Ergänzende Bemerkungen zum Programmentwurf der Kommission

Ergänzende Bemerkungen zum Programmentwurf der Kommission

Zur Ergänzung der Bemerkungen auf dem Entwurf selber will ich noch auf folgendes hinweisen:

§ 3. „Die (bürgerliche) Gesellschaft ist gekennzeichnet durch die Herrschaft der Warenproduktion in kapitalistischen Produktionsverhältnissen, d. h." …, und weiter werden die Hauptmerkmale des Kapitalismus beschrieben. Es entsteht ein Mangel an Folgerichtigkeit: durch „d. h." sind ungleichartige, ungleiche Begriffe miteinander verbunden, und zwar 1. die durch die kapitalistischen Produktionsverhältnisse bedingte Form der Warenproduktion und 2. der Absatz der Produkte auf dem Markt und der Verkauf der Arbeitskraft durch die Masse der Bevölkerung.

Dieser Mangel an Folgerichtigkeit, diese Gleichsetzung der grundlegenden und ganz allgemeinen Züge der Warenproduktion überhaupt und des Kapitalismus überhaupt – und der auf den kapitalistischen Produktionsverhältnissen beruhenden Form der Warenproduktion (dann werden die Waren nicht mehr einfach nach dem Wert ausgetauscht) zeigt anschaulich, wie unglücklich die Fassung G. V. Plechanows ist (die Kommission aber hat diese Fassung angenommen und sie nur umschrieben). In einem Programm, das nur die ganz allgemeinen und grundlegenden Merkmale des Kapitalismus schildert, das nicht einmal die Mehrwerttheorie darlegt, verweisen wir plötzlich auf Böhm-Bawerk, indem wir daran erinnern, dass „die Warenproduktion auf der Grundlage des Kapitalismus" nicht ganz dasselbe ist wie die einfache Warenproduktion! Wenn dem so ist, warum fügt man dann im Programm nicht auch besondere Hinweise auf Michailowski, Berdjajew usw. ein? Einerseits wird selbst der ganzen Marxschen Lehre von der Ausbeutung der Arbeit durch das Kapital nur ein einziger, ganz allgemein-sozialistischer Ausdruck gewidmet: „durch ihre Arbeit deren Einkommen schaffen" (am Ende des §3), – andererseits aber wird die besondere Verwandlung des Mehrwerts in Profit bei der „Warenproduktion auf der Grundlage der kapitalistischen Produktionsverhältnisse" festgestellt.

G. V. Plechanow hat vollkommen recht, wenn er sagt, dass die Worte: „Warenproduktion auf der Grundlage der kapitalistischen Produktionsverhältnisse" den Hauptgedanken des dritten Bandes zum Ausdruck bringen. Aber nicht mehr. Dieser Gedanke im Programm ist überflüssig, – ebenso wie dort die Beschreibung des Mechanismus der Realisierung, die den Hauptgedanken des zweiten Bandes bildet, und die Beschreibung der Verwandlung des Surplusprofits in Grundrente überflüssig ist. Im Programm genügt es, die Ausbeutung der Arbeit durch das, Kapital = die Bildung des Mehrwerts festzustellen, es ist jedoch nicht am Platze (und unmöglich in wenigen kurzen Sätzen) von allerhand Arten der Verwandlung und Modifikation der Formen dieses Mehrwerts zu sprechen.

Ich teile vollkommen die Ansicht von V. Sassulitsch, dass es bei uns möglich ist, eine viel größere Zahl von Kleinproduzenten und viel früher (als im Westen) für die Sozialdemokratie zu gewinnen, – dass wir, um das zu erreichen, alles, was in unsern Kräften steht, tun müssen, – dass man diesen „Wunsch" im Programm „gegen" die Martynow und Konsorten zum Ausdruck bringen muss.

Mit all dem bin ich vollkommen einverstanden. Die Zusätze am Ende des § 10 begrüße ich – ich betone das, um Missverständnisse zu vermeiden.

Aber man darf den Bogen nicht überspannen, wie es V. Sassulitsch tut! Man darf den Wunsch nicht mit der Wirklichkeit verwechseln, und noch dazu mit der immanent-notwendigen Wirklichkeit, der allein unsere Prinzipienerklärung gewidmet ist. Es wäre wünschenswert, alle Kleinproduzenten zu gewinnen, – natürlich. Aber wir wissen, dass das eine besondere Klasse ist, eine zwar mit dem Proletariat durch tausend Fäden und Übergangsstufen verknüpfte Klasse, aber doch eine besondere Klasse.

Es ist unbedingt erforderlich, sich zunächst von allen abzugrenzen und nur, einzig und allein und ausschließlich, das Proletariat abzusondern, – und erst nachher zu erklären, dass das Proletariat alle befreien wird, dass es alle ruft, alle auffordert.

Ich bin einverstanden mit dem „nachher", aber ich verlange erst das „zunächst"!

Bei uns in Russland haben die höllischen Qualen der „werktätigen und ausgebeuteten" Masse keine Volksbewegung hervorgerufen, solange die „Handvoll" Fabrikarbeiter nicht den Kampf, den Klassenkampf begonnen hatten. Und nur diese „Handvoll" verbürgt diesen Kampf, seine Fortsetzung, seine Ausbreitung. Gerade in Russland, wo die Kritiker (Bulgakow) die Sozialdemokraten der Bauernfeindlichkeit anklagen, wo die Sozialrevolutionäre von der Notwendigkeit schwätzen, den Begriff des Klassenkampfes durch den Begriff des „Kampfes aller Werktätigen und Ausgebeuteten" zu ersetzen („Wjestnik Russkoi Rewoluzii"1 Nr. 2"), – gerade in Russland müssen wir uns zunächst durch eine ganz scharfe Definition einzig und allein des Klassenkampfes, einzig und allein des Proletariats von diesem Gesindel abgrenzen, – und erst dann erklären, dass wir alle rufen, alles aufnehmen, alles tun, auf alles ausdehnen werden.

Die Kommission aber „dehnt aus" und vergisst abzugrenzen!! Und mich beschuldigt man der Engherzigkeit, weil ich verlange, dass man der Ausdehnung diese „Abgrenzung" vorausschicke?! Aber das ist doch eine Verdrehung, Herrschaften!!

Der uns morgen unvermeidlich bevorstehende Kampf gegen die vereinigten Kritiker + die etwas radikaleren Herren aus den „Russkije Wjedomosti" und dem „Russkoje Bogatstwo" + die Sozialrevolutionäre wird von uns unbedingt erfordern, dass wir eine Grenze ziehen zwischen dem Klassenkampf des Proletariats und dem „Kampf" (ist es ein Kampf?) „der werktätigen und ausgebeuteten Masse". Das Gerede über diese Masse ist der Haupttrumpf in den Händen aller unsicheren Kantonisten2, die Kommission aber arbeitet ihnen in die Hände und nimmt uns die Waffe zum Kampf gegen die Halbheiten, um die eine Hälfte zu unterstreichen! Vergeßt doch aber auch die andere Hälfte nicht!

Geschrieben im April 1902

1 Lenin zitiert hier die im bibliographischen Teil des „Wjestnik Russkoi Rewoluzii" erschienene Notiz „Pro domo suo". Diese Notiz war eine Antwort auf eine bibliographische Notiz L. Marlows über Nr. 1 des „Wjestnik in Nr. 2/3 der „Sarja".

2 „Unsicheren Kantonisten" bei Lenin deutsch. Die Red.

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