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Georgi Plechanow 19010800 Cant wider Kant oder das geistige Vermächtnis des Herrn Bernstein

Georgi Plechanow: Cant1 wider Kant

oder das geistige Vermächtnis des Herrn Bernstein

(Э. Бернштейн. Исторический материализм. Перевод Л. Кандель. Второе изданне. С.-Петербург 1901 г.)

[Nach ders.: Eine Kritik unserer Kritiker. Schriften aus den Jahren 1898 bis 1901. Berlin 1982, S. 76-107]

Tot ist mein Sohn! Ich werd frieren müssen…

Nekrassow2

{Die Toten reiten schnell.}

{G. A. Bürger}3

Herr Bernstein ist für die Schule von Marx, zu der er einmal gehörte, gestorben. Jetzt können wir uns schon nicht mehr über ihn erregen: über Tote erregt man sich nicht. Jetzt hat es auch keinen Zweck mehr, ihn zu bedauern: Mit Mitleid ist unserer Sache nicht gedient. Dennoch müssen wir unserem Dahingeschiedenen eine letzte Ehre erweisen, indem wir einige Seiten seinem Buche widmen, das in den sozialistischen Kreisen der ganzen zivilisierten Welt so großes Aufsehen erregt hat, das ins Russische übersetzt wurde und jetzt in Petersburg in zweiter Auflage erschienen ist.

Bekanntlich hat Herr Bernstein in diesem Buche die Theorie von Marx-Engels einer „kritischen Überprüfung" unterzogen. Wir wollen hier unsererseits einige kritische Bemerkungen zu den Ergebnissen dieser „Überprüfung" anfügen.

I

Herr Bernstein meint, „dass das wichtigste Glied im Fundament des Marxismus, sozusagen das Grundgesetz, das das ganze System durchdringt, seine spezifische Geschichtstheorie ist, die den Namen materialistische Geschichtsauffassung trägt".4

Das stimmt nicht. Gewiss, die materialistische Geschichtsauffassung ist eines der wichtigsten Merkmale des Marxismus, aber diese Auffassung ist dennoch nur ein Teil der materialistischen Weltanschauung von Marx-Engels. Eine kritische Untersuchung ihres Systems müsste daher mit der Kritik der allgemeinen philosophischen Grundlagen dieser Weltanschauung beginnen. Da nun die Methode zweifellos die Seele eines jeden philosophischen Systems ist, müsste natürlich eine Kritik der dialektischen Methode der „Überprüfung" der Geschichtstheorie von Marx und Engels vorausgehen.

Getreu seiner ungetreuen Ansicht vom „Grundgesetz" des Marxismus, beginnt Herr Bernstein mit der Kritik der materialistischen Geschichtsauffassung und geht erst im zweiten Kapitel seines Buches zur Einschätzung der dialektischen Methode über. Wir hingegen bleiben der Ansicht treu, dass in jedem ernstzunehmenden System die Methode von entscheidender Bedeutung ist, und beginnen mit der Dialektik.

Was sagt Herr Bernstein über diese?

Er kann der Dialektik gewisse Verdienste nicht absprechen. Mehr noch, er gibt zu, dass sie einen günstigen Einfluss auf die Geschichtswissenschaft ausgeübt hat. Nach seinen Worten hatte F. A. Lange vollkommen recht, als er in seiner „Arbeiterfrage" schrieb, man könne die Hegelsche Geschichtsphilosophie mit ihrem Grundgedanken – der Entwicklung in Gegensätzen und deren Ausgleichung – fast eine anthropologische Entdeckung nennen (S. 39).5 Doch er glaubt – wiederum im Einklang mit Lange –, dass „wie im Leben des einzelnen, so auch in der Geschichte die Entwicklung durch den Gegensatz sich weder so leicht und radikal, noch so präzis und symmetrisch macht wie in der spekulativen Konstruktion".6 Dies sei Marx und Engels entgangen, und darum habe sich die Dialektik auf ihre sozialpolitischen Anschauungen schädlich ausgewirkt. Freilich, die Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus hielten nichts von spekulativen Konstruktionen. Als überzeugte Materialisten waren sie bestrebt, „die Dialektik auf die Füße zu stellen", die bei Hegel „auf dem Kopf", mit den Füßen nach oben, stand. Nach Herrn Bernstein ist das indes keine so einfache Sache: „Wie immer sich die Dinge in der Wirklichkeit verhalten, sobald wir den Boden der erfahrungsmäßig feststellbaren Tatsachen verlassen und über sie hinaus denken, geraten wir in die Welt der abgeleiteten Begriffe, und wenn wir dann den Gesetzen der Dialektik folgen, wie Hegel sie aufgestellt hat, so befinden wir uns, ehe wir es gewahr werden, doch wieder in den Schlingen der ‚Selbstentwicklung des Begriffs'. Hier liegt die große wissenschaftliche Gefahr der Hegelschen Widerspruchslogik." (S. 37.)7 Diese Gefahr hätten Marx und Engels übersehen, so dass sie ihr mehr als einmal erlegen und von ihrer eigenen Methode in die Irre geführt worden seien. So äußern sie zum Beispiel im „Manifest der Kommunistischen Partei" den Gedanken, dass in Deutschland die bürgerliche Revolution nur das unmittelbare Vorspiel einer proletarischen Revolution sein kann.8 Diese Vermutung („sein kann") erwies sich als falsch: Die bürgerliche Revolution von 1848 war nicht das unmittelbare Vorspiel einer proletarischen Revolution. Warum haben Marx und Engels sich geirrt? Weil sie sich an die Dialektik gehalten haben. Jedenfalls meint das Herr Bernstein. Ein weiteres Beispiel. Wenn Engels 1885 anlässlich der Neuauflage von Marxens {„Enthüllungen über den Kommunistenprozess"} und 1887 im Vorwort zu seiner Broschüre {„Zur Wohnungsfrage"} Gedanken äußerte, die sich nach Bernsteins Ansicht nur schwer mit seiner äußerst negativen Einstellung zur bekannten Rebellion der, Jungen" in der deutschen Sozialdemokratie, die einige Jahre später stattfand,9 vereinbaren lassen, dann sei auch daran die Dialektik schuld. Sie glauben es nicht, verehrter Leser? Überzeugen Sie sich selbst: „Diese Zweideutigkeit aber, die so wenig dem Charakter von Engels entsprach, wurzelte zuletzt in der von Hegel übernommenen Dialektik." (S. 44.)10 In diesem Satz gibt es leider auch nicht die Spur von „Zweideutigkeit". Hat man sich dann hiervon überzeugt und fragt Herrn Bernstein, warum denn eigentlich die Dialektik zur Zweideutigkeit tendiere, erhält man folgende Erklärung: „Deren ,ja, nein und nein, ja' statt des ,ja, ja und nein, nein', ihr Ineinanderfließen der Gegensätze und Umschlagen von Quantität in Qualität, und was der dialektischen Schönheiten noch mehr sind, stellte sich immer wieder der vollen Rechenschaftsablegung über die Tragweite erkannter Veränderungen hindernd entgegen." (Dieselbe Seite.)11

Wenn sich die „dialektischen Schönheiten" immer der vollen Rechenschaftslegung über in der Realität eingetretene Veränderungen entgegenstellten, dann liegt es auf der Hand, dass die dialektische Methode ihrem ganzen Wesen nach falsch ist und dass sich alle, die im Namen der Wahrheit um ein richtiges Verständnis der Natur und des gesellschaftlichen Lebens bemüht sind, entschieden von ihr lossagen müssen. Dabei bleibt lediglich eine Frage offen: Wie konnten die alles andere als schönen dialektischen „Schönheiten" Hegel in seiner Geschichtsphilosophie zu dem bringen, was Herr Bernstein – Lange folgend – „fast eine anthropologische Entdeckung" nennt? Das Wörtchen „fast", das Bernstein so betont, erklärt in diesem Falle überhaupt nichts und kann höchstens die alte Wahrheit bestätigen, dass „eben wo Begriffe fehlen, da stellt ein Wort zur rechten Zeit sich ein".12 Im Übrigen könnte man diese „Zweideutigkeit" dem Herrn Bernstein wohl nachsehen, wenn er sich bemüht hätte, die Richtigkeit seiner Auffassung vom Schaden der „dialektischen Schönheiten" wenigstens irgendwie zu beweisen. Doch von Beweisen gibt es bei ihm überhaupt keine Spur. Woher sollte er sie auch nehmen: Wagt er doch selbst nicht einmal zu behaupten, er habe Hegel irgendwann studiert. Würde er es jedoch tun, dann könnte man ihm sehr leicht nachweisen, dass er sich irrt. Darum versucht Herr Bernstein auch gar nicht erst, seine Ansicht zu beweisen. Er äußert sie bloß, und er rechnet ganz fest damit, dass sich immer naive Leser finden, die ihm nicht nur aufs Wort glauben, sondern sogar seine Tiefsinnigkeit bewundern werden.

II

Habent sua fata libelli13, sagten die Römer. Auch Schriftsteller haben ihr Schicksal, und manchmal ein überaus merkwürdiges. Nehmen wir nur Hegel. Wie wenig Menschen gibt es heute, die sich die Mühe gemacht haben, seine Philosophie zu studieren, aber wie viele „Kritiker" erlauben sich, vorschnell über sie zu urteilen! Dieselben leichtsinnigen Leute würden indes höchst aufgebracht sein, wenn es jemandem einfiele, ein Buch des Herrn Bernstein zu kritisieren, ohne es gelesen zu haben. Wie kommt es, dass hier mit zweierlei Maß gemessen wird? Warum ist gegenüber dem großen Hegel eine solche Leichtfertigkeit erlaubt, die jeder gegenüber dem kleinen Herrn Bernstein als unzulässig empfindet? That ist the question.

Würde Herr Bernstein den Gegenstand kennen, über den er so naiv und so unbeholfen urteilt, er würde sich seines Urteils über die Dialektik schließlich selber schämen. Er sagt, das dialektische „ja, nein und nein, ja" sei einer besonnenen Einstellung zur Wirklichkeit hinderlich und liefere uns der „Selbstentwicklung des Begriffes" aus. Dieses Vergehens macht sich aber gerade jenes metaphysische Denken schuldig, dessen Gepflogenheiten Herr Bernstein mit der Formel „ja, ja und nein, nein" beschreibt.

Hegel sagt: „Es ist die Weise der Jugend, sich in Abstraktionen herumzuwerfen, wohingegen der lebenserfahrene Mensch sich auf das abstrakte Entweder-Oder nicht einlässt, sondern sich an das Konkrete hält."14 Diese einfachen Worte charakterisieren zur Genüge den Unterschied zwischen der Dialektik einerseits und dem Denken nach Bernsteins geliebter Formel „ja, ja und nein, nein" andererseits.

Letztere Formel ist eben jenes „abstrakte ‚Entweder-Oder’“, für das nach Hegel die Jugend eine Vorliebe hat. Dass sich aber dieses „abstrakte Entweder-Oder'" lange der richtigen Fragestellung im gesellschaftlichen Leben und selbst in der Naturwissenschaft entgegenstellte, das ist heute allen bekannt. Bei uns in Russland hat der verstorbene N. G. Tschernyschewski äußerst populär und gut auseinandergesetzt, wodurch sich das dialektische Verhältnis zum Untersuchungsgegenstand auszeichnet. Ein „definitives Urteil lässt sich", vom Standpunkt der Dialektik aus, „nur über eine bestimmte Tatsache fällen, und zwar nach Untersuchung aller Umstände, von denen sie abhängt… Zum Beispiel: ,Ist der Regen gut oder schlecht?' – diese Frage ist abstrakt; sie lässt sich definitiv nicht beantworten; manchmal bringt der Regen Nutzen, manchmal, wenn auch seltener, bringt er Schaden; man muss bestimmt fragen: ,Nach Beendigung der Getreideaussaat fiel fünf Stunden lang heftiger Regen – war er für das Getreide von Nutzen?' Nur hier gibt es eine klare Antwort".15 Genauso hat die dialektische Philosophie Hegels, wie Tschernyschewski völlig richtig feststellt, gesellschaftliche Erscheinungen beurteilt. Ist der Krieg verderblich oder wohltätig? „Allgemein lässt sich hierauf keine bestimmte Antwort geben; man muss zuerst wissen, von was für einem Krieg die Rede ist… Die Schlacht bei Marathon war eines der positivsten Ereignisse in der Geschichte der Menschheit."16 Die Erscheinungen so zu betrachten heißt aber, ihre Untersuchung auf eine konkrete Grundlage zu stellen. Ebendeshalb hat die dialektische Philosophie erkannt, sagt Tschernyschewski, „dass die allgemeinen Phrasen, mit denen man bisher über Gut und Böse geurteilt hatte, ohne die näheren Umstände und Ursachen zu untersuchen, unter denen die betreffende Erscheinung entstanden war – dass diese allgemeinen, abstrakten Redereien unbefriedigend seien … ,Es gibt keine abstrakte Wahrheit, die Wahrheit ist konkret'".17

Auf den ersten Blick scheint das klar und selbstverständlich. Klar ist es jedoch nur dem, der – bewusst oder unbewusst – den dialektischen Standpunkt bezieht und das „abstrakte Entweder-Oder" (bzw. die Formel „ja, ja und nein, nein") nicht als die wichtigste Denkmethode ansieht. Fragen sie doch zum Beispiel einmal den Grafen L. N. Tolstoi, ob die angeführten Gedanken Tschernyschewskis über den Krieg richtig sind. Er wird ihnen antworten, dass sie absolut falsch sind, denn der Krieg ist ein Übel, und ein Übel kann niemals etwas Gutes sein. Graf Tolstoi beurteilt alle Fragen vom Standpunkt des „abstrakten Entweder-Oder", was auch seine Schlussfolgerungen jeglicher ernst zu nehmenden Bedeutung beraubt. Als Denker steht er der Dialektik unendlich fern, woraus sich unter anderem seine instinktive Abneigung gegen den Marxismus erklärt. Leider hat auch Tschernyschewski selbst häufig vergessen, dass „die Wahrheit immer konkret" ist. In seiner politischen Ökonomie neigt er selbst des Öfteren zu einem „abstrakten Entweder-Oder". Aber diese unbestreitbare Tatsache interessiert uns im Augenblick nicht. Hier scheint uns wichtig, den Leser daran zu erinnern, wie gut Tschernyschewski die Unvereinbarkeit von dialektischer Anschauung und abstraktem Urteilen verstanden und wie einfach und anschaulich er sie (in seinen „Skizzen über die Gogolsche Periode der russischen Literatur") erklärt hat.

Die Anarchisten fragen die Sozialdemokraten: Erkennt ihr die Freiheit der Persönlichkeit an? Wir erkennen sie an, antworten die Sozialdemokraten, aber nur bedingt, denn die unbedingte Freiheit einer Person ist gleichbedeutend mit der unbedingten Knechtschaft aller Personen ihrer Umgebung, sie verkehrt folglich die Freiheit in ihr gerades Gegenteil. Eine solche Antwort gefällt den Anarchisten nicht, die, wie es scheint, die Sozialdemokraten für Feinde der Freiheit halten und die ihrerseits eine unbegrenzte, das heißt unbedingte Freiheit der Persönlichkeit verkünden. Die Verkehrung der Freiheit in ungerades Gegenteil erscheint ihnen als ein einfacher Sophismus oder (wie einer von ihnen jetzt, nachdem er die Terminologie des Herrn Bernstein kennengelernt hat, sagen könnte) als eine der Schönheiten der Hegelschen Dialektik. Die anarchistische Freiheitslehre ist vom Geist des „abstrakten Entweder-Oder" (entweder Freiheit oder Despotismus) gänzlich durchdrungen, sie fußt ganz und gar auf der Bernsteinschen Lieblingsformel „ja, ja und nein, nein", während die Sozialdemokraten die Frage der Freiheit konkret steilen. Sie wissen, dass es eine abstrakte Wahrheit nicht gibt, dass die Wahrheit konkret ist.

Sie sind in dieser Beziehung vom Geist der Dialektik durchdrungen.

Gewiss, Herr Bernstein selber wendet sich mit Vergnügen gegen die anarchistische Freiheitslehre und gibt zu, dass es eine abstrakte Wahrheit nicht geben kann. Und dieweil er sich in diesem Sinne äußert, bezieht er selber den Standpunkt der Dialektik. Aber er tut das unbewusst, und infolgedessen kann er sich auch nicht von der ihn beherrschenden Begriffsverwirrung lösen. Molieres Monsieur Jourdain konnte eine ganz leidliche Prosa sprechen, ohne auch nur zu ahnen, dass es eine prosaische Sprache gibt.18 Wenn man aber Leuten gewährt, über Dialektik zu urteilen, die von der dialektischen Methode nur unbewusst Gebrauch machen können, dann äußern diese nichts als Unsinn.

Die Suche nach der konkreten Wahrheit ist ein Merkmal des dialektischen Denkens. Tschernyschewski äußert denselben Gedanken, wenn er sagt, dass seit Hegels Zeiten die „Erklärung der Wirklichkeit… zur wesentlichen Pflicht philosophischen Denkens" wurde und dass sich daraus „eine außerordentliche Aufmerksamkeit für die Wirklichkeit" ergab, „über die man sich früher keine Gedanken gemacht hatte, indem man sie ungeniert zugunsten der eigenen, einseitigen Vorurteile entstellte".19

Wenn das so ist – und es ist wirklich so –, dann ist es nicht schwer, die Rolle der Dialektik in der Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft zu verstehen.

Die französischen Aufklärer des 18. Jahrhunderts betrachteten das gesellschaftliche Leben vom Standpunkt des abstrakten Gegensatzes zwischen Gut und Böse, zwischen Verstand und Dummheit. Sie haben sich ständig „in Abstraktionen herumgeworfen". Es genügt, an ihr Verhältnis zum Feudalismus zu erinnern, den sie als den größten Widersinn ansahen, ohne im mindesten anzuerkennen, dass es eine Zeit gab, wo er auf seine Art ein vernünftiges System gesellschaftlicher Beziehungen gewesen sein konnte. Bei den utopischen Sozialisten macht sich gelegentlich eine starke Unzufriedenheit mit dem abstrakten Denken des achtzehnten Jahrhunderts bemerkbar. Einige von ihnen lassen hin und wieder in ihren Urteilen über die Geschichte die abstrakte Formel „ja, ja und nein, nein" fallen, um einen dialektischen Standpunkt zu beziehen. Aber das geschah nur manchmal. Ihre überwältigende Mehrheit begnügt sich bei ihren Aussagen über das gesellschaftliche Leben in den weitaus meisten Fällen weiterhin mit dem „abstrakten Entweder-Oder". Von dem Geist dieses „Entweder-Oder" sind alle ihre Systeme erfüllt, und gerade dieses „Entweder-Oder" gibt ihren Systemen den utopischen Charakter. Um von der Utopie zur Wissenschaft zu werden, musste der Sozialismus über diese Denkmethode hinauswachsen und sich zur dialektischen Methode entwickeln. Marx und Engels vollzogen diese notwendige Reform im Sozialismus. Sie konnten dies jedoch nur deshalb tun, weil sie vorher durch die Schule der Hegelschen Philosophie gegangen waren. Sie haben auch selbst gern zugegeben, dass sie der dialektischen Methode in vielem verpflichtet sind. Herr Bernstein dagegen möchte es anders sehen. Er erklärt uns, die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft sei trotz der Dialektik und nicht dank ihr vor sich gegangen.

(Das ist zwar sehr entschieden formuliert, aber ebenso wenig beweiskräftig wie jener bemerkenswerte Gedanke, der seinerzeit von Herrn L. Tichomirow in seiner Broschüre „ Warum ich nicht mehr Revolutionär bin" geäußert wurde, dass sich nämlich die russische Literatur dank der Selbstherrschaft und nicht trotz ihr entwickelt habe.20)

Herr Bernstein ist fest davon überzeugt, dass Hegel und seine Schüler exakt definierte Begriffe geringschätzten und sie für Metaphysik hielten. Der Leser weiß bereits von Tschernyschewski, welch aufmerksames Verhältnis zur Wirklichkeit die dialektische Philosophie Hegels forderte. Solch ein aufmerksames Verhältnis zur Wirklichkeit ist jedoch ohne exakt definierte Begriffe nicht möglich. Darum muss angenommen werden, dass Herr Bernstein den großen Denker auch in diesem Falle nicht begriffen hat. Und so ist es auch. Um sich davon zu überzeugen, genügt es, den 80. Paragraphen der großen Hegelschen „Enzyklopädie" durchzulesen (und ihn natürlich zu verstehen). Er lautet wie folgt: Paragraph:

Das Denken als Verstand bleibt bei der festen Bestimmtheit und der Unterschiedenheit derselben gegen andere stehen; ein solches beschränktes Abstraktes gilt ihm als für sich bestehend und seiend."

Der Zusatz zum Paragraphen:

Das Weitere ist dann aber, dass vor allen Dingen auch dem bloß verständigen Denken sein Recht und sein Verdienst zugestanden werden muss, welches überhaupt darin besteht, dass sowohl auf dem theoretischen als auch auf dem praktischen Gebiet es ohne Verstand zu keiner Festigkeit und Bestimmtheit kommt. Was hierbei zunächst das Erkennen anbetrifft, so beginnt dasselbe damit, die vorhandenen Gegenstände in ihren bestimmten Unterschieden aufzufassen, und es werden so z. B. bei Betrachtung der Natur Stoffe, Kräfte, Gattungen usw. unterschieden und in dieser ihrer Isolierung für sich fixiert. Das Denken verfährt hierbei als Verstand, und das Prinzip desselben ist die Identität, die einfache Beziehung auf sich. Diese Identität ist es dann auch, durch welche im Erkennen zunächst der Fortgang von der einen Bestimmung zur andern bedingt wird."21

Wer hinter den Worten die mit ihnen korrespondierenden Begriffe zu entdecken vermag, der wird, ohne an der uns heute sonderbar anmutenden Terminologie Hegels Anstoß zu nehmen, darin zustimmen, dass der von Hegel aufgezeigte Weg der Untersuchung genau der Weg ist, auf dem die Wissenschaft der Gegenwart – zum Beispiel die Naturwissenschaft – ihre glänzendsten theoretischen Errungenschaften erzielt hat.

Hegel ignoriert nicht nur nicht die Rechte des Verstandes (und damit auch der exakt definierten Begriffe), sondern er tritt für diese Rechte sogar auf den Gebieten energisch ein, die vom „Verstandesmäßigen" sehr weit entfernt zu sein scheinen: in der Philosophie, in der Religion und in der Kunst. Er bemerkt sehr feinsinnig, dass jede erfolgreiche dramatische Dichtung eine Reihe genau bestimmter Charaktere voraussetzt. Und was die Philosophie anbelangt, so fordert sie nach seinen Worten vor allem die Präzision des Gedankens!22*

Doch was kümmert Herrn Bernstein der wahre Charakter der Hegelschen Philosophie? Was kümmert ihn Hegels „Enzyklopädie" im allgemeinen und dieser oder jener Paragraph im besonderen? Er weiß genau, dass er immer Leser finden wird, die ihm sogar dann Beifall klatschen, wenn sie seine Fehler bemerkt haben. Er „kritisiert" Marx! Er versucht, das marxistische „,Dogma" zu zerstören. Das reicht heute völlig aus, um zu Ruhm und Ansehen zu gelangen. Es schadet natürlich nicht, vorher auch zu studieren, was man kritisieren möchte. Aber man kann darauf auch verzichten …

Herr Bernstein vertraut auf seinen gesunden Menschenverstand. Engels jedoch hat mit Recht darauf hingewiesen, dass der gesunde Menschenverstand nur so lange ein zuverlässiger Begleiter ist, wie er die Grenzen seiner Kompetenz nicht überschreitet. Wieweit Herr Bernstein gekommen ist, zeigt seine folgende Äußerung, die übrigens nicht in dem hier behandelten Buch enthalten ist, sondern in einem seiner Artikel, der schon nach dem Erscheinen des Buches in der „Neuen Zeit" abgedruckt wurde.23

In seiner bekannten Schrift über Ludwig Feuerbach sagt Engels, dass die Welt aus der Sicht der Dialektik als ein Komplex von Prozessen zu fassen ist, in dem die Dinge und ihre Gedankenabbilder, d. h. die Begriffe, nicht unbeweglich bleiben, sondern eine ununterbrochene Veränderung durchmachen.24 {„Prinzipiell"} findet Herr Bernstein diese These „natürlich" richtig. Aber er weiß nicht, innerhalb welcher Grenzen sie ihre Richtigkeit behält und wie die Worte „ununterbrochene Veränderung" zu verstehen sind. Er bemerkt dazu, dass die Veränderungen, denen jeder einzelne menschliche Organismus unterworfen ist, dennoch aus ihm kein gänzlich andersartiges Wesen machen können. Ob solcher Gedankentiefe könnte ihn selbst ein Sancho Pansa beneiden. Aber glaubt Herr Bernstein wirklich, dass Hegel und die Hegelianer diese tiefe, altehrwürdige Wahrheit auch nur für eine Minute aus dem Auge verlieren konnten? Als wenn er das Auftauchen von „Kritikern" à la Bernstein vorausgesehen hätte, hat Hegel seine Hörer darauf aufmerksam gemacht, dass die Entwicklung jeder gegebenen Erscheinung nur das verwirklichen kann, was in ihr als Möglichkeit ({an sich}) enthalten ist. Als Beispiel wählt er die Pflanze. Er sagt, obwohl die Pflanze sich verändert, so verändert sie sich jedoch entsprechend der Natur ihres Keimes und „verliert sich nicht in bloße ungemessene Veränderung".25* Nun urteilen Sie: Bedurfte es da noch der tiefsinnigen Bemerkung des Herrn Bernstein?

III

Herr Bernstein behauptet, Marx habe das Tempo der geschichtlichen Bewegung überschätzt.26 Das ist richtig, wenn man es auf Marxens Ansichten über die Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft bezieht. Aber warum neigte Marx zu einer solchen Überschätzung? Herr Bernstein gibt erneut der Dialektik die Schuld. Und diese Seite der Wirkung der Dialektik scheint ihm die gefährlichste und schädlichste zu sein. Gerade sie ist es auch, die Herrn Bernstein vor den „dialektischen Schönheiten" erschrecken lässt. Leider existiert auch sie nur in seiner Einbildung.

Nach Hegel vollzieht sich der logische Prozess der Negation außerhalb der Zeit. Die realen Prozesse dagegen, bei denen eine Naturerscheinung durch eine andere oder ein Gesellschaftssystem durch ein anderes negiert wird, werden, was das Tempo ihres Verlaufs anbelangt, durch ihre eigene Natur und durch die konkreten Bedingungen, unter denen sie sich vollziehen, bestimmt. In seiner Polemik mit Dühring und im Buch „Ludwig Feuerbach "verweist Engels auf die Entwicklung des Weltalls als einen dialektischen Prozess. Hat er das Tempo dieses Prozesses überschätzt, von dem er selbst sagt, dass er ungewöhnlich lange Zeiträume erfordere? Wohl kaum. Doch selbst wenn ihm dieser Fehler unterlaufen wäre, dürfte man dafür auf keinen Fall der Dialektik die Schuld geben, sondern müsste irgendwelche anderen Umstände verantwortlich machen: entweder einen Mangel an naturwissenschaftlichen Kenntnissen oder eine etwas nachlässige Beziehung zum Gegenstand oder ähnliches mehr. Der Einfluss der Dialektik auf sein Urteil über das Tempo dieser Prozesse wäre in diesem Fall genauso unbedeutend wie der der Gesichtsfarbe der Kaiserin von China.

Nehmen wir ein weiteres Beispiel, diesmal aus dem historischen Bereich. In der „Misère de la Philosophie", wo Marx der abstrakten Denkweise Proudhons seine dialektische Methode entgegenstellt, lesen wir: „Es bedurfte in Deutschland ganzer drei Jahrhunderte, um die erste bedeutende Arbeitsteilung herzustellen – nämlich die Trennung von Stadt und Land."27 Ist hier das historische Entwicklungstempo übertrieben worden? Mir scheint, dass wiederum keinerlei Übertreibung vorliegt. Wäre es jedoch der Fall, dann hätte die Dialektik damit nichts, aber auch gar nichts zu tun.

Ein drittes Beispiel hängt mit dem gesellschaftlichen Leben unserer Zeit zusammen. Lassalle war bekanntlich ein überzeugter Anhänger der dialektischen Methode. Aber dieser überzeugte Anhänger der dialektischen Methode glaubte, dass zur allmählichen Beseitigung des {Grund- und Kapitaleigentums"} 100 bis 200 Jahre nötig sind. Nach der jetzigen Stimmung des Herrn Bernstein zu urteilen, darf man wohl annehmen, dass ihm auch diese Frist noch zu kurz erscheint. Wahrscheinlich denkt Herr Bernstein heute, ähnlich wie Rodbertus, dass für die genannte Beseitigung mindestens 500 Jahre erforderlich sind. Das ist seine Sache. Marx hingegen würde sicher der Meinung sein, dass Lassalle mehr Zeit verlangt, als für die grundlegende Umgestaltung der Gesellschaft nötig ist. Daraus folgt, dass die Hegelianer, die sich über die Bedeutung der dialektischen Methode völlig einig waren, in der Beurteilung des Tempos der gesellschaftlichen Entwicklung ihrer Zeit sehr weit auseinandergehen konnten. Hieraus ergibt sich: Wenn irgendein Anhänger der Dialektik tatsächlich dieses Tempo überschätzt, dann muss man das auf irgendwelche anderen Gründe zurückführen, aber nicht auf den Einfluss der Dialektik.

Wir wissen, dass wir denken", sagt Bernstein, „und wir wissen auch so ziemlich, in welcher Weise wir denken. Aber wir werden nie wissen, wie es zugeht, dass wir denken, wieso aus Eindrücken von außen, aus Nervenreizen oder aus Änderungen in der Lagerung und dem Zusammenwirken der Atome unseres Gehirns Bewusstsein entsteht.''28

Richtig ist, dass wir niemals wissen werden, wie unser Bewusstsein entsteht. Darum geht es aber auch gar nicht. Die Frage ist vielmehr, ob dieses unser Nichtwissen als ein Einwand gegen den Materialismus gelten kann. Die „kritischen" Denker vom Schlage eines F. A. Lange und sogar die Physiologen vom Schlage eines Du Bois-Reymond meinen Ja. Der Verfasser dieser Zeilen sagt dagegen Nein. Wir bewiesen das in einem gegen Bernstein gerichteten Artikel29 mit Auszügen aus Werken Von La Mettrie. Herr Bernstein ist uns deswegen sehr böse, aber er hat, wie der Leser jetzt feststellen kann, unsere Einwände nicht im Mindesten verstanden.

Man hat es damit zu erklären versucht", setzt Bernstein fort, „dass man dem Atom einen gewissen Grad von Bewusstseinsfähigkeit, von Beseeltheit im Sinne der Monadenlehre, zusprach."30

Tatsächlich, man hat es versucht. Und zu denen, die es versucht haben, gehörte, wie ich in meinem Artikel gezeigt habe, auch der Materialist La Mettrie, wenn es auch sehr gewagt ist, seine Lehre mit der Leibnizschen Monadenlehre zu vergleichen. Herr Bernstein sagt über La Mettrie selbst eigentlich gar nichts, sondern glaubt noch, dass „das (gemeint ist der oben erwähnte Deutungsversuch – G. P.) ein Gedankenbild, eine Annahme ist, zu der unsere Folgerungsweise und unser Bedürfnis nach einheitlichem Begreifen der Welt uns zwingt".31

Verstehen Sie das, verehrter Leser? Wenn ja, dann möchten wir Sie von ganzem Herzen beglückwünschen, weil Sie besser dran sind als der Schreiber dieser Zeilen, aber auch als Herr Bernstein selbst, der offensichtlich nicht begreift, was er da sagt. Das ist nicht mehr als eine Annahme! Nun, selbstverständlich. Herr Bernstein ist darauf erst gekommen, als ihm in den Sinn kam, sich vom Materialismus loszusagen, während keiner von denen, die die Sache verstanden haben, dieses „das" als etwas anderes ausgegeben haben.

Was folgt jedoch daraus, dass „das" eine einfache Annahme ist? Vielleicht, dass der Materialismus nicht haltbar ist? Das ist die ganze Frage. Aber auf diese Frage hat Herr Bernstein weder in seinen früheren „kritischen" Übungen noch in dem von uns analysierten Buch auch nur ein „Atom" einer Antwort gegeben.

Fahren wir fort: „Ein Artikel, in dem ich auf diese Tatsache verwies und bemerkte, dass der reine Materialismus zuletzt Idealismus sei, hat George Plechanow erwünschten Anlass gegeben, in der {,Neuen Zeit'} (Heft 44, Jahrg. 16, II)32 über mich herzufallen und mir Unwissenheit im Allgemeinen und gänzliche Verständnislosigkeit hinsichtlich der philosophischen Anschauungen von Fr. Engels im <besonderen vorzuwerfen. Ich gehe auf die Art, wie der Genannte dort meine Worte willkürlich auf Dinge bezieht, die ich gar nicht berührt hatte, nicht weiter ein, sondern konstatiere nur, dass sein Artikel in die Erklärung ausläuft, Engels habe eines Tages Plechanow auf die Frage: ,Sie glauben also, dass der alte Spinoza recht hatte: >der Gedanke und die Ausdehnung sind nichts als die beiden Attribute einer einzigen Substanz<', geantwortet: ,Gewiss, der alte Spinoza hat vollständig recht gehabt'."33

Der Verfasser dieser Zeilen war wirklich sehr erstaunt, als er gewahr wurde, wie schlecht Herr Bernstein die Philosophie von Engels (und damit auch von Marx) verstanden hat, obwohl er doch mit beiden etliche Jahre hindurch persönlich eng verbunden war. In Antwort auf den Aufruf Bernsteins „Zurück auf Kant" hatten wir ihn eingeladen {zurück ins Studierzimmer}. Wir haben keinen Anlass gesucht, über Herrn Bernstein herzufallen. Wenn unser Erstaunen in einer etwas schroffen Form zum Ausdruck kam, dann erklärt sich diese Schroffheit aus unseren früheren Beziehungen zu Herrn Bernstein. Obwohl er uns immer als ein beschränkter Mensch erschienen ist (das können viele unserer vertrautesten Genossen bezeugen), haben wir ihn dennoch der Schule von Marx zugerechnet und waren sehr betroffen von jenen wahrhaft kindlichen Lappalien, die er seinerzeit über den Materialismus geschrieben hat. Zu dieser Zeit mag unsere scharfe Reaktion manchem Leser ungerecht vorgekommen sein. Heute indessen wird sich kaum jemand, der noch nicht allen Wissens bar ist, finden, der uns vorwerfen könnte, wir hätten übertrieben. Heute erstrahlt die philosophische Unwissenheit des Herrn Bernstein in vollem Glanz.

Heute fordern wir ihn nicht einmal mehr auf, zu den Lehrbüchern zurückzukehren: Wir sehen, die Lehrbücher sind nicht für ihn gemacht.

Der reine Materialismus wird letztlich auf den reinen Idealismus zurückgeführt. In diesem Falle wird die Philosophie Fichtes und Hegels „letztlich" auf die Philosophie La Mettries oder Holbachs zurückgeführt?! So etwas kann nur der behaupten, der weder den Materialismus noch den Idealismus, weder Holbach noch La Mettrie, weder Hegel noch Fichte begriffen hat. Zweifellos gibt es zwischen Materialismus und Idealismus ein gemeinsames Merkmal: ihr Bestreben, die Erscheinungen monistisch zu erklären. Aber die Art und Weise, wie der Materialismus dieses Streben realisiert, ist der des Idealismus diametral entgegen gesetzt, so dass Materialismus und Idealismus „letztlich" radikal voneinander abweichen.

Wenn Herr Bernstein „Zurück auf Kant" fordert, dann müsste er zeigen, dass der Weg des Materialismus in dieser oder jener Hinsicht falsch ist. Stattdessen hat er sich damit begnügt, den Materialismus (noch dazu in einer so ungeschickten, naiven Weise) auf den Idealismus „zurückzuführen". Was für eine erstaunliche Kraft und Tiefe der Kritik!

Nun zu Spinoza. (G. L. Kanzel hat die entsprechenden Stellen im Buch des Herrn Bernstein schlecht übersetzt.) Herr Bernstein lässt also verlauten, dass unser Artikel, der anlässlich seiner „Rückkehr auf Kant" (den er, wie sogar sein Gesinnungsfreund Herr Struve zugibt, niemals gekannt hat und auch heute noch nicht kennt) geschrieben wurde, auf das zitierte Gespräch zwischen mir und Engels, auslaufe. Das stimmt nicht.

Ein deutscher Genosse, der in der Philosophie weit kompetenter ist als Herr Bernstein, äußerte in der {Neuen Zeit"} den Gedanken, dass der naturwissenschaftliche Materialismus keiner Kritik standhalte und dass man ihn vergeblich mit der Theorie von Marx-Engels verbinde, die man sehr leicht mit der fundierteren philosophischen Lehre Spinozas in Zusammenhang bringen könne.34 Da Herr Bernstein unter anderem auf den Beitrag dieses Genossen verwiesen hat, hielten wir es für angebracht, auch auf ihn zu antworten. Wir haben gezeigt, dass Marx und Engels niemals jenen Materialismus vertreten haben, den der Genosse Spinozist als einen naturwissenschaftlichen bezeichnet, also den Materialismus von Vogt35 und Moleschott. Des weiteren haben wir anhand der Werke von La Mettrie und Diderot nachgewiesen, dass der französische Materialismus des 18. Jahrhunderts im Grunde genommen nicht mehr war als ein modifizierter Spinozismus. Zu demselben Ergebnis sind wir bei Feuerbach gekommen. Erst danach, als wir zu Marx und Engels, den Begründern des wissenschaftlichen Sozialismus, übergingen, haben wir, die enge Verwandtschaft ihrer philosophischen Ansichten mit denen Feuerbachs hervorhebend, unserer Überzeugung Ausdruck gegeben, dass auch ihr Materialismus eine Abart des Spinozismus gewesen ist. Und schließlich haben wir – zur Stützung dieser Überzeugung – eines unserer Gespräche mit Engels angeführt. Bei Herrn Bernstein dagegen hat es den Anschein, als ob unser ganzer Artikel auf die Wiedergabe dieses Gesprächs hinauslaufe. Welchem Umstand mag das zuzuschreiben sein – mangelnder Wahrheitsliebe oder einer zu geringen Auffassungsgabe?

Nun ist bei Spinoza die Substanz, der er diese beiden Attribute zuspricht – Gott“, lesen wir weiter bei Herrn Bernstein. „Allerdings Gott, der mit der Natur identifiziert wird, weshalb denn auch schon sehr früh Spinoza als Gottesleugner denunziert und seine Philosophie als atheistisch verworfen wurde, während sie formell als Pantheismus erscheint… Spinoza gelangte zu dem Begriff der unendlichen Substanz Gott mit den erwähnten und anderen… Attributen auf rein spekulativem Wege; für ihn waren das gesetzmäßige Denken und Sein identisch. Insofern begegnet er sich mit verschiedenen Materialisten, aber er selbst könnte nur mit vollkommen willkürlicher Deutung des Wortes als Vertreter des philosophischen Materialismus bezeichnet werden. Wenn man unter Materialismus überhaupt etwas Bestimmtes verstehen soll, so kann es nur die Lehre von der Materie als letztem und einzigem Grund der Dinge sein. Aber Spinoza bezeichnet seine Substanz Gott ausdrücklich als unkörperlich. Es steht jedem frei, Spinozist zu sein, aber dann ist er eben kein Materialist."36

Das ist alles, was Herr Bernstein auf unsere historische Auskunft zu sagen hat. Viel ist das nicht. Doch zu diesem wenigen passt in gewissem Sinne, was in ähnlichen Fällen die Lateiner zu sagen pflegten: non multa, sed multum.37 Spinoza ähnelt einigen Materialisten darin, als für ihn das gesetzmäßige Denken und das Sein identisch sind. Nun, gut. Folglich gibt es wohl Materialisten, die die Identität von Sein und Denken anerkennen? Heraus kommt, ja. Aber das ist purer Unsinn, und wenn Herr Bernstein begriffen hätte, was eigentlich die Worte Identität von Sein und Denken bedeuten, er hätte diese Identität bei keinem einzigen Materialisten jemals entdeckt. Ihm wäre dann klargeworden, dass die Anerkennung der Identität von Sein und Denken nur im Idealismus möglich ist. Und dann hätte er – ein neuer und auch nicht geringer Vorzug des Verständnisses des Gegenstandes – nicht behauptet, dass der reine Materialismus schließlich auf den Idealismus hinauslaufe. Doch er begreift nicht, worüber er spricht, und darum zeigt er sich im Gebrauch philosophischer Termini ebenso ungeschickt und hilflos, wie sich im Umgang mit der Literatursprache der „Magier" (in G. I. Uspenskis Erzählung „Die Not singt Lieder") ungeschickt und hilflos zeigt, der dem verehrten Publikum eine „Enthauptung des Kopfes, der Nase und anderer Körperteile" vorzuführen versprach.

Hätte Spinoza die Identität von Sein und Denken anerkannt, so wäre er ein „reiner" Idealist gewesen, also gerade das, was er nicht war. Seine einheitliche Substanz ist zugleich sowohl körperlich als auch geistig.38* Nach Herrn Bernsteins Worten indessen „bezeichnet" Spinoza diese „ausdrücklich" als unkörperlich. Wie gut er doch den Spinoza verstanden hat! Fast so gut wie den Hegel!

Alle diese Missgriffe des Herrn Bernstein sind dermaßen evident und dermaßen unverzeihlich, sie zeugen von einer so vollständigen und entschiedenen Inkompetenz des Herrn Bernstein auf dem Gebiet der Philosophie, dass bei den Lesern die Frage auftauchen könnte, ob es sich denn lohne, auf sie einzugehen. Aber wenn wir auch nur für einen Augenblick dazu neigen würden, diese Fragen zu verneinen, dann wäre das ein schwerwiegender Fehler.

IV

Erfreut über das Renegatentum des Herrn Bernstein, beschäftigt sich die Bourgeoisie jetzt so mit diesem „Kritiker", sie verkündet so lautstark seine „kritischen" Heldentaten, dass eine sorgfältige Analyse seiner Argumentation viele äußerst interessante psychologische „Dokumente" zur Charakteristik unserer Epoche geben kann. Zudem sind die Lossagung des Herrn Bernstein vom Materialismus und sein Bestreben „Zurück auf Kant“39* keineswegs einfache Fehler des philosophischen Geistes (soweit man bei Herrn Bernstein von philosophischem Geist sprechen kann). Nein, sie sind der ganz natürliche, ganz unausbleibliche und klare Ausdruck seiner derzeitigen sozial-politischen Bestrebungen. Diese Bestrebungen auf einen Nenner gebracht ergeben: Annäherung an die führenden Schichten der Bourgeoisie. „Das, was man Bürgertum nennt", sagt er, „ist eine sehr zusammengesetzte Klasse, aus allerhand Schichten mit sehr verschiedenartigen, bzw. unterschiedenen Interessen bestehend. Diese Schichten halten auf die Dauer nur zusammen, wenn sie sich entweder gleichmäßig bedrückt oder gleichmäßig bedroht sehen. Im vorliegenden Falle kann es sich natürlich nur um das letztere handeln, das heißt, dass das Bürgertum eine einheitliche reaktionäre Masse bildete, weil sich alle seine Elemente von der Sozialdemokratie gleichmäßig bedroht fühlen, die einen in ihren materiellen, die anderen in ihren ideologischen Interessen: in ihrer Religion, ihrem Patriotismus, in ihrem Wunsche, dem Lande die Schrecken einer gewalttätigen Revolution zu ersparen." (S. 248–249.)40 Dieses kleine Zitat liefert uns den Schlüssel zum Verständnis der Psychologie der von Herrn Bernstein in Angriff genommenen „Überprüfung" des Marxismus. Um die ideologischen Interessen der Bourgeoisie – und vor allem ihre Religion – nicht zu „bedrohen", hat sich Herr Bernstein auf die Position der „kritischen" Philosophie zurückbegeben, die mit der Religion vorzüglich auskommt, während der Materialismus ihr entschiedener und unversöhnlicher Feind ist.41* Um den bürgerlichen „Patriotismus" nicht zu „bedrohen", begann er, Marxens These zu widerlegen, dass das Proletariat kein Vaterland hat, und über die deutsche Außenpolitik im Stile eines echten „Staatsmannes" aus der Schule der Realpolitiker" zu schwätzen. Und um schließlich die Bourgeoisie nicht mit den „Schrecken einer gewalttätigen Revolution" zu „bedrohen", zog er gegen die {Zusammenbruchstheorie"} (die er, nebenbei bemerkt, selbst aus einigen, zum Teil falsch verstandenen, zum Teil entstellten Äußerungen von Marx und Engels zurechtgezimmert hat) zu Felde und verstieg sich zu beweisen, die „Klassendiktatur" gehöre „einer tieferen Kultur an", sei „als ein Rückfall, als politischer Atavismus zu betrachten".42 Wer Herrn Bernstein verstehen will, der muss sich nicht sosehr mit seinen theoretischen Argumenten auseinandersetzen, in denen man nichts außer Unwissenheit und Begriffsverwirrung findet, sondern der muss seine praktischen Bestrebungen untersuchen, die alle seine theoretischen Missgriffe und Sünden erklären. Wie der Mensch, so auch seine Philosophie, hat Fichte einmal ganz richtig bemerkt.

<„Die Religion", schreibt Marx in den {Deutsch-Französischen Jahrbüchern"}, „ist das Opium des Volkes." „Die Aufhebung der Religion als des illusorischen Glücks des Volkes ist die Forderung seines wirklichen Glücks. Die Kritik der Religion ist also im Keim die Kritik des Jammertales."43

Eine solche Sprache konnte selbstverständlich nicht nur jenen bürgerlichen Philistern nicht gefallen, die des religiösen „Opiums" bedürfen, um sich selbst ein wenig illusorisches Glück zu sichern, sondern auch den weit begabteren und kühneren Ideologen der Bourgeoisie, die, von religiösen Vorurteilen selbst schon frei, den Volksmassen ein illusorisches Glück bescheren möchten, nur um das wirkliche Glück der besitzenden Klassen vor ihren Angriffen zu sichern. Es versteht sich von selbst, dass gerade diese Herrschaften besonders kräftig gegen den Materialismus zu Felde ziehen und besonders lautstark den „Dogmatismus" jener Revolutionäre verurteilen, die den wahren Charakter ihrer antimaterialistischen Propaganda enthüllen …>

In einer interessanten Broschüre mit dem Titel {Reform oder Revolution"} hat C. von Massow, {Geheimer Regierungsrat, Mitglied der Internationalen Kommission für Schutzpflege usw.}, kurzum, ein höchst „ehrenwerter" Mann, seiner festen Überzeugung Ausdruck gegeben, dass „wenn unsere Entwicklung fortschreitet wie bisher, so droht der Zukunft des Vaterlandes die soziale Revolution". ({Vorwort, S..1.}) Um dieser Revolution zu entrinnen, bedarf es nach seiner Ansicht einer {Gesamtreform auf staatlichem und sozialem Gebiet}, deren Notwendigkeit denn auch sein Buch gewidmet ist. Aber die Gesamtreform auf sozialem Gebiet schließt in seinem Programm nicht den Kampf gegen {die Mächte des Umsturzes"} aus. Solange noch keine revolutionäre Explosion stattgefunden hat, muss dieser Kampf {mit geistigen Waffen} geführt werden, wobei in diesem Kampf die Kräfte vor allem gegen den Materialismus zu richten sind. Aber Herr von Massow glaubt, dass jene Gegner der „Mächte des Umsturzes, die sich selbst von dem materialistischen Unrat gereinigt haben, erfolgreicher als andere mit dem Materialismus kämpfen werden. „Der Feind, den wir in erster Linie zu bekämpfen haben, ist der Materialismus in unserer eigenen Mitte", verkündet er. „Die Sozialdemokratie ist rein materialistisch, sie leugnet Gott und Ewigkeit (sic). Aber von wem hat sie diese Lehre? Ist sie nicht von oben nach unten hindurchgedrungen? Der übergroße Teil der Gebildeten unserer Zeit hat sich vom Glauben der Väter abgewandt … Ein Teil der gebildeten Welt ist positiv atheistisch."44* Die sozialen Folgen des Atheismus aber sind schrecklich. „Wenn es keinen Gott, kein Jenseits, keine Ewigkeit gibt, wenn mit dem Tode auch die Existenz der Seele aufhört, dann ist alle Not, alles Elend, alles Darben des einen Teils der Menschheit, während der andere im Überfluss schwelgt, doppelt, dreihundertfach so ungerecht. Womit ist es zu begründen, dass neun Zehntel des Volkes die schwere Last durch das Leben tragen, und das letzte Zehntel den Rücken frei hat?"45*

Auf diese Frage kann der Atheist keine auch nur einigermaßen befriedigende Antwort geben. Aber gerade darin liegt die soziale Gefahr des Atheismus, der in der Arbeitermasse revolutionäre Gefühle erweckt und heranzüchtet. Und eben deshalb predigt unser Geheimer Regierungsrat etc. pp. der gebildeten Bourgeoisie die Bußfertigkeit und den Kampf gegen den Materialismus. Herr von Massow ist ein gescheiter Mann. Er ist weitaus gescheiter als alle jene „Marxisten", die von aufrichtiger Sympathie gegenüber der Arbeiterklasse erfüllt sind, sich aber gleichzeitig nicht weniger aufrichtig für die „kritische" Philosophie erwärmen. Diese Leute bekennen sich zur materialistischen Geschichtsauffassung. Doch sie sind über alle Maßen erstaunt, wenn man sie auf die sozialen, das heißt letztlich auf die ökonomischen, Gründe jener Ablehnung des Materialismus und jener Verbreitung des Neokantianismus hinweist, die wir in den Kreisen des gebildeten Bürgertums unserer Epoche beobachten können.

V

Nun aber wieder zu Herrn Bernstein. Das Schlusskapitel seines Buches ziert der Epigraph {Kant wider Cant"}. Bei der Erklärung des Epigraphen sagt Bernstein, dass er den Geist des Königsberger Philosophen für den Kampf gegen die Beschränktheit der veralteten Ansichten heraufbeschwört, die sich in der Sozialdemokratie durchzusetzen anschicken und für diese eine große Gefahr darstellen. „Die Wutanfälle", sagt er, „in die ich damit Herrn Plechanow versetzt habe, haben mich nur in der Überzeugung bestärkt, dass der Sozialdemokratie ein Kant nottut, der einmal mit der überkommenen Lehrmeinung mit voller Schärfe kritisch-sichtend ins Gericht geht, der aufzeigt, wo ihr scheinbarer Materialismus die höchste und darum am leichtesten irreführende Ideologie ist, dass die Verachtung des Ideals, die Erhebung der materiellen Faktoren zu den omnipotenten Mächten der Entwicklung Selbsttäuschung ist, die von denen, die sie verkünden, durch die Tat bei jeder Gelegenheit selbst als solche aufgedeckt ward und wird." (S. 330.)46 Der Leser wundert sich, wieso hier von scheinbarem Materialismus die Rede ist, wieso von Selbsttäuschung, und noch dazu einer Selbsttäuschung, die in der Tat voll bewusst ist. Es gibt dafür eine sehr einfache Erklärung: Herr Bernstein hält die Selbsttäuschung dort für unvermeidlich, wo den Menschen, die die ökonomischen Faktoren für „allmächtig" halten, gleichzeitig in „der Tat" Ideale nicht fremd sind. Allein daraus ist schon ersichtlich, wie nahe Herr Bernstein jetzt Herrn Karejew steht und wie weit er demzufolge von einer ernsthaften Kritik des Marxismus entfernt ist. Um sich davon endgültig zu überzeugen, muss man die Stellen seines Buches lesen, die der Beurteilung der historischen Auffassungen von Marx und Engels gewidmet sind. Bei der Lektüre dieser Seiten stehen einem wahrlich die Haare zu Berge. Aber aus Platzmangel werden wir sie hier nicht näher analysieren und verweisen den interessierten Leser auf das, was dazu von Kautsky in seinem Buch {Bernstein und das sozialdemokratische Programm"}47 und von uns im Vorwort zur neuen Auflage des „Manifests der Kommunistischen Partei"48 gesagt worden ist.49* Wir wollen an dieser Stelle lediglich eine Kuriosität erwähnen, die allerdings nicht mit der philosophiegeschichtlichen, sondern mit der philosophischen „Kritik" des Marxismus zusammenhängt. Herr Bernstein sagt: „Dem Worte materialistische Geschichtsauffassung haften von vornherein alle Missverständnisse an, die sich überhaupt an den Begriff Materialismus knüpfen. Der philosophische oder naturwissenschaftliche Materialismus ist deterministisch, die marxistische Geschichtsauffassung ist es nicht, sie misst der ökonomischen Grundlage des Völkerlebens keinen bedingungslos bestimmenden Einfluss auf dessen Gestaltungen zu." (S. 23–24.)50 Demnach wäre nur derjenige ein Determinist, der der ökonomischen Grundlage des Lebens einen bedingungslos bestimmenden Einfluss auf die Gestaltungen des Lebens beimisst. Welch eine Herkulessäule an Unwissenheit und Unverständnis! Aber das ist noch nicht alles. Als später Kautsky in der „Neuen Zeit" bemerkte, dass es ohne Determinismus keine wissenschaftliche Erklärung der Erscheinungen gibt, da hielt es unser „Kritiker" sogleich für angebracht, festzustellen, dass er eigentlich nur gegen den materialistischen Determinismus Einspruch erhebe, der die psychologischen Erscheinungen durch Wirkungen der Materie erklärt, während er, der Herr Bernstein, auch Wirkungen der anderen Seite anerkenne. So ist denn Herr Bernstein glücklich in dem friedlichen Hafen des Dualismus gelandet, an dessen Einfahrt die Aufschrift prangt: „Der Mensch besteht aus Seele und Körper." Da haben wir erneut das dem russischen Leser wohlbekannte Karejewtum.51 Aber dieses Karejewtum verträgt sich nicht einmal so recht mit dem Kantianismus, zu dem Herr Bernstein „zurück" möchte. Kant behauptet kategorisch, dass {alle Handlungen der vernünftigen Wesen, sofern sie Erscheinungen sind (in irgendeiner Erfahrung angetroffen werden), unter der Naturnotwendigkeit stehen} ({Prolegomena"}, §53). Was aber bedeutet es, dass die Erscheinungen unter der Naturnotwendigkeit stehen? Das bedeutet nichts anderes, als dass sie materialistisch erklärt werden (vgl. {Kritik der Urteilskraft"}, § 78). Wir sehen also, dass sich Herr Bernstein nicht nur gegen die Materialisten vergeht, sondern auch gegen Kant. Und das alles nur, um ja nicht die ideologischen Interessen der Bourgeoisie zu bedrohen, d.h., um ja nicht gegen den bürgerlichen {Cant} aufzutreten. {Cant wider Kant} – das ist der Wahlspruch, für den sich Herr Bernstein hätte entscheiden sollen.

Wenn sich Herr Bernstein vom Materialismus lossagte, um eines der „ideologischen Interessen" der Bourgeoisie, das sich Religion nennt, nicht zu „bedrohen", so wurzelt sein Verzicht auf die Dialektik in dem Bestreben, dieselbe Bourgeoisie nicht durch die Schrecken „einer gewalttätigen Revolution" zu schrecken. Weiter oben haben wir gezeigt, dass er zweifellos auch selber nicht abgeneigt ist, das „abstrakte Entweder-Oder", das die Bedingungen von Ort und Zeit außer acht lässt, zu verurteilen, und dass er sich darum selbst unbewusst der dialektischen Methode bedient. Das ist ganz richtig. Jetzt muss aber ergänzt werden, dass er sich nur in den Fällen und nur in dem Maße unbewusst auf den konkreten Boden der Dialektik stellt, als die Dialektik eine geeignete Waffe im Kampf mit dem vermeintlichen Radikalismus der „Revolutionäre" ist, deren Denkformel das „ja, ja und nein, nein" ist. Das sind genau die Fälle, in denen jeder Philister zum Dialektiker wird. Doch derselbe Bernstein ist – zusammen mit allen Philistern unseres Erdballs – immer dann bereit, über die Dialektik alles mögliche dumme Zeug zu schwätzen und die abgeschmacktesten Beschuldigungen gegen sie vorzubringen, wenn er den Eindruck hat, dass sie zur Festigung und Entwicklung der revolutionären sozialistischen Bestrebungen dienen könnten. Marx sagt, dass sich die deutschen Philister für die Dialektik in jener guten alten Zeit begeisterten, wo sie diese nur in mystifizierter Form kannten und sich einbildeten, dass sie zur Rechtfertigung ihrer konservativen Bestrebungen dienen könne, dass sie sich aber sofort entschieden von ihr abwandten, als sie ihren wirklichen Charakter erkannten und begriffen, dass sie alles Bestehende von seiner vergänglichen Seite aus betrachtet, dass sie vor nichts haltmacht und sich vor nichts fürchtet, mit einem Wort, dass sie ihrem Wesen nach revolutionär ist.52 Die gleiche Einstellung zur Dialektik erleben wir bei Herrn Bernstein, der in seiner ganzen Mentalität das leibliche Kind des deutschen Philisterrums ist. Deswegen haben auch die deutschen Philister seine „Kritik" mit lautem und anhaltendem Freudengeschrei begrüßt, deswegen haben sie ihn auch den großen Männern zugeordnet. Gleich und gleich gesellt sich gern.

Um der Bourgeoisie nicht mit den „Schrecken einer gewalttätigen Revolution" zu „drohen", hat sich Herr Bernstein gegen die Dialektik aufgelehnt und ist gegen die von ihm selbst fabrizierte {„Zusammenbruchstheorie"} zu Felde gezogen. Zur gleichen Zeit und zu demselben Zweck präsentiert er sich uns als ein Pindar der Demokratie. „Die Demokratie", erfahren wir, „ist prinzipiell die Aufhebung der Klassenherrschaft, wenn sie auch noch nicht die faktische Aufhebung der Klassen ist." (S.225.)53 Wir sind uns sehr wohl über alle Vorzüge der Demokratie und über all den Nutzen im Klaren, den sie der Arbeiterklasse in ihrem Befreiungskampf bringt. Aber selbst um der Demokratie willen möchten wir nicht die Wahrheit entstellen, wie wir auch selbst wegen eines Alexander von Mazedonien keine Stühle zertrümmern werden.54 Dass die Demokratie mit der Klassenherrschaft Schluss macht, ist lediglich eine Erfindung des Herrn Bernstein. Sie lässt diese in dem Bereich bestehen, auf den sich eigentlich auch der Begriff der Klasse bezieht, nämlich im Bereich der Ökonomie. Die Demokratie beseitigt lediglich die politischen Privilegien der oberen Klassen. Und gerade weil sie die ökonomische Herrschaft der einen Klasse über die andere – der Bourgeoisie über das Proletariat – nicht antastet, kann sie auch weder den Kampf des Proletariats gegen die Bourgeoisie noch die Notwendigkeit für das Proletariat, mit all den Mitteln zu kämpfen, die sich in der betreffenden Zeit als zweckmäßig erweisen könnten, beseitigen. Vom „Standpunkt der Humanität" wird jeder normale Mensch einsehen, dass die „Schrecken einer gewalttätigen Revolution", für sich genommen, niemals wünschenswert sind. Aber jeder nicht von antirevolutionären Tendenzen geblendete Mensch muss ebenfalls zugeben, dass die demokratische Verfassung keineswegs eine solche Zuspitzung des Klassenkampfes ausschließt, die eine revolutionäre Explosion und eine revolutionäre Diktatur unvermeidlich macht. Vergeblich bemüht sich Herr Bernstein, die Revolutionäre mit der Vorstellung zu schrecken, dass die Klassendiktatur das Kennzeichen einer niederen Kultur sei. Das große gesellschaftliche Problem unserer Zeit, die Beseitigung der ökonomischen Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, <kann – ebenso wie die großen gesellschaftlichen Probleme der Vergangenheit – nur mit Gewalt gelöst werden. Zwar bedeutet Gewalt noch nicht Gewalttätigkeit: Gewalttätigkeit ist nur eine Erscheinungsform der Gewalt. Doch in welcher Form das Proletariat seine revolutionäre Gewalt anzuwenden hat, das hängt nicht von seinem guten Willen, sondern von den Umständen ab. Jene Form ist besser, die schneller und sicherer zum Sieg über den Feind führen wird. Und wenn die „gewaltsame Revolution" in dem betreffenden Lande und unter den entsprechenden Umständen die am meisten zweckmäßige Art zu handeln war, so würde der ein bedauernswerter Doktrinär, wenn nicht ein Verräter sein, der gegen sie prinzipielle Vorbehalte anbringen würde wie beispielsweise jene, die wir bei Herrn Bernstein finden: „tiefere Kultur", apolitischer Atavismus" usw. Das Handgemenge>55 ist, wenn Sie so wollen, überall, wo es vorkommt, ein zoologischer „Atavismus", erinnern doch dabei die menschlichen Zweikämpfe an kämpfende Tiere. Aber wer außer den „Tolstoianern" wird wohl jeden Widerstand gegen das Böse durch das Handgemenge grundsätzlich verdammen? Und kann denn wirklich auch nur ein einziger ernsthafter Mensch jene Argumente für voll nehmen, mit denen die Tolstoianer die Gewalt prinzipiell verurteilen? Jeder denkende Mensch sieht in diesen Argumenten eine unbeabsichtigte Karikatur auf die von Herrn Bernstein so geschätzte Formel des „ja, ja und nein, nein", die, wie wir bereits wissen, völlig mit dem Hegelschen „abstrakten Entweder-Oder" (Gewalttätigkeit ist entweder schlecht oder gut) identisch ist. Die „Schrecken einer gewalttätigen Revolution" sind immer mehr oder weniger „schrecklich". Das ist so, niemand bestreitet das. Aber Herr Bernstein hat einen sehr schlechten Weg gewählt, ihnen zu entgehen. Er hätte sich an die Bourgeoisie wenden sollen und denjenigen ihrer Angehörigen, die noch nicht im Klassenegoismus versunken sind, zeigen müssen, dass es das schwerste Vergehen gegen die Humanität und Kultur ist, die moderne sozialistische Bewegung aufhalten zu wollen. In dem Maße, wie er damit Erfolg gehabt hätte, wäre der Widerstand, den die Bourgeoisie der proletarischen Bewegung entgegensetzt, schwächer geworden, und damit hätte sich auch die Möglichkeit des „Schreckens einer gewalttätigen Revolution" verringert. Herr Bernstein hat ein anderes Verfahren vorgezogen. Er ist darangegangen, das Klassenbewusstsein der Arbeiter zu vernebeln, indem er ihnen einen Marxismus predigte, der von ihm eigens zu dem Zwecke „revidiert" wurde, die Bourgeoisie zu beruhigen. Diese Methode hat insofern einen Erfolg gezeigt, als ein bedeutender Teil der gebildeten Bourgeoisie gut verstand, bis zu welchem Grad die Verbreitung des von Herrn Bernstein „revidierten" Marxismus (anstelle der alten, revolutionären Lehre von Marx) für sie vorteilhaft ist. Dieser Teil der Bourgeoisie hat Herrn Bernstein als Messias begrüßt. Doch für den Sozialismus ist er gestorben und wird sicher niemals wieder auferstehen, wie laut er auch darüber wehklagen mag, dass ihn die Sozialisten nicht verstanden haben und dass er sich im Grunde genommen gegenüber früher nur wenig verändert habe. Vergebliche Liebesmüh'!

VI

Herr Bernstein verirrt sich auf Schritt und Tritt in dem Labyrinth seiner eigenen Begriffe und verfängt sich in seinen eigenen Widersprüchen. Nichtsdestoweniger hat seine Argumentation ein logisches Zentrum, um das seine Gedanken gruppiert sind. Dieses Zentrum ist die Lehre von den Einkommen.

Es ist also durchaus falsch anzunehmen", sagt er, „dass die gegenwärtige Entwicklung eine relative oder gar absolute Verminderung der Zahl der Besitzenden aufweist. Nicht ,mehr oder minder', sondern schlechtweg mehr, d. h. absolut und relativ wächst die Zahl der Besitzenden. Wären die Tätigkeit und die Aussichten der Sozialdemokratie davon abhängig, dass die Zahl der Besitzenden zurückgeht, dann könnte sie sich in der Tat ‚schlafen legen'. Aber das Gegenteil ist der Fall. Nicht vom Rückgang, sondern von der Zunahme des gesellschaftlichen Reichtums hängen die Aussichten des Sozialismus ab." (S.90.)56

Weder Marx noch Engels noch irgendeiner ihrer Schüler haben ihre Hoffnungen mit einem Rückgang des gesellschaftlichen Reichtums in Zusammenhang gebracht. Wenn Bernstein sich bemüht, einen solchen „Zusammenhang" zu zerreißen, dann kämpft er gegen Windmühlen. Doch alle Marxisten waren davon überzeugt, dass die Zunahme des gesellschaftlichen Reichtums in der kapitalistischen Gesellschaft einhergeht mit einer Zunahme der gesellschaftlichen Ungleichheit und einem Rückgang der Zahl der Besitzenden. Wäre es Herrn Bernstein gelungen, das Gegenteil zu beweisen, dann müssten wir zugeben, dass er dem Marxismus einen tödlichen Schlag versetzt hat. (Und alles Reden über eine soziale Revolution wäre dann nur noch leeres Geschwätz.) Aber das Fatale ist, dass Herr Bernstein rein gar nichts bewiesen hat – außer seinem eigenen Unverständnis. Die Argumente, mit denen er seine kühne Behauptung zu stützen versucht, laufen fast ausnahmslos darauf hinaus, dass die niederen Einkommen schneller wachsen als die Bevölkerung. Das ist eine nicht zu bezweifelnde Tatsache. Aber diese nicht zu bezweifelnde Tatsache beweist nichts. Wenn das gesellschaftliche Einkommen noch schneller wächst als die Anzahl der niederen Einkommen, so ist ein solches Wachstum durchaus mit dem Wachstum der gesellschaftlichen Ungleichheit zu vereinbaren. Wir haben das in unserem Artikel gegen Herrn P. Struve nachgewiesen, der speziell die „Abstumpfung" der sozialökonomischen Ungleichheit behandelt.57 Auf diesen verweisen wir den Leser und beschränken uns hier auf einige Bemerkungen zu Teilfragen.

Erstens zeugt die wachsende Zahl der niederen Einkommen, die sich sehr gut mit der Zunahme der sozialökonomischen Ungleichheit verträgt, in keinem Falle weder von einer absoluten und noch weniger von einer relativen Zunahme der Zahl der Besitzenden. Besitz und Einkommen sind zwei völlig verschiedene Begriffe.

Zweitens sind Herrn Bernsteins Hinweise auf die Verteilung des Landbesitzes ebenso ungenau, wie seine Darlegungen über die wachsende Zahl niederer Einkommen nicht überzeugen. Hier nur eines von vielen Beispielen.

In Deutschland, sagt er, hat sich die Gruppe des bäuerlichen Mittelbetriebes zwischen 1882 und 1895 um nahezu 8 Prozent vergrößert und die von ihm besetzte Bodenfläche um etwa 9 Prozent. (S. 110.)58 Aber welchen Sinn haben Angaben über die Erhöhung der absoluten Zahl der Betriebe oder der Größe der Bodenfläche einer Kategorie der Betriebe, wenn nicht die Gesamtzahl der Betriebe und die Gesamtanbaufläche im Lande mitgeteilt wird? Beachtet man diesen Umstand, betrachtet man den Anteil der bäuerlichen Mittelbetriebe an der Gesamtzahl der Betriebe und der gesamten Bodenfläche, dann erweist sich, dass die Fläche, die in Deutschland von Betrieben dieser Kategorie eingenommen wird, nur einen ganz minimalen Zuwachs erfahren hat. 1882 belief er sich auf 11,90 Prozent des gesamten Bodens, 1895 auf 12,37 Prozent. Der Zuwachs beträgt weniger als ein halbes Prozent. Doch das bezieht sich auf die gesamte Bodenfläche Deutschlands. Was die eigentliche landwirtschaftliche Nutzfläche betrifft, so ergeben sich für 1882 bei den Betrieben der genannten Kategorie 12,26 Prozent und 1895 – 13,02 Prozent, die Zunahme überschreitet 0,76 Prozent nicht.59* Das ist so wenig, dass es abwegig erscheint, überhaupt von „Zunahme" zu sprechen.

Die Verhältnisse in der deutschen Landwirtschaft sind derart kompliziert, dass man sie nicht allein auf der Grundlage nackter statistischer Zahlen beurteilen kann. Vielmehr müssen dazu die geographischen Besonderheiten jedes einzelnen Landstriches in Rechnung gestellt werden, die technischen ebenso wie die ökonomischen Besonderheiten jeder Betriebskategorie und schließlich auch die Veränderungen dieser Besonderheiten, die in der Zeitspanne der Untersuchung eingetreten sind.

Was England anbelangt, so hat Herr Bernstein zu erwähnen vergessen (oder er weiß es nicht), dass die kleinen Eigentümer, deren Zahl sich dort unter dem Einfluss der transozeanischen Konkurrenz tatsächlich erhöht, „britische Sklaven" (british sclaves) genannt werden – so schlecht ist ihre wirtschaftliche Lage.60*

Die Theorie von Marx wird durch ein Anwachsen der Zahl solcher „Sklaven" genausowenig widerlegt, wie sie durch die Ausdehnung des sweating system61 in diesem oder jenem Zweig der verarbeitenden Industrie widerlegt werden würde.

Herr Bernstein meint ferner, dass im Osten der Amerikanischen Staaten die Zahl der kleinen und mittleren Betriebe zunehme. Auch das stimmt nicht. In den Oststaaten verringert sich die Zahl der kleinen Farmen, und in Nordamerika insgesamt ist nach Levasseur eine gewisse Tendenz zur Konzentration festzustellen.62*

Auch in Belgien weisen neueste statistische Daten auf eine Konzentration des Landbesitzes hin.63* Ein relativer Rückgang der Zahl der Landbesitzer ist dabei eine exakt ermittelte Tatsache.

VII

Seine Einseitigkeiten in der Darstellung der Entwicklungsgeschichte des modernen England, die ich seinerzeit sicher scharf genug zurückgewiesen habe, haben Herrn von Schuke-Gaevernitz nicht verhindert, sowohl in seiner Schrift {,Zum sozialen Frieden'} wie in seiner Monographie {,Der Großbetrieb – ein wirtschaftlicher und sozialer Fortschritt'} Tatsachen festgestellt zu haben, die für die Erkenntnis der wirtschaftlichen Entwicklung der Gegenwart von großem Werte sind, und weit entfernt, darin einen Vorwurf zu erblicken, erkenne ich gern an, durch Schulze-Gaevernitz ebenso wie durch andere, aus der Schule Brentanos hervorgegangene Ökonomen (Herkner, Sinzheimer) auf viele Tatsachen aufmerksam gemacht worden zu sein, die ich vorher nicht oder nur ganz unzulänglich gewürdigt hatte. Ich schäme mich sogar nicht, zu gestehen, auch aus Julius Wolfs Buch {,Sozialismus und kapitalistische Gesellschaftsordnung'} einiges gelernt zu haben. Herr Plechanow nennt das eklektische Verquickung des (wissenschaftlichen Sozialismus) mit den Lehren der bürgerlichen Ökonomie'. Als ob nicht neun Zehntel der Elemente des wissenschaftlichen Sozialismus aus den Schriften ‚bürgerlicher Ökonomen' genommen wären, als ob es überhaupt eine Parteiwissenschaft gäbe." (S. 306 und 307)64

Eine „Parteiwissenschaft" ist strenggenommen nicht möglich. Durchaus möglich ist jedoch leider die Existenz von „Gelehrten", die vom Geist der Parteien und vom Klassenegoismus durchdrungen sind. Wenn Marxisten sich abfällig über die bürgerliche Wissenschaft äußern, dann denken sie dabei an diese Art von „Gelehrten". Zu ihnen gehören auch jene Herren, bei denen Herr Bernstein soviel „gelernt" hat: J. Wolf, Schulze-Gaevernitz und viele andere. Wenn auch neun Zehntel des wissenschaftlichen Sozialismus aus den Schriften bürgerlicher Ökonomen genommen sind, so hat dies doch nichts mit der Art und Weise zu tun, in der Herr Bernstein bei den Brentano-Schülern und anderen Apologeten des Kapitalismus seinen Stoff zur „Überprüfung" des Marxismus entnimmt. Marx und Engels hatten gegenüber bürgerlichen Gelehrten eine kritische Haltung, während Herr Bernstein nicht fähig oder nicht willens ist, sich ebenso zu verhalten. Als er bei ihnen „lernte", unterwarf er sich einfach ihrem Einfluss und machte sich, ohne es selbst zu merken, ihre apologetische Argumentation zu eigen. Er hat geglaubt, die Lehre vom Anwachsen der Zahl der niederen Einkommen wie auch die Lehre über den Beweis von der absoluten und relativen Zunahme der Zahl der Besitzenden sei ein ernst zu nehmendes Ergebnis der objektiven Wissenschaft, während sie sich in Wirklichkeit als eine apologetische Phantasie erweisen. Wenn Herr Bernstein wissenschaftlich denken könnte, wäre ihm das Peinliche seiner jetzigen Lage erspart geblieben, aber dann hätte er auch nicht sein Buch geschrieben.

Schon im Herbst 1898 haben wir den Gedanken geäußert, dass Herr Bernstein Marx einzig und allein deshalb zu „kritisieren" begann, weil er nicht imstande war, eine kritische Haltung gegenüber der bürgerlichen Apologetik einzunehmen.65* Damals bemerkten wir auch die interessante Tatsache, dass sogar sein aufsehenerregender Satz „Die Bewegung ist alles, das Endziel ist nichts" von Schulze-Gaevernitz entlehnt worden war. Unfähig zu einer sachlichen Entgegnung, hat uns Herr Bernstein mit einer groben Schimpfrede attackiert, die zu beantworten wir nicht für erforderlich halten.66* Heute ist uns das Ehrenhafte einer solchen Feindseligkeit seitens Herrn Bernsteins durchaus bewusst. Wir sind stolz darauf, einer der ersten gewesen zu sein, die auf das Renegatentum des Herrn Bernstein hingewiesen und es angeprangert haben. „Es kommt darauf an, wer wen zu Grabe trägt", schrieben wir in dem genannten Artikel: „Bernstein die Sozialdemokratie oder die Sozialdemokratie Bernstein." Im Jahre 1898 ist diese Fragestellung vielen unserer Genossen allzu radikal erschienen. Heute wird diese Frage von allen revolutionären Sozialdemokraten so und nicht anders gestellt. Der weitere Verlauf der Dinge hat die Richtigkeit unserer Worte vollauf bestätigt. Weder früher noch heute waren wir darauf aus, mit Herrn Bernstein eine persönliche Streiterei anzufangen. Doch können wir der Versuchung nicht widerstehen, das folgende interessante Detail anzuführen.

Herr Bernstein hat unsere gegen ihn gerichteten Bemerkungen so verstanden, als ob wir die Lage der Arbeiter in der kapitalistischen Gesellschaft für „hoffnungslos" hielten, und sich entschieden geweigert, „mit einem Manne zu streiten, dessen Wissenschaft es verlangt, bis zum großen Umsturz unter allen Umständen die Lage des Arbeiters für hoffnungslos zu erklären". (S. 309-310.)67 So streng ist er. Doch in dem Buche des gestrengen Bernstein finden wir folgende Steile:

Von der Lehre Marx' und Engels' „bleibt also nur so viel, dass die Produktionsfähigkeit in der modernen Gesellschaft sehr viel stärker ist als die tatsächliche, von der Kauffähigkeit bestimmte Nachfrage nach Produkten; dass Millionen in ungenügender Behausung leben, ungenügend gekleidet und ernährt sind, trotzdem die Mittel reichlich vorhanden sind, für sie genügende Wohngelegenheit, Nahrung und Kleidung zu beschaffen; dass aus diesem Missverhältnis immer wieder in den verschiedenen Produktionszweigen Überproduktion sich einstellt… dass infolgedessen große Unregelmäßigkeit in der Beschäftigung der Arbeiter stattfindet, die deren Lage zu einer höchst unsicheren macht, sie immer wieder in unwürdige Abhängigkeit herabdrückt, hier Überarbeit und dort Arbeitslosigkeit hervorbringt". (S. 145-146.)68

Ist die Lage der Klasse der kapitalistischen Gesellschaft etwa nicht hoffnungslos, die trotz eines erstaunlichen Anstiegs der Arbeitsproduktivität in einer derartigen wirtschaftlichen Lage und in einer so erniedrigenden Abhängigkeit verbleibt, wie sie Herr Bernstein geschildert hat? Es ist klar, sie ist hoffnungslos, und das Proletariat kann aus dieser hoffnungslosen Situation nur herausgeführt werden durch die Beseitigung der kapitalistischen Produktionsweise, durch die soziale Revolution.69* Herr Bernstein findet sich in seiner neuen Weltanschauung nur schwer zurecht.

Herr Bernstein fragt tiefsinnig, „ob nicht die gewaltige räumliche Ausdehnung des Weltmarkts im Verein mit der außerordentlichen Verkürzung der für Nachrichten und Transportverkehr erforderten Zeit die Möglichkeiten des Ausgleichs von Störungen so vermehrt, der enorm gestiegene Reichtum der europäischen Industriestaaten im Verein mit der Elastizität des modernen Kreditwesens und dem Aufkommen der industriellen Kartelle die Rückwirkungskraft örtlicher oder partikularer Störungen auf die allgemeine Geschäftslage so verringert hat, dass wenigstens für eine längere Zeit allgemeine Geschäftskrisen (das heißt Industriekrisen – G. P.) nach Art der früheren überhaupt als unwahrscheinlich zu betrachten sind". (S. 126.)70

Das Leben hat auf diese Frage bereits eine Antwort gegeben: Seit der Mitte des vergangenen Jahres71* erlebt die Welt eine allgemeine Industriekrise, deren Herannahen einige bürgerliche Wirtschaftspraktiker schon zu jener Zeit vorausgesehen haben, als Herr Bernstein noch an seinem Buch schrieb.

VIII

Bei Shakespeare sagt ein Höfling über die dem Wahnsinn verfallene Ophelia:

Ein Strohhalm ärgert sie; sie spricht verworren

Mit halbem Sinn nur: ihre Red' ist nichts,

Doch leitet ihre ungestalte Art

Die Hörenden auf Schlüsse …"72

Das gleiche lässt sich auch von dem Buche des Herrn Bernstein sagen: Alles ist dort verworren, und außer leeren Worten ist nichts enthalten. Aber diese leeren Worte bringen den aufmerksamen Leser auf traurige Gedanken. In allen theoretischen Fragen hat sich Herr Bernstein schwächer als schwach erwiesen. Wie konnte er nur über viele Jahre hinweg die Rolle eines der hervorragenden Theoretiker seiner Partei spielen? Darüber lohnt es sich nachzudenken. Und es dürfte nicht leicht fallen, eine tröstliche Antwort zu finden…

Eine andere, nicht weniger wichtige Frage ist folgende: In den Ansichten des Herrn Bernstein verbleiben jetzt nur noch kümmerliche Spuren vom Sozialismus. In Wirklichkeit steht er den kleinbürgerlichen Anhängern einer „sozialen Reform" weit näher als der revolutionären Sozialdemokratie. Dennoch bleibt er „Genosse" und wird nicht aufgefordert, die Partei zu verlassen. Das erklärt sich zum Teil durch die unter den Sozialdemokraten aller Länder jetzt weit verbreitete falsche Ansicht über die Meinungsfreiheit. Man sagt: „Wie kann man einen Menschen wegen seiner Ansichten aus der Partei ausschließen? Das hieße ja, ihn wie einen Ketzer zu verfolgen." Wer so spricht, vergisst, dass die Freiheit der Meinung durch die Freiheit der gegenseitigen Annäherung und Trennung ergänzt werden muss. Letztere Freiheit ist dort nicht vorhanden, wo das eine oder andere Vorurteil Menschen zum Zusammengehen zwingt, die sich besser voneinander trennen sollten, weil ihre Ansichten verschieden sind. Aber dieser falsche Standpunkt erklärt nur zum Teil die Tatsache<, dass Herr Bernstein aus der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands nicht ausgeschlossen wurde. Die Hauptursache besteht vielmehr darin, dass seine neuen Anschauungen von einer ganz beträchtlichen Zahl Sozialdemokraten geteilt werden. Aus Gründen, über die wir uns an dieser Steile nicht näher auslassen können, hat der Opportunismus in den Reihen der Sozialdemokratie verschiedener Länder viele Anhänger gewonnen. Und in dieser Ausbreitung des Opportunismus liegt die größte aller Gefahren, die ihr gegenwärtig drohen. Die Sozialdemokraten, die dem revolutionären Geist ihres Programms treu geblieben sind, und sie bilden zum Glück fast überall noch die Mehrheit, machen einen nicht wieder gutzumachenden Fehler, wenn sie nicht rechtzeitig entschiedene Maßnahmen zur Bekämpfung dieser Gefahr ergreifen>. Herr Bernstein ist, für sich genommen, nicht nur harmlos, sondern geradezu komisch, lächerlich, weil er eine verblüffende Ähnlichkeit mit einem philosophierenden Sancho Pansa hat. Aber die „Bernsteiniade" ist sehr gefährlich als Zeichen eines möglichen Niedergangs.

<Übrigens schreibt Herr Bernstein: „Um jedoch, die Kampfesweise des Herrn Plechanow in ihr rechtes Licht zu steilen, muss ich doch noch erwähnen, dass auch ein großer, wenn nicht der größte Teil der in Russland wirkenden russischen Sozialdemokraten … sich entschieden für einen dem meinen sehr verwandten Standpunkt erklärt haben und dass von dieser Seite verschiedene meiner ‚inhaltsleeren' Artikel ins Russische übersetzt und in Sonderabzügen verbreitet wurden."73* Es folgt die hämische Bemerkung, dass uns eine solche Erscheinung kaum freuen werde. Lassen wir unsere persönlichen Gefühle beiseite und fragen wir auch nicht danach, inwieweit wohl unsere polemische Kampfesweise durch die Tatsache charakterisiert werde, dass sich russische Sozialdemokraten dem Herrn Bernstein genähert haben. Wir bemerken, dass Herr Bernstein, soweit diese Tatsache stimmt, offensichtlich die sogenannte „ökonomische" Richtung der russischen Sozialdemokratie meint. Wie jeder weiß, ist diese Richtung, die in Russland einen vorübergehenden Erfolg hatte, inzwischen von unseren Gesinnungsfreunden überwunden worden, die in Herrn Bernstein nicht mehr als einen Renegaten sehen. Was jedoch wahrscheinlich auch bis heute noch nicht jeder weiß, ist, dass sich eine russische sozialdemokratische Auslandszeitung gefunden hat, die die Existenz der „ökonomischen" Richtung nicht bemerkt hat und sie darum negiert. Scharf war der Bück der Redaktion dieser Zeitung.>74

Die lumpige russische Übersetzung des lumpigen Büchleins von Herrn Bernstein hat nun schon zwei „legale" Auflagen erlebt. Sicher wird bald eine dritte folgen. Wundern darf uns das nicht. Jede „Kritik" und jede Parodie des Marxismus, wenn sie nur von bürgerlichem Geist durchdrungen ist, muss unbedingt jenem Teil unserer legalen Marxisten gefallen, der selbst eine bürgerliche Parodie auf den Marxismus ist.

August 1901.

1 „Kant wider Cant" lautet der Epigraph zum Schlusskapitel von Eduard Bernsteins „Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie". Dazu erläutert er: „Cant – das Wort ist englisch und soll im 16. Jahrhundert aufgekommen sein als Bezeichnung für den frömmelnden Singsang der Puritaner. In seiner allgemeineren Bedeutung bezeichnet es die unwahre, entweder gedankenlos nachgeplapperte oder mit dem Bewusstsein ihrer Unwahrheit für irgendwelchen Zweck ausgenutzte Redensart…" (Eduard Bernstein: Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie, Stuttgart 1899, S. 169.) Eduard Bernstein will hiermit den Kantianismus dem angeblich dogmatischen und heuchlerischen Marxismus gegenüberstellen. Georgi Plechanow hat den Ausspruch. umgedreht. „Cant wider Kant" bedeutet soviel wie: Heuchelei wider Kant.

2 Nikolai Nekrassow: Im Dorf. In: Gedichte und Poeme, Bd. 1, Berlin/Weimar 1965, S.43.

3 Gottfried August Bürger: Lenore. In: Bürgers Werke in einem Band, Weimar 1962, S.66.

4 Eduard Bernstein: Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie, S. 4.

5 Siehe ebenda, S. 22. In einem Brief an Karl Kautsky vom März 1896 bemerkt Georgi Plechanow: „… allein die Tatsache, dass Lange von Marx in der ,Arbeiterfrage' und nicht in der .Geschichte des Materialismus' spricht, zeigt, dass er die materialistische Geschichtsauffassung überhaupt nicht verstanden hat." (Группа „Освобждение труда“. Из архивов Г. В. Плеханова, В. И. Засулича и Л. Г. Дейча, сб. V, Москва/Ленинград 1928, стр. 216.)

6 Zit. in Eduard Bernstein: Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie, S. 22.

7 Eduard Bernstein: Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie, S. 21.

8 MEW, Bd. 4, S. 493.

9 Eduard Bernstein versuchte zu beweisen, dass Friedrich Engels gegen Ende seines Lebens „nach rechts abgeglitten" sei, dass zwischen seinen Ansichten Ende der achtziger und Anfang der neunziger Jahre, als er gegen die sogenannte „linke" Opposition der „Jungen" auftrat, ein Widerspruch bestehe. Als Friedrich Engels im Jahre 1885 die Marxschen „Enthüllungen über den Kommunisten-Prozess zu Köln" neu herausgab, eröffnete er diese Schrift mit zwei Ansprachen der Zentralbehörde an den Bund der Kommunisten vom März und Juni 1850, die von revolutionärem Kampfgeist durchdrungen sind. (Siehe: MEW, Bd. 7, S. 244ff. und S.306ff.) In der Einführung hierzu schreibt Friedrich Engels: „Heute braucht das deutsche Proletariat keine offizielle Organisation mehr …, um ohne alle Statuten, Behörden, Beschlüsse und sonstige greifbare Formen das gesamte Deutsche Reich zu erschüttern." (MEW, Bd. 21, S.223.) Im Vorwort zur zweiten Auflage seines Buches „Zur Wohnungsfrage", datiert vom 10. Januar 1887, wendet sich Friedrich Engels gegen den kleinbürgerlichen Sozialismus, der die sozialistische Umwälzung „nur in entfernter, praktisch unabsehbarer Zeit für möglich erklärt" und für die Gegenwart auf „bloßes soziales Flickwerk" angewiesen ist. (MEW, Bd. 21, S.328.)

10 Eduard Bernstein: Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie, S. 25.

11 Ebenda.

12 Worte des Mephistopheles in Goethes „Faust". In: Goethe. Berliner Ausgabe, Bd. 8, Berlin 1965, S. 210.

13 Bücher haben ihre Schicksale.

14 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: System der Philosophie. Erster Teil. Die Logik. In: Sämtliche Werke. Jubiläumsausgabe, Bd. 8, Stuttgart 1955, S. 189.

15 Nikolai Tschernyschewski: Skizzen über die Gogolsche Periode der russischen Literatur. In: Ausgewählte philosophische Schriften, Moskau 1953, S. 602.

16 Ebenda.

17 Ebenda, S. 601 f.

18 Gemeint ist die Gestalt des Jourdain aus der Komödie „Der Bürger als Edelmann" von Molière.

19 Nikolai Tschernyschewski: Skizzen über die Gogolsche Periode der russischen Literatur. In: Ausgewählte philosophische Schriften, S.601.

20 См. Л. Тихомиров: Почему я перестал быть революционером?, Paris 1888, стр. 25.

21 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: System der Philosophie. Erster Teil. Die Logik. In: Sämtliche Werke. Jubiläumsausgabe, Bd. 8, S. 185, 186.

22* {G W. F. Hegels Werke, Bd. IV, S. 150-151.} [Ebenda, S. 188/189.]

23 Georgi Plechanow meint Eduard Bernsteins Artikel „Dialektik und Entwicklung" (Die Neue Zeit, XVII. Jahrgang, 1898/1899, Bd. 2, Nr. 37 und 38). Er war eine Antwort auf Karl Kautskys Artikel „Bernstein und die Dialektik" (Die Neue Zeit, XVII. Jahrgang, 1898/1899, Bd. 2, Nr. 28).

24 Siehe: MEW, Bd. 21, S. 293.

25* {„Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie". Erster Teil, Hegels Werke, Bd. III, S.34-35.}

26 In einer der ursprünglichen Varianten des vorliegenden Beitrages ist Georgi Plechanow auf die Anschuldigungen einer angeblichen Überschätzung des historischen Entwicklungstempos eingegangen, die von Eduard Bernstein und Karl Kautsky gegen Karl Marx und Friedrich Engels erhoben worden waren. Er trat ihnen mit dem Hinweis entgegen, im „Manifest" sei keine Rede davon, „dass die bürgerliche Revolution in Deutschland unbedingt das Vorspiel der proletarischen Revolution sein wird", sondern dass „sie es sein kann…. Die Verfasser des ,Manifests' haben nichts prophezeit; sie haben lediglich eine der verschiedenen Möglichkeiten aufgezeigt". (Литературное наследие Г. В. Плеханова, сб. V, Москва 1938, стр. 85.)

27 MEW, Bd. 4, S. 145.

28 Eduard Bernstein: Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie, S. 44.

29 Es handelt sich um den Artikel „Bernstein und der Materialismus".

30 Eduard Bernstein: Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie, S. 44.

31 Ebenda.

32 Gemeint ist wiederum der Artikel „Bernstein und der Materialismus", der Georgi Plechanows Antwort auf den im Zitat erwähnten Artikel Eduard Bernsteins „Das realistische und das ideologische Moment im Sozialismus" (Die Neue Zeit, XVI. Jahrgang, 1897/1898, Bd. 2, Nr. 34) ist.

33 Eduard Bernstein: Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie, S. 44.

34 Georgi Plechanow denkt dabei an den Aufsatz „Der ökonomische und der naturphilosophische Materialismus" von Jakob Stern. (Die Neue Zeit, XV. Jahrgang, 1896/ 1897, Bd. 2, Nr. 36.)

35 In allen Veröffentlichungen: Fichte statt Vogt.

36 Eduard Bernstein: Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie, S. 44/45.

37 Nicht viel, aber vieles.

38* Vgl. {Die Ethik von Spinoza", neu übersetzt von J. Stern, II. Th., S. 77 und 80.}

39* In seinem Buch sagt er übrigens, dass er jetzt gern das „Zurück auf Kant" in ein „Zurück auf Lange" übersetzen würde, was jedoch an der Sache nichts ändert. [Siehe Eduard Bernstein: Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie, S. 187/188.]

40 Ebenda, S. 138/139.

41 Schon die Alten wussten, dass darin eines der großen kulturellen Verdienste des Materialismus liegt. Lukrez hat diesem Bewusstsein in seiner Lobpreisung Epikurs beredten Ausdruck verliehen. „Als das Leben der Menschen, hässlich anzusehen, auf der Erde lag, von der wuchtigen Last der Religion niedergedrückt, die aus den Reichen des Himmels ihr Haupt vorstreckte und grässlich anzusehen drohend über den Menschen stand, da wagte ein Mann aus Griechenland zuerst, sein sterbliches Auge dagegen zu erheben und sich dagegen zu stellen. Ihn hielten nicht die Fabeln über die Götter zurück, nicht Blitze, nicht der Himmel mit seinem drohenden Donner, umso mehr nur spornten sie den Mut seines feurigen Geistes an", usw. [Lukrez: Über die Natur der Dinge, Berlin 1972, S. 39.]

42 Eduard Bernstein: Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie, S. 127. Ausfälle gegen die Diktatur des Proletariats erlaubt sich Eduard Bernstein auch im Schlusskapitel seines Buches.

43 Karl Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. In: MEW, Bd. 1, S. 378/ 379. Diese Stelle lautet vollständig: „Sie ist das Opium des Volks. Die Aufhebung der Religion oder des illusorischen Glücks des Volkes ist die Forderung seines wirklichen Glücks. Die Forderung, die Illusionen über seinen Zustand aufzugeben, ist die Forderung, einen Zustand aufzugeben, der der Illusion bedarf. Die Kritik der Religion ist also im Kern die Kritik des Jammertales, dessen Heiligenschein die Religion ist."

44* Op. cit, S. 222.

45* Op. cit., S. 222-223.

46 Eduard Bernstein: Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie, S. 187.

47 Siehe Karl Kautsky: Bernstein und das sozialdemokratische Programm, Stuttgart 1899.

48 Первые фазы учения о классовой борьбе. (Предисловие ко второму изданию „Манифеста Коммунистической партии“.) В: Г. В. Плеханов: Избранные философские произведения т. II Москва 1956.

49 Eine beiläufige Bemerkung. Herr Bernstein stößt sich an unserem Ausdruck „monistische Geschichtsauffassung". Für ihn hat das Wort {monistisch} die gleiche Bedeutung wie {simplistisch} Um eine lange Erklärung darüber zu ersparen, warum es gerade eine monistische Geschichtsauffassung sein muss, lasse ich hier einmal Newton zu Worte kommen: Causas rerum naturalium non plures admitti debere, quam quae et verae sint et earum Phenomenis explicandis sufficiant. [Man darf für die Naturerscheinungen nicht mehr Ursachen zulassen als die, welche für ihre Explikation untrüglich und ausreichend sind.] Herr Bernstein begreift nicht, dass, wenn die Entwicklung der gesellschaftlichen und in letzter Instanz der ökonomischen Verhältnisse nicht den Urgrund der Entwicklung des sogenannten geistigen Faktors bildet, der letztere sich aus sich selbst heraus entwickelt und dass diese Selbstentwicklung des geistigen Faktors nicht mehr ist als eine der Abarten jener „Selbstentwicklung der Begriffe", vor der unser „Kritiker" seine Leser warnt, weil er darin eine der gefährlichen Lockspeisen der Hegelschen Dialektik sieht.

50 Eduard Bernstein: Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie, S. 13/14.

51 Georgi Plechanow spielt auf Nikolai Karejews Artikel „Der ökonomische Materialismus in der Geschichte" an, in dem von verschiedenen Bedürfnissen „der Seele und des, Körpers" gesprochen wird. (Вестник Европы, 1894, No. 7, стр.7.)

52 Siehe Karl Marx: Das Kapital. Erster Band. In: MEW, Bd. 23, S. 28.

53 Eduard Bernstein: Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie, S. 126.

54 Geflügeltes Wort nach Nikolai Gogols „Tote Seelen".

55 Dieser Text entspricht der „Sarja". Er unterscheidet sich wesentlich von dem zensurierten Text des Sammelbandes „Eine Kritik unserer Kritiker".

56 Eduard Bernstein: Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie, S. 50/51.

57 Georgi Plechanow meint seinen zweiten Artikel gegen Peter Struve, in dem er gegen dessen vulgärökonomische Auffassungen von einer Abschwächung der Widersprüche zwischen den Interessen des Proletariats und den Interessen der Bourgeoisie in der kapitalistischen Gesellschaft polemisiert. (Siehe vorliegende Ausgabe, S. 150ff.).

58 Eduard Bernstein: Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie, S.61.

59 Siehe {Die Landwirtschaft im Deutschen Reich. Nach der landwirtschaftlichen Betriebszählung vom 14. Juni 1895 (Statistik des Deutschen Reiches, Neue Folge,"} Bd. 112, S. 11).

60 Siehe Final Report of H. M. Commissioners appointed to inquire mto the subject of agricultural depression, London 1879, p. 36.

61 Schwitzsystem. Arbeitsverhältnis in der Hausindustrie. Die Arbeit wird zu einem festen Preis an einen Zwischenmeister vergeben, der sie gegen möglichst niedrige Löhne ausführen lässt.

62* L'agriculture aux Etats-Unis, Paris et Nancy 1894, p. 61-62. Die letzte nordamerikanische Volkszählung hat gezeigt, dass sich dort auch in der Landwirtschaft eine Konzentration abzeichnet.

63* Siehe das Buch von Vandervelde „La Propriete f onciere en Belgique" und unsere Bemerkungen dazu im ersten Heft der „Sarja".

64 Eduard Bernstein: Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie, S. 173.

65* In dem Artikel {Wofür sollen wir ihm dankbar sein", Sächsische Arbeiter-Zeitung, Nr.253-255} Übrigens können wir auch bis heute nicht verstehen, wofür eigentlich Kautsky auf dem Stuttgarter Parteitag Bernstein seine Dankbarkeit bekundet hat. Kautskys Buch {Bernstein und das sozialdemokratische Programm"} bestätigt vollauf unsere Überzeugung, dass es keinen Grund gab, ihm für irgendetwas zu danken.

66* Das Geschimpfe paart sich bei unseren Kontrahenten mit unlauteren Methoden der Auseinandersetzung. So möchte zum Beispiel Herr Bernstein beweisen, dass an eine Aufhebung der Klassen jetzt noch nicht zu denken sei. Zu diesem Zwecke zitiert er Engels, der gesagt haben soll, dass die Abschaffung der Klassen „erst auf einem gewissen, für unsere Zeitverhältnisse sogar sehr hohen Entwicklungsgrad der gesellschaftlichen Produktivkräfte" möglich wird. (S. 235-236 [Ebenda, S. 184].) Das klingt so, als ob nach Engels die von uns erreichte Entwicklungsstufe der Produktivkräfte noch nicht ausreicht, um den Kapitalismus zu beseitigen. Tatsächlich jedoch hat Engels das genaue Gegenteil festgestellt: {Sie (die Abschaffung der Klassen) hat also zur Voraussetzung einen Höhegrad der Entwicklung der Produktion, auf dem Aneignung der Produktionsmittel und Produkte … durch eine besondre Gesellschaftsklasse nicht nur überflüssig, sondern auch ökonomisch, politisch und intellektuell ein Hindernis der Entwicklung geworden ist. Dieser Punkt ist [jetzt] erreicht…}" (Hervorgehoben von uns.) {Dührings Umwälzung der Wissenschaft"; dritte Auflage, S. 304, XXV}. [MEW, Bd. 20, S. 63.] Gar zu weit geht Herr Bernstein in seinem Eifer, der Bourgeoisie die Schrecken zu ersparen.

67 Eduard Bernstein: Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie, S. 175.

68 Ebenda, S. 81.

69* Marx hätte die Lage des Arbeiters in der kapitalistischen Gesellschaft sogar dann als „hoffnungslos" angesehen, wenn die Möglichkeit bestünde, sie merklich zu bessern. „So wenig aber bessere Kleidung, Nahrung, Behandlung und ein größeres Peculium das Abhängigkeitsverhältnis und die Exploitation des Sklaven aufheben, so wenig die des Lohnarbeiters." („Капитал“, I, С.-Петербург, стр. 534.) [MEW, Bd. 23, S. 646.] Herr Bernstein versteht selbst, dass die Lage eines Sklaven so lange „hoffnungslos" im Marxschen Sinne bleibt, bis die Sklaverei abgeschafft ist. Nebenbei bemerkt, stammt das Wort „hoffnungslos" nicht von uns, sondern ist uns lediglich von Herrn Bernstein zugeschrieben worden. Unsere Ansichten zur Lage des Arbeiters in der kapitalistischen Gesellschaft haben wir im zweiten Artikel gegen Herrn P. Struve dargelegt und begründet. [Siehe vorliegenden Band, S. 150ff.]

70 Eduard Bernstein: Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie, S. 70.

71 Geschrieben 1901.

72 William Shakespeare: Hamlet, Prinz von Dänemark. In: Sämtliche Werke, Bd. 3, Berlin 1956, S.301.

73 Diese Stelle hat Frau L. Kandel in der Übersetzung ausgelassen. Sie befindet sich in der Anmerkung auf S. 112 der in London erschienenen russischen Übersetzung von Herrn Bernsteins Buch. [Stuttgart 1899, S. 170.]

74 Gemeint ist das „Rabotscheje Delo", Organ des „Auslandsbundes russischer Sozialdemokraten", das von 1899 bis 1902 in Genf erschien.

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