revolution zu Reaktion, von erbitterter Opposition zu überschwänglichster Hurrastimmung zuzuschreiben ist, hört indes in den letzten Jahrzehnten insofern immer mehr auf, als die Anfälle von oppositionellem Radikalismus im Kleinbürgertum sich immer seltener einstellen und die Servilität immer mehr seine dauernde Gemütsstimmung wird. Je mehr das Kleinbürgertum ökonomisch verkommt, desto mehr fühlt es sich kampfesunfähig, desto mehr wächst aber auch seine Abneigung, ja sein Widerwille gegen das Proletariat und dessen Klassenkampf. Dieses war jedoch bisher sein einziger Verbündeter und seine beste Rückensteifung in seiner politischen Opposition gewesen. Mehr als je bedarf das Kleinbürgertum der Hilfe des Staates, aber weniger als je fühlt es sich stark genug, sie zu erkämpfen. Es sucht sie immer mehr zu erschmeicheln, durch Gefälligkeiten und Gegendienste zu erdienern.

Oppositionelle Politik wird ihm immer unverständlicher; sie ist „negierende", „unfruchtbare" Politik. „Fruchtbar", „positiv" schaffen kann nach seiner jetzigen Anschauung in der Politik nur, wer sich mit der Regierung zu verständigen weiß nach der Maxime des Kuhhandels. Diese Maxime ist die des Zentrums, ihr hat sich jetzt auch die freisinnige Demokratie unterworfen. Die Blockpolitik, lächerlich und unbegreiflich vom Standpunkt nicht nur der Prinzipien, sondern auch der Erfolgspolitik, wird bloß begreiflich von dem der Mandatspolitik. Die kleinbürgerlichen bisher demokratischen Wähler sind der Opposition müde. Sie wollen „Erfolge" sehen, wollen, dass ihre Vertreter „politischen Einfluss" in den Ministerien gewinnen, und das, glauben sie, ist nur möglich für Leute, die den Ministern auch etwas zu bieten gewillt sind.

Mann mit zugeknöpften Taschen,

Dir tut niemand was zulieb.

Hand wird nur von Hand gewaschen,

Wenn du nehmen willst, so gib."

Den Ministers etwas geben, ihnen das Budget bewilligen, das erscheint in den Augen der kleinbürgerlichen und der kleinbürgerlich denkenden Wähler als eine unentbehrliche Vorbedingung des Nehmens. Sie „verstehen" die Bedeutung einer Budgetverweigerung nicht mehr.

Als eine Wirkung dieser gerade in den letzten Jahren stark zutage tretenden Schwenkung des Kleinbürgertums nach rechts müssen wir auch die jetzige süddeutsche Budgetbewilligung auffassen. Eine so starke Tendenz überträgt sich bei großem geistigen Einfluss des Kleinbürgertums ganz unwillkürlich aus den Reihen der Wähler auch in die der Gewählten. Die jetzige süddeutsche Budgetbewilligung ist eine Parallelerscheinung zur Blockpolitik. Die „Hottentottenwahlen“ mögen nicht ohne Einfluss auf sie gewesen sein.

Auf jeden Fall hat sie diesmal eine weit größere Bedeutung als ihre Vorgänger. Wenn früher in den Landtagen hier und da von sozialistischen Fraktionen ein Budget bewilligt wurde, so geschah es wohl zum Teil unter ähnlichen Stimmungen wie denen, die jetzt zur Budgetbewilligung führten, zum Teil aber aus Geringschätzung des Landtags. In den ersten Jahrzehnten des Reiches bildete der Reichstag namentlich für uns Sozialdemokraten den Mittelpunkt des politischen Interesses. Die Landtage erregten daneben nicht viel mehr Aufmerksamkeit als etwa die Stadtverordnetenversammlungen größerer Städte. Erst seitdem Bismarck in den letzten Jahren seiner Regierung, als er sah, er könne gegen das allgemeine Wahlrecht nicht aufkommen, die Landtage wieder in den Vordergrund schob, sind sie von Jahr zu Jahr an politischer Bedeutung gewachsen und werden ihre Abstimmungen immer mehr zu hervorragenden politischen Akten oder mindestens Demonstrationen.

Wenn heute, namentlich nach den Beschlüssen von Frankfurt und Lübeck eine sozialdemokratische Landtagsfraktion einer gegnerischen Regierung das Budget bewilligt, kann das nicht mehr als eine geringfügige oder gleichgültige Sache angesehen werden, wie das vor zwanzig Jahren sicher noch der Fall war. Heute bedeutet das eine Demonstration, eine Demonstration gegen die Politik der gesamten deutschen Sozialdemokratie, eine Demonstration, deren moralischer Erfolg nur unseren Gegnern zugute kommt. In die Partei wirft diese Demonstration den Keim zu Zwist und Desorganisation.

Damit gefährdet sie schließlich selbst den einzigen Erfolg, den sie haben könnte, den der Mandatspolitik.

Nicht im Kleinbürgertum, auch nicht im kleinbürgerlich fühlenden Proletariat ruht die Wurzel unserer Kraft und auch unserer Wahlerfolge, sondern im klassenbewussten, kämpfenden Proletariat, seiner Begeisterung, seiner Hingabe für unsere Sache: Das Klassenbewusstsein aber ebenso wie die Begeisterung werden nicht geweckt, sondern gelähmt durch eine Politik des Anerkennens der Arbeiterfreundlichkeit unserer Gegner, die im Anerkennen gegnerischer Budgets ausgedrückt wird.

Und darum weg mit jeder Bewilligung eines Budgets, das nicht das Budget einer sozialdemokratischen Mehrheit ist!

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