Vorwort des Verfassers zur zweiten russischen Ausgabe

Vorwort des Verfassers zur zweiten russischen Ausgabe

Die vorliegende Arbeit ist am Vorabend der russischen Revolution während einer gewissen Ruhepause geschrieben worden, die auf die großen Streiks der Jahre 1895 und 1896 folgte. Die Arbeiterbewegung zog sich damals gewissermaßen in sich selbst zurück, wuchs in die Breite und in die Tiefe und bereitete die Demonstrationsbewegung des Jahres 1901 vor.

Die Analyse der volkswirtschaftlichen Struktur und folglich auch der Klassenstruktur Russlands, die in der vorliegenden Arbeit auf der Grundlage ökonomischer Untersuchung und kritischer Bearbeitung statistischer Erhebungen gegeben wurde, ist heute durch das offene politische Auftreten aller Klassen im Laufe der Revolution bestätigt. Die führende Rolle des Proletariats ist klar zutage getreten. Zutage getreten ist auch, dass seine Kraft in der geschichtlichen Bewegung unermesslich größer ist als sein Anteil an der Gesamtmasse der Bevölkerung. Die ökonomische Grundlage dieser wie jener Erscheinung ist in der vorliegenden Arbeit aufgezeigt.

Ferner deckt die Revolution jetzt die zwiespältige Lage und die zwiespältige Rolle der Bauernschaft immer deutlicher auf. Auf der einen Seite erklären die starken Überreste der Fronwirtschaft und alle möglichen Überbleibsel der Leibeigenschaft bei einer unerhörten Verarmung und Verelendung der armen Bauernschaft vollauf die tiefen Quellen der revolutionären Bauernbewegung, die tiefen Wurzeln der revolutionären Gesinnung der Bauernschaft in ihrer Masse. Auf der anderen Seite zeigen sich im Gang der Revolution, im Charakter der verschiedenen politischen Parteien und in zahlreichen politischen Ideenströmungen die inneren Widersprüche im Klassenaufbau dieser Masse, ihre Kleinbürgerlichkeit, der Gegensatz von proletarischen und Besitzertendenzen innerhalb dieser Bauernschaft. Das Schwanken des verarmten Landwirts zwischen konterrevolutionärer Bourgeoisie und revolutionärem Proletariat ist ebenso unvermeidlich, wie es in jeder kapitalistischen Gesellschaft unvermeidlich ist, dass eine unbedeutende Minderheit kleiner Produzenten reich wird, „sich heraus macht", in die Bourgeoisie aufsteigt, während die ungeheure Mehrheit entweder gänzlich herunterkommt und unter die Lohnarbeiter oder Paupers geht oder aber ewig an der Grenze proletarischer Verhältnisse lebt. Die ökonomische Grundlage beider Strömungen in der Bauernschaft ist in der vorliegenden Arbeit aufgezeigt.

Es versteht sich, dass auf dieser ökonomischen Grundlage die Revolution in Russland unvermeidlich eine bürgerliche Revolution sein muss. Diese These des Marxismus ist ganz unangreifbar. Man darf sie niemals vergessen. Sie muss stets auf alle ökonomischen und politischen Fragen der russischen Revolution angewendet werden.

Aber man muss sie anzuwenden verstehen. Es bedarf einer konkreten Analyse der Lage und der Interessen der verschiedenen Klassen, um die wirkliche Bedeutung dieser These bei ihrer Anwendung auf diese oder jene Frage zu bestimmen. Die entgegengesetzte Art der Betrachtung, die man nicht selten bei den Sozialdemokraten des rechten Flügels, mit Plechanow an der Spitze, antrifft, d. h. die Tendenz, die Antwort auf konkrete Fragen in rein logischen Ableitungen aus der allgemeinen Lehre von dem Grundcharakter unserer Revolution zu suchen, ist eine Verballhornung des Marxismus und reiner Hohn auf den dialektischen Materialismus. Für Leute, die z. B. die führende Rolle der „Bourgeoisie" in der Revolution oder die Notwendigkeit einer Unterstützung der Liberalen durch die Sozialisten aus der allgemeinen Lehre vom Charakter der Revolution herleiten, würde Marx vermutlich das von ihm einmal gebrauchte Wort Heines bereit haben: „Ich habe Drachenzähne gesäet und Flöhe geerntet."

Bei der gegebenen ökonomischen Grundlage der russischen Revolution sind objektiv zwei Grundlinien ihrer Entwicklung und ihres Ausgangs möglich:

Entweder bleibt die alte Gutswirtschaft, durch tausend Fäden mit der Leibeigenschaft verknüpft, bestehen und verwandelt sich allmählich in eine rein kapitalistische „Junker"-Wirtschaft. Die Grundlage für den endgültigen Übergang vom System der Abarbeit („Otrabotki") zum Kapitalismus bildet dann die sich im Innern der gutsherrlichen Leibeigenenwirtschaft vollziehende Umgestaltung. Die ganze agrarische Ordnung des Staates wird kapitalistisch, behält aber noch lange Zeit Züge der Leibeigenschaft bei. Oder aber die Revolution zerstört die alte Gutswirtschaft, vernichtet alle Überbleibsel der Leibeigenschaft und vor allem den Großgrundbesitz. Die Grundlage für den endgültigen Übergang vom System der Abarbeit zum Kapitalismus bildet dann die freie Entwicklung der kleinbäuerlichen Wirtschaft, die durch die Expropriation der Gutsländereien zugunsten der Bauernschaft einen gewaltigen Ansporn empfängt. Die ganze agrarische Ordnung wird kapitalistisch, denn die Zersetzung der Bauernschaft schreitet um so schneller vorwärts, je vollständiger die Spuren der Leibeigenschaft ausgelöscht werden. Mit anderen Worten: Entweder Erhaltung der Hauptmasse des Großgrundbesitzes und der Grundpfeiler des alten „Überbaus"; folglich – vorherrschende Rolle der liberal-monarchistischen Bourgeois und Gutsbesitzer, rascher Übergang der wohlhabenden Bauernschaft auf deren Seite, Bedrückung der bäuerlichen Masse, die nicht nur in gewaltigem Maße expropriiert, sondern noch dazu durch die einen oder andern kadettischen Ablösungsmachinationen verknechtet und durch die Herrschaft der Reaktion niedergedrückt und abgestumpft wird; Testamentsvollstrecker dieser bürgerlichen Revolution werden Politiker sein, die in ihrem Typus den Oktobristen nahestehen. Oder aber: Zerstörung des Großgrundbesitzes und aller Grundpfeiler des ihm entsprechenden alten „Überbaus"; vorherrschende Rolle des Proletariats und der bäuerlichen Masse bei Neutralisierung der schwankenden oder konterrevolutionären Bourgeoisie; rascheste und freieste Entwicklung der Produktivkräfte auf kapitalistischer Grundlage, dabei für die Arbeiter- und Bauernmassen eine Lage, wie sie unter den Verhältnissen einer warenproduzierenden Gesellschaft günstiger überhaupt nicht gedacht werden kann; folglich Schaffung der günstigsten Bedingungen für die Durchführung der wahren Grundaufgabe der Arbeiterklasse, der sozialistischen Umgestaltung. Möglich bleiben natürlich unzählige verschiedenartige Kombinationen der Elemente der kapitalistischen Entwicklung dieses oder jenes Typus, und nur hoffnungslose Pedanten könnten die hierbei entstehenden, eigenartigen und verwickelten Fragen allein mit Zitaten dieser oder jener Äußerung von Marx über eine andere historische Epoche lösen wollen.

Die dem Leser vorgelegte Schrift ist der Analyse der vorrevolutionären Wirtschaft Russlands gewidmet. In einer revolutionären Epoche lebt ein Land so schnell und hastig, dass eine Feststellung wichtiger Ergebnisse der ökonomischen Entwicklung im Gewühl des politischen Kampfes unmöglich ist. Die Herren von der Art Stolypins auf der einen Seite, die Liberalen auf der andern (und keineswegs nur die Kadetten vom Schlage Struves, sondern die Kadetten überhaupt) arbeiten systematisch, hartnäckig und konsequent für die Vollendung der Revolution nach dem ersten Muster. Der Staatsstreich vom 3. Juni 1907, eben erst hinter uns, bedeutet den Sieg der Konterrevolution, die danach strebt, den Gutsbesitzern das volle Übergewicht in der sogenannten russischen Volksvertretung zu sichern. Wie weit jedoch dieser „Sieg" von Dauer sein wird, das ist eine andere Frage, und der Kampf für den zweiten Ausgang der Revolution geht weiter. Mehr oder weniger entschlossen, mehr oder weniger konsequent, mehr oder weniger bewusst erstreben diesen Ausgang auch breite bäuerliche Massen und nicht nur das Proletariat. Wie sehr die Konterrevolution sich auch bemühen mag, den unmittelbaren Massenkampf mit offener Gewalt zu unterdrücken, wie sehr die Kadetten auch versuchen mögen, ihn durch ihre niederträchtigen und heuchlerischen gegenrevolutionären Ideechen zu ersticken, er bricht trotz alledem bald hier, bald dort hervor und drückt seinen Stempel der Politik der „werktätigen", volkstümlerischen Parteien auf, obgleich die Oberschicht der kleinbürgerlichen Politiker (besonders die „Volkssozialisten" und „Trudowiki") zweifellos vom kadettischen Geist des Verrats, des Lakaientums und der Selbstzufriedenheit beschränkter und pedantischer Spießbürger oder Beamtenseelen angesteckt ist.

Womit dieser Kampf enden, was für ein Ergebnis der erste Vorstoß der russischen Revolution schließlich haben wird – das lässt sich heute noch nicht sagen. Darum ist auch für eine völlige Umarbeitung der vorliegenden Schrift* die Zeit noch nicht gekommen (auch lassen die unmittelbaren Parteiverpflichtungen demjenigen, der mitten in der Arbeiterbewegung steht, keine Zeit dazu). Auch die zweite Ausgabe muss sich im Rahmen der vorrevolutionären Wirtschaft Russlands halten. Der Verfasser musste sich auf eine Durchsicht und Verbesserung des Textes beschränken; ebenso konnte er von dem neueren statistischen Material nur das Allernotwendigste verwenden, so die Ergebnisse der letzten Pferdezählungen, die Erntestatistiken, die Ergebnisse der allrussischen Volkszählung von 1897, neuere Angaben der Fabrikstatistik usw.

Juli 19071

Der Verfasser

* Möglich, dass eine solche Umarbeitung eine Fortsetzung der vorliegenden Arbeit erfordern wird: der erste Band müsste sich dann auf die Analyse der vorrevolutionären Wirtschaft Russlands beschränken, der zweite Band der Untersuchung der Ergebnisse der Revolution gewidmet sein. {Der „Untersuchung der Bilanz und der Ergebnisse der Revolution" ist eine Reihe weiterer Arbeiten Lenins gewidmet. Das Buch „Das Agrarprogramm der Sozialdemokratie in der russischen Revolution der Jahre 1905–1907", das Ende 1907 geschrieben wurde, kommt dem von Lenin geplanten „zweiten Band" der Arbeit am nächsten.}

1 Im Juli 1907 wohnte Lenin in Kuokkala in Finnland.

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