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Wladimir I. Lenin 19031104 Die Stellung des „Bund" in der Partei

Wladimir I. Lenin: Die Stellung des „Bund" in der Partei

[Iskra" Nr. 51. 22. Oktober 1903. Nach Sämtliche Werke, Band 6, 1930, S. 96-108]

Unter diesem Titel hat der „Bund" die Übersetzung eines Aufsatzes aus Nr. 34 der „Arbeiterstimme" veröffentlicht. Dieser, den Beschlüssen der 5. Konferenz des „Bund" beigefügte Aufsatz erscheint sozusagen als deren offizieller Kommentar. Es wird hier der Versuch unternommen, systematisch alle Gründe darzulegen, die notgedrungen zu der Schlussfolgerung führen, „der ,Bund' müsse ein föderativer Teil der Partei sein". Es ist interessant, diese Gründe zu prüfen.

Der Verfasser beginnt damit, dass die brennendste Frage, die vor der russischen Sozialdemokratie, stehe, die Frage der Einigung sei. Auf welcher Grundlage kann diese Einigung erfolgen? Das Manifest vom Jahre 1898 hat den Grundsatz der Autonomie anerkannt. Der Verfasser analysiert diesen Grundsatz und findet ihn unlogisch, innerlich widerspruchsvoll. Wenn man unter den Fragen, die das jüdische Proletariat besonders betreffen, nur Fragen der Agitationsmethoden (in Anpassung an die besondere Sprache, die besondere Psychologie, die besondere Kultur der Juden) verstehe, so sei das eine technische (?) Autonomie. Eine solche Autonomie bedeute aber die Aufhebung einer jeden Selbständigkeit, denn auch jedes Parteikomitee besitze sie, wollte man aber den „Bund" den Komitees gleichsetzen, so würde das eine Verneinung der Autonomie bedeuten. Verstehe man dagegen unter Autonomie eine Autonomie in einigen Programmfragen, so sei es unsinnig, dem „Bund" jede Selbständigkeit in den übrigen Fragen des Programms zu nehmen: die Selbständigkeit des „Bund" in Programmfragen setze aber unbedingt eine Vertretung des „Bund" als solchen in den zentralen Körperschaften der Partei voraus, das aber heiße nicht Autonomie, sondern Föderation. Eine feste Grundlage für die Stellung des „Bund" in der Partei lasse sich nur in der Geschichte der jüdischen revolutionären Bewegung in Russland finden. Diese Geschichte zeige uns die Verschmelzung sämtlicher unter den jüdischen Arbeitern tätigen Organisationen zu einem Verband, dem „Bund", und die Ausdehnung seiner Tätigkeit von Litauen auf Polen und dann auf den Süden Russlands. Die Geschichte habe folglich alle Gebietsschranken beseitigt und den „Bund" zum einzigen Vertreter des jüdischen Proletariats gemacht. Hier sei der Grundsatz, der nicht etwa das Erzeugnis eines müßigen Geistes (?) sei, sondern das Ergebnis der ganzen Geschichte der jüdischen Arbeiterbewegung: der „Bund" sei der einzige Vertreter der Interessen des jüdischen Proletariats. Und selbstverständlich könne die Organisation des Proletariats eines ganzen Volkes einer Partei nur beitreten, wenn diese föderativ aufgebaut ist: das jüdische Proletariat sei nicht nur ein Teil der internationalen Familie der Proletarier, sondern auch ein Teil des jüdischen Volkes, das unter den übrigen Völkern eine besondere Stellung einnehme. Endlich komme die enge Vereinigung zwischen den einzelnen Teilen der Partei gerade in der Föderation zum Ausdruck, deren ausschlaggebendes Kennzeichen eben die unmittelbare Beteiligung eines jeden ihrer Bestandteile an den allgemeinen Parteiangelegenheiten sei; dann würden sich alle Teile der Partei gleichberechtigt fühlen. Die Autonomie dagegen setze die Rechtlosigkeit der einzelnen Teile der Partei, Gleichgültigkeit gegenüber den allgemeinen Fragen, gegenseitiges Misstrauen, Reibungen und Zusammenstöße voraus.

So ist die Beweisführung des Verfassers, die wir fast ausschließlich mit seinen eigenen Worten wiedergeben. Sie lässt sich auf drei Punkte zurückführen: auf Erwägungen allgemeiner Natur über die inneren Widersprüche der Autonomie und ihre Untauglichkeit vom Standpunkte einer engen Verschmelzung der Teile der Partei; auf die Lehren der Geschichte, die dem „Bund" die Rolle des einzigen Vertreters des jüdischen Proletariats zugewiesen habe, und schließlich auf den Hinweis, das jüdische Proletariat sei das Proletariat eines vollgültigen Volkes, das eine besondere Stellung einnehme. Der Verfasser will sich also sowohl auf allgemeine organisatorische Grundsätze als auch auf die Lehren der Geschichte und die Idee der Nationalität stützen. Man muss dem Verfasser Gerechtigkeit widerfahren lassen – er bemüht sich, die Frage von allen Seiten zu untersuchen. Und gerade darum spiegelt seine Darlegung so deutlich die Stellung wider, die der „Bund" in dieser uns alle bewegenden Frage einnimmt.

In einer Föderation, sagt man uns, seien alle Teile der Partei gleichberechtigt und nehmen an den gemeinsamen Angelegenheiten unmittelbar teil; in einer Autonomie seien sie rechtlos und nehmen als solche am Gesamtleben der Partei nicht teil. Diese Beweisführung gehört ganz und gar in das Gebiet der augenfälligen Widersinnigkeiten. Sie gleicht, wie ein Tropfen Wasser dem andern, jenen Betrachtungen, die die Mathematiker mathematische Sophismen nennen und in denen – auf den ersten Blick streng logisch – nachgewiesen wird, dass zweimal zwei fünf, dass ein Teil mehr als das Ganze sei und dergleichen mehr. Es gibt ganze Sammlungen solcher mathematischen Sophismen, die für Schulkinder von Nutzen sind. Peinlich aber ist es, wenn man Leute, die die einzigen Vertreter des jüdischen Proletariats zu sein wähnen, über einen so elementaren Sophismus aufklären muss wie die verschiedene Auslegung des Begriffs „Teile der Partei" in den beiden Hälften ein und derselben Betrachtung. Wenn sie nämlich von der Föderation sprechen, so verstehen sie unter den Teilen der Partei die Summe der verschiedenen örtlichen Organisationen; wenn sie von der Autonomie sprechen, verstehen sie darunter jede einzelne örtliche Organisation. Stellt man diese beiden angeblich identischen Begriffe nebeneinander in eine Schlussfolge, dann gelangt man notgedrungen zu dem Ergebnis, dass zweimal zwei fünf sei. Und wenn den Bundisten das Wesen ihres Sophismus immer noch nicht klar ist, dann mögen sie sich ihr eigenes Maximalstatut ansehen; dort werden sie finden, dass gerade in der Föderation die örtlichen Organisationen mit der Parteileitung nur mittelbar in Verbindung stehen, während bei der Autonomie die Verbindung unmittelbar ist. Nein, es wäre schon besser, wenn unsere Föderalisten nicht von der „engen Vereinigung" sprechen wollten! Man macht sich nur lächerlich, wenn man den Satz zu widerlegen sucht, dass die Föderation Absonderung bedeutet, die Autonomie dagegen die Verschmelzung der Teile der Partei.

Nicht viel glücklicher ist der Versuch, den „logischen Widerspruch" der Autonomie nachweisen zu wollen, indem man sie in eine programmatische und eine technische teilt. Schon diese Unterscheidung selbst ist in höchstem Maße unsinnig. Wie kann man die besonderen Methoden der Agitation unter den jüdischen Arbeitern als eine technische Frage bezeichnen? Was hat das mit Technik zu tun, wo es sich doch um die Besonderheiten der Sprache, der Psychologie und der Lebensbedingungen handelt? Wie kann man von Selbständigkeit in Fragen des Programms sprechen, zum Beispiel hinsichtlich der Forderung nach der bürgerlichen Gleichberechtigung der Juden? Das Programm der Sozialdemokratie stellt nur die Grundforderungen auf, die für das gesamte Proletariat gelten, unabhängig von ihren beruflichen, örtlichen, nationalen und Rassenunterschieden. Diese Unterschiede bedingen, dass ein und dieselbe Forderung nach voller Gleichberechtigung der Bürger vor dem Gesetz an einem Ort die Agitation gegen eine bestimmte Art der Ungleichheit hervorruft, an einem andern Ort oder hinsichtlich anderer Gruppen des Proletariats – gegen eine andere Art der Ungleichheit usw. Ein und derselbe Punkt des Programms wird verschieden angewandt – je nach den verschiedenen Lebensbedingungen, der verschiedenen Kultur, dem verschiedenen Wechselverhältnis der gesellschaftlichen Kräfte in den verschiedenen Teilen des Landes usw. Die Agitation für ein und dieselbe Programmforderung wird je nach diesen Unterschieden mit verschiedenen Methoden und in verschiedenen Sprachen durchgeführt. Die Autonomie in den Fragen, die das Proletariat einer bestimmten Rasse, einer bestimmten Nationalität, eines bestimmten Gebietes besonders betreffen, bedeutet also, dass die Festlegung der besonderen Forderungen, die zur Durchführung des Gesamtprogramms aufgestellt werden, und die Bestimmung der Agitationsmethoden dem selbständigen Ermessen der entsprechenden Organisation anheimgestellt werden. Die Partei als Ganzes und ihre zentralen Körperschaften legen nur die allgemeinen Hauptgrundsätze des Programms und der Taktik fest; die verschiedenen Methoden ihrer Durchführung in der praktischen Arbeit und in der Agitation werden von den einzelnen der Parteileitung untergeordneten Parteiorganisationen bestimmt, entsprechend den örtlichen, nationalen, kulturellen Unterschieden, den Rassenunterschieden usw.

Es fragt sich, ob diese Auffassung der Autonomie wirklich unklar ist? und ob nicht die Einteilung der Autonomie in Programmfragen und in technische Fragen die reinste Scholastik ist?

Man beachte nur, wie der Begriff der Autonomie in der uns vorliegenden Broschüre „logisch analysiert" wird.

Aus der Gesamtmasse der Fragen, mit denen die Sozialdemokratie sich zu befassen gezwungen ist – heißt es in dieser Broschüre über den Grundsatz der Autonomie, der dem Manifest von 1898 zugrunde liegt – werden einige Fragen abgesondert (sic!), von denen anerkannt wird, dass sie das jüdische Proletariat besonders angehen … Die Autonomie des ,Bund' hört dort auf, wo das Gebiet der allgemeinen Fragen beginnt … Hieraus ergibt sich die Doppelstellung des ,Bund' in der Partei: in besonderen Fragen tritt er als ,Bund' auf,… in allgemeinen Fragen verliert er sein eigenes Antlitz und wird einem einfachen Parteikomitee gleichgesetzt…"

Das sozialdemokratische Programm fordert die völlige Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz. Bei der Durchführung dieses Programms stellt der jüdische Arbeiter in Wilna seine besondere Forderung auf, der Baschkire aber, der Arbeiter in Ufa stellt eine ganz andere besondere Forderung auf. Bedeutet das, dass „aus der Gesamtmasse der Fragen" „einige Fragen abgesondert" werden? Wenn die gemeinsame Forderung nach Gleichberechtigung durch die Aufstellung einer Reihe besonderer Forderungen nach Abschaffung besonderer Formen der Ungleichheit verwirklicht wird, werden dann hierbei wirklich die besonderen Fragen von den allgemeinen abgesondert? Die besonderen Forderungen werden von den allgemeinen Forderungen nicht abgesondert, sondern sie werden zur Durchführung der allgemeinen Forderungen des Programms aufgestellt. Was besonders den Juden in Wilna betrifft, wird von dem abgesondert, was besonders den Baschkiren in Ufa angeht. Die Verallgemeinerung ihrer Forderungen, die Vertretung ihrer gemeinsamen Klasseninteressen (und nicht der besonderen, beruflichen, örtlichen, nationalen Forderungen, der Rassenforderungen usw.) ist Sache der gesamten Partei, Sache der Parteileitung. Man sollte meinen, das wäre klar genug! Die Bundisten aber haben die Angelegenheit verwirrt, weil sie uns an Stelle einer logischen Untersuchung immer und immer wieder Musterbeispiele logischer Widersinnigkeiten geliefert haben. Sie haben von der Beziehung zwischen den allgemeinen Forderungen der Sozialdemokratie und den besonderen Forderungen rein gar nichts begriffen. Sie haben sich eingebildet, „aus der Gesamtmasse der Fragen, mit denen die Sozialdemokratie sich zu befassen gezwungen ist, werden einige Fragen abgesondert", während in Wirklichkeit jede Frage, die unser Programm berührt, die Verallgemeinerung einer ganzen Reihe besonderer Fragen und Forderungen ist; jeder Programmpunkt gilt für das gesamte Proletariat, zerfällt aber gleichzeitig in besondere Fragen, entsprechend den Unterschieden im Beruf der Proletarier, den Unterschieden in ihren Lebensbedingungen, ihrer Sprache usw. Die Bundisten beunruhigt das Widerspruchsvolle und Zwiespältige in der Stellung des „Bund", das darin bestehen soll, dass er in den besonderen Fragen als „Bund" auftritt, während er in den allgemeinen Fragen sein eigenes Antlitz verliert. Eine kleine Überlegung hätte ihnen gezeigt, dass diese „Zwiespältigkeit" in der Lage jedes einzelnen sozialdemokratischen Arbeiters besteht, der in den besonderen Fragen als Vertreter eines bestimmten Berufes, als Angehöriger einer bestimmten Nation, als Bewohner einer bestimmten Gegend auftritt, während er in den allgemeinen Fragen „sein eigenes Antlitz verliert" und jedem anderen Sozialdemokraten gleichgesetzt wird. Die durch das Statut vom Jahre 1898 festgelegte Autonomie des „Bund" und die Autonomie des Tulaer Komitees sind völlig gleichartige Erscheinungen; nur sind die Grenzen dieser Autonomie im ersten Falle etwas anders, und zwar etwas umfassender als im zweiten Falle. Einen geradezu schreienden logischen Widerspruch enthält aber folgende These, mit der der „Bund" diese Schlussfolgerung zu widerlegen sucht:

Wenn man dem ,Bund' in einigen Programmfragen die Selbständigkeit lässt, mit welcher Begründung nimmt man ihm dann in den übrigen Programmfragen jegliche Selbständigkeit?"

Diese Gegenüberstellung der besonderen und der allgemeinen Fragen, ihre Bezeichnung als „einige" Fragen und „die übrigen Fragen", ist ein geradezu unvergleichliches Musterbeispiel dafür, wie der „Bund" „logisch untersucht"! Diese Leute können absolut nicht begreifen, dass das so ist, als wollte man die verschiedene Farbe, den verschiedenen Geruch und den Geschmack einzelner Äpfel der Zahl der „übrigen" Äpfel entgegenstellen. Wir gestatten uns, euch zu versichern, Herrschaften, dass nicht nur einige, sondern jeder Apfel diese oder jene besondere Farbe, diesen oder jenen besonderen Geruch und Geschmack hat. Nicht nur in „einigen", sondern in sämtlichen Programmfragen ohne Ausnahme bleibt euch, Herrschaften, eure Selbständigkeit, aber eben nur insofern, als es sich um die Anwendung dieser Fragen auf die Besonderheiten des jüdischen Proletariats handelt. „Mein teuerer Freund, ich rat Euch drum, zuerst Collegium logicum!1"

Das zweite Argument der Bundisten besteht in einem Hinweis auf die Geschichte, die dem „Bund" angeblich die Rolle des einzigen Vertreters des jüdischen Proletariats zugewiesen hat.

Dieser Satz ist erstens falsch. Der Verfasser der Broschüre selber sagt, dass „die Arbeit der übrigen Organisationen (außer dem ,Bund') in dieser Richtung (d. h. die Arbeit unter dem jüdischen Proletariat) entweder gar keine oder keine nennenswerten Ergebnisse gezeitigt hat." Er gibt also selber zu, dass auch andere Organisationen auf diesem Gebiet gearbeitet haben, dass also der „Bund" nicht der einzige Vertreter des jüdischen Proletariats gewesen ist; bei der Bewertung der Ergebnisse dieser Arbeit wird sich natürlich niemand gerade auf das Urteil des „Bund" verlassen. Schließlich ist es doch nicht unbekannt, dass der „Bund" der Arbeit anderer Organisationen unter dem jüdischen Proletariat entgegengewirkt hat (es genügt, daran zu erinnern, wie der „Bund" das Parteikomitee von Jekaterinoslaw bekämpfte, weil es gewagt hatte, einen Aufruf an die jüdischen Arbeiter herauszugeben2) – und wenn also die Ergebnisse wirklich nicht nennenswert gewesen wären, so trüge der „Bund" selber einen Teil der Schuld.

Weiter. Jener Teil Wahrheit, den die historische Betrachtung des „Bund" enthält, beweist noch keineswegs die Richtigkeit seiner Beweisführung. Die wirklich vorhandenen Tatsachen, die der „Bund" im Auge hatte, sprechen nicht für, sondern gegen ihn. Diese Tatsachen bestehen darin, dass der „Bund" – im Laufe der fünf Jahre, die seit dem ersten Parteitag verflossen sind – völlig selbständig und unabhängig von den übrigen Parteiorganisationen bestanden und sich entwickelt hat. Überhaupt war in dieser Zeit die tatsächliche Verbindung zwischen allen Parteiorganisationen außerordentlich schwach, die Verbindung des „Bund" aber mit den übrigen Teilen der Partei war nicht nur noch erheblich schwächer als die Verbindung der übrigen Organisationen untereinander, sondern sie lockert sich auch noch immer mehr. Dass der „Bund" diese Verbindung selbst lockerte, ist durch die Geschichte der Auslandsorganisation unserer Partei direkt bewiesen. Im Jahre 1898 traten die Mitglieder des „Bund" im Ausland in eine gemeinsame Parteiorganisation ein; im Jahre 1903 sonderten sie sich als völlig selbständige und unabhängige Auslandsorganisation ab. Die Selbständigkeit und Unabhängigkeit des „Bund" unterliegt keinem Zweifel, ebenso wenig wie die allmähliche Erweiterung dieser Selbständigkeit und Unabhängigkeit.

Was geht aus dieser zweifellos feststehenden Tatsache hervor? Für die Bundisten – die Notwendigkeit, sich dieser Tatsache zu beugen, sich ihr sklavisch zu unterwerfen, sie zu einem Grundsatz zu machen, der der Stellung des „Bund" einen festen Boden verleiht, diesen Grundsatz in einem Statut festzulegen, das den „Bund" als den einzigen Vertreter des jüdischen Proletariats in der Partei anerkennen soll. Unseres Erachtens ist diese Schlussfolgerung der reinste Opportunismus, ein „Chwostismus" schlimmster Sorte. Aus der fünfjährigen Geschichte der Zersplitterung darf nicht der Schluss gezogen werden, diese Zersplitterung zum Gesetz zu erheben, sondern es muss die Notwendigkeit anerkannt werden, ihr ein für allemal ein Ende zu machen. Kann aber irgend jemand noch heute bestreiten, dass das wirklich eine Zersplitterung war? Selbständig und unabhängig entwickelten sich in jener Zeit alle Teile der Partei – sollte man aber etwa daraus den „Grundsatz" der Föderation zwischen Sibirien, dem Kaukasus, dem Ural, dem Süden usw. ableiten?? Die Bundisten sagen selber, dass die Partei im Sinne einer organisatorischen Vereinigung der Teile in Wirklichkeit nicht bestanden habe – wie kann man also aus dem, was sich herausgebildet hat, als die Partei nicht vorhanden war, einen Schluss über die Wiederherstellung der organisatorischen Einheit ziehen? Nein, Herrschaften, euer Hinweis auf die Geschichte der Zersplitterung, die diese Isolierung geschaffen hat, beweist nichts als die Unnatürlichkeit dieses Zustandes der Isolierung. Einen organisatorischen „Grundsatz" aus mehreren Jahren der Desorganisation der Partei ableiten, heißt ebenso handeln, wie jene Vertreter der historischen Schule, die nach der bekannten sarkastischen Bemerkung Marxens bereit waren, die Knute mit der Begründung zu verteidigen, dass es eine historische Knute sei3.

Somit liefert weder die „logische Untersuchung" der Autonomie noch die geschichtliche Betrachtung auch nur den Schatten einer „prinzipiellen" Begründung für die Absonderung des „Bund". Dafür besitzt zweifellos das dritte Argument des „Bund", der an die Idee der jüdischen Nation appelliert, grundsätzlichen Charakter. Nur ist das leider eine zionistische Idee, die in ihrem Kern vollkommen falsch und reaktionär ist. „Die Juden hörten auf, eine Nation zu sein, denn eine solche ohne ein Territorium ist undenkbar", sagt einer der hervorragendsten marxistischen Theoretiker, Karl Kautsky (siehe Nr. 42 der „Iskra" und den Sonderdruck aus ihr „Das Massaker von Kischinew und die Judenfrage"). Und erst vor kurzem hat derselbe Kautsky, als er die Nationalitätenfrage in Österreich untersuchte, um dem Begriff der Nationalität eine wissenschaftliche Definition zu geben, zwei Grundsätze dieses Begriffes festgestellt: Sprache und Territorium („Die Neue Zeit" 1903, Nr. 2)4. Wort für Wort dasselbe schreibt ein französischer Jude, der Radikale Alfred Naquet, der gegen die Antisemiten und die Zionisten polemisiert:

Wenn es Bernhard Lazare gefällt – sagt er von diesem bekannten Zionisten –, sich als Bürger eines besonderen Volkes zu betrachten, so ist das seine Sache; aber ich erkläre, dass ich, wenn ich auch als Jude geboren bin…, eine jüdische Nationalität nicht anerkenne … Für mich gibt es keine andere Nationalität als nur die französische… Sind die Juden ein besonderes Volk? Wenn sie auch in einer sehr fernen Vergangenheit zweifellos ein Volk waren, beantworte ich doch diese Frage mit einem entschiedenen Nein. Der Begriff der Nation setzt bestimmte Bedingungen voraus, die in diesem Falle nicht vorliegen. Eine Nation muss ein Territorium haben, auf dem sie sich entwickeln kann, und dann muss eine Nation, wenigstens in unserer Zeit, solange eine Welt-Konföderation diesen Boden noch nicht erweitert hat, – eine gemeinsame Sprache haben. Die Juden haben heute weder ein Territorium noch eine gemeinsame Sprache. Wahrscheinlich kennt Bernhard Lazare, ebenso wie ich, kein Wort hebräisch, und es würde ihm, sollte der Zionismus sein Ziel erreichen, nicht leicht fallen, sich mit seinen Stammesbrüdern (congenères) aus den übrigen Teilen der Welt zu verständigen".

Die deutschen und die französischen Juden sehen den polnischen und den russischen Juden nicht im geringsten ähnlich. Die charakteristischen Züge der Juden haben nichts, was den Stempel (empreinte) der Nationalität trüge. Wenn es angängig wäre, die Juden als Nation anzuerkennen, wie es Drumont tut, – so wäre das eine künstliche Nation. Der moderne Jude ist das Produkt einer widernatürlichen Zuchtwahl, der seine Vorfahren achtzehn Jahrhunderte ausgesetzt waren." („La Pétite Rèpublique", 24. Sept. 1903.)

Den Bundisten bleibt also vielleicht nur noch übrig, die Idee von der besonderen Nationalität der russischen Juden auszuarbeiten, deren Sprache der Jargon und deren Territorium das Ansiedlungsgebiet sei.

Die in wissenschaftlicher Hinsicht* in keiner Weise haltbare Idee eines besonderen jüdischen Volkes ist ihrer politischen Bedeutung nach reaktionär. Den unwiderlegbaren und praktischen Beweis hierfür liefern die allgemein bekannten Tatsachen der jüngsten Geschichte und der gegenwärtigen politischen Wirklichkeit. In ganz Europa ist der Verfall des Mittelalters und die Entwicklung der politischen Freiheit Hand in Hand mit der politischen Emanzipation der Juden gegangen, mit ihrem Übergang vom Jargon zur Sprache des Volkes, unter dem sie leben, und überhaupt mit einem unbestreitbaren Fortschreiten ihrer Assimilierung an die sie umgebende Bevölkerung. Sollen wir denn wirklich zu jenen primitiven Theorien zurückkehren und erklären, dass gerade Russland eine Ausnahme bilde, obgleich in Russland infolge des im jüdischen Proletariat erwachten heldenhaften Selbstbewusstseins gerade die Befreiungsbewegung der Juden viel tiefer und umfassender ist? Kann man denn wirklich die Tatsache, dass gerade die reaktionären Kräfte in ganz Europa und namentlich in Russland gegen die Assimilation des Judentums zu Felde ziehen und bestrebt sind, seine Absonderung zu verewigen, als zufällig erklären?

Die jüdische Frage steht gerade so: Assimilation oder Abschließung? – Und die Idee der jüdischen „Nationalität" trägt einen offen reaktionären Charakter nicht nur bei ihren konsequenten Anhängern (den Zionisten), sondern auch bei denen, die versuchen, sie mit den Ideen der Sozialdemokratie in Einklang zu bringen (den Bundisten). Die Idee der jüdischen Nationalität widerspricht den Interessen des jüdischen Proletariats, indem sie mittelbar und unmittelbar eine der Assimilierung feindliche, eine „Ghetto"-Einstellung erzeugt.

Als die Nationalversammlung von 1791 die Emanzipation der Juden proklamierte – schrieb Renan –, befasste sie sich sehr wenig mit der Rassenfrage … Die Aufgabe des 19. Jahrhunderts besteht in der Abschaffung aller „Ghettos" und ich begrüße die Bestrebungen zu ihrer Wiederholung nicht. Die jüdische Rasse hat der Welt die größten Dienste geleistet. Mit den verschiedenen Völkern assimiliert, mit den verschiedenen nationalen Einheiten harmonisch verschmolzen, wird sie auch in Zukunft die Dienste leisten, die sie in der Vergangenheit geleistet hat."

Und Karl Kautsky, der besonders die russischen Juden im Auge hatte, drückte sich noch entschiedener aus. Die Feindseligkeit gegen die fremdstämmigen Schichten der Bevölkerung kann nur dadurch beseitigt werden, „dass die den fremdartigen Charakter tragenden Bevölkerungsteile aufhören, Fremde zu sein, dass sie sich mit der Masse der Bevölkerung vermischen. Das ist schließlich die einzig mögliche Lösung der Judenfrage, und alles, was das Aufhören der jüdisсhen Absсhließung fördern kann, ist zu unterstützen".

Und eben dieser einzig möglichen Lösung der Frage widersetzt sich der „Bund", der durch die Propagierung der Idee einer jüdischen „Nation" und des Planes einer föderativen Vereinigung der jüdischen Proletarier mit den nichtjüdischen die jüdische Abschließung nicht beseitigt, sondern verstärkt und zum Gesetz erhebt. Das ist der Hauptfehler des „Bundismus", den die konsequenten Vertreter der jüdischen Sozialdemokratie korrigieren werden und korrigieren müssen. Dieser Fehler führt die Bundisten zu der in der internationalen Sozialdemokratie noch nicht dagewesenen Erscheinung, dass sie das Misstrauen der jüdischen Arbeiter gegen die nichtjüdischen, die Verdächtigung dieser nichtjüdischen Arbeiter, die Verbreitung von Unwahrheiten über sie hervorrufen. Hier ein Beweis dafür, den wir derselben Broschüre entnehmen:

Dieser Unsinn (dass die Organisation des Proletariats eines ganzen Volkes der Vertretung in den zentralen Körperschaften der Partei beraubt sein solle) kann man nur (das beachte man) in Hinsicht auf das jüdische Proletariat propagieren, das infolge des besonderen geschichtlichen Schicksals des jüdischen Volkes noch für seine gleichberechtigte Stellung (!!) in der Familie des internationalen Proletariats kämpfen muss."

Einen ähnlichen Ausfall fanden wir vor kurzem in einem zionistischen Flugblatt, dessen Verfasser gegen die „Iskra" wüten und toben, weil sie in ihrem Kampf gegen den „Bund" die Weigerung erblicken, die Juden als „gleichberechtigt" mit den Nichtjuden anzuerkennen. Und jetzt wiederholen die Bundisten diese zionistischen Ausfälle! Eine offene Unwahrheit wird hier verbreitet, denn wir „propagieren" nicht „nur" in Hinsicht auf die Juden, sondern auch in Hinsicht auf die Armenier, Georgier usw. die „Beraubung der Vertretung", und in Hinsicht auf die Polen haben wir zur Annäherung, Verschmelzung, Einigung des gesamten gegen den Zarenabsolutismus kämpfenden Proletariats aufgerufen. Nicht umsonst ist auch die PPS (Polnische Sozialistische Partei) über uns hergefallen5! Den Kampf für die zionistische Idee einer jüdischen Nation, für den föderativen Organisationsgrundsatz der Partei einen Kampf für die „gleichberechtigte Lage der Juden in der Familie des internationalen Proletariats" nennen, heißt den Kampf aus dem Gebiet der Ideen und Grundsätze auf das Gebiet der Verdächtigungen, der Verhetzung und der Schürung geschichtlich zustande gekommener Vorurteile herabsetzen. Das heißt, das Fehlen wirklich ideologischer und grundsätzlicher Waffen in seinem Kampfe offenbar machen.

Wir sind somit zu dem Schluss gelangt, dass weder die logischen noch die geschichtlichen und nationalistischen Beweisgründe des „Bund" einer Kritik standhalten. Die Zeit der Zersplitterung, die die Schwankungen im Kreise der russischen Sozialdemokraten und die Isolierung der einzelnen Organisationen verstärkte, wirkten sich in derselben Richtung und in noch viel höherem Maße auf die Bundisten aus. Anstatt nun den Kampf gegen diese geschichtlich entstandene (und durch die Zersplitterung verstärkte) Absonderung zu ihrer Losung zu machen, haben die Bundisten sie zum Grundsatz erhoben und sich zu diesem Zweck an die Sophismen über den inneren Widerspruch der Autonomie, an die zionistische Idee einer jüdischen Nation geklammert. Nur ein entschiedenes und offenes Eingeständnis dieses Fehlers und die Wendung zur Verschmelzung könnten den „Bund" von dem Irrweg abbringen, auf den er sich begeben hat. Und wir sind überzeugt, dass die besten Vertreter der sozialdemokratischen Ideen im jüdischen Proletariat den „Bund" früher oder später zwingen werden, den Weg der Absonderung aufzugeben und den Weg der Verschmelzung einzuschlagen.

1 Das Zitat bei Lenin deutsch. Die Red.

3 Die Worte von Marx sind seiner bekannten Arbeit „[Einleitung] Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie" entnommen, in der Marx die historische Rechtsschule charakterisiert als „eine Schule, welche die Niederträchtigkeit von heute durch die Niederträchtigkeit von gestern legitimiert, eine Schule, die jeden Schrei des Leibeigenen gegen die Knute für rebellisch erklärt, sobald die Knute eine bejahrte, eine angestammte, eine historische Knute ist, eine Schule, der die Geschichte, wie der Gott Israels seinem Diener Moses, nur ihr a posteriori zeigt" (aus dem literarischen Nachlass von Marx, Engels und Lassalle, herausgegeben von Franz Mehring, Bd. I, S. 386).

4 Lenin meint den Artikel Kautskys: „Die Krisis in Österreich" in „Die Neue Zeit", Bd. I, 1903/04, Nr. 2.

* Nicht nur die nationalen, sondern sogar die Rassenbesonderheiten des Judentums werden von der modernen wissenschaftlichen Forschung abgelehnt, die die Besonderheiten der Geschichte des Judentums in den Vordergrund rückt. „Entspringt diese Besonderheit des Judentums seinem Rassencharakter?", fragt Kautsky und antwortet darauf, dass wir nicht einmal genau wissen, was eigentlich Rasse ist. „Wir brauchen aber gar nicht diesen Begriff, der keine wirkliche Antwort gibt, sondern nur neue Fragen aufrollt. Es genügt, die Geschichte des Judentums zu verfolgen, um sich über ihren Charakter klar zu werden". Und ein solcher Kenner der Geschichte, wie Renan, sagt: „Die besonderen Züge der Juden und ihre Lebensordnung sind viel mehr das Ergebnis der sozialen Bedingungen (nécessités sociales), die jahrhundertelang auf sie eingewirkt haben, als eine Rassenerscheinung (phenomene de race)."

5 Lenin hat vor allem folgende Artikel im Auge, die im Jahre 1903 im führenden Organ der PPS (Polnische Sozialistische Partei) „Przedświt" („Die Morgenröte") veröffentlicht waren: „Stosunek socyalnej demokracyi rosyjskiej do kwestyi narodowosciowej" (die Stellung der russischen Sozialdemokratie zur nationalen Frage) im Mai-Heft (Nr. 5), „Der ,Bund'" im Juni-Heft (Nr. 6) und „Iskra о kwestyi polskiej" (Die „Iskra" über die polnische Frage) im September-Heft (Nr. 9).

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