Lenin‎ > ‎1903‎ > ‎

Wladimir I. Lenin 19031110 Ein nicht abgesandter Brief an M. N. Ljadow

Wladimir I. Lenin: Ein nicht abgesandter Brief an M. N. Ljadow

[Zum ersten Mal veröffentlicht im Jahre 1928 im „Leninskij Sbornik" Nr. 7. Nach Sämtliche Werke, Band 6, Wien-Berlin 1930, S. 139-144]

10. November 1903

Lieber Lidin! Ich möchte Ihnen gerne von unseren „politischen Neuigkeiten" erzählen.

Zunächst eine Chronologie der letzten Ereignisse. Mittwoch (27. Oktober oder 28. Oktober ?) – der dritte Tag des Kongresses der Liga. Martow kreischt hysterisch über das Thema, dass an uns „das Blut der alten Redaktion" (ein Ausdruck Plechanows) klebe, dass Lenin auf dem Parteitag so etwas wie Intrigen gemacht habe usw. Ich fordere ihn in aller Ruhe schriftlich (durch einen Antrag an das Büro des Kongresses) auf, mit den Beschuldigungen gegen mich offen vor der gesamten Partei aufzutreten: ich verpflichte mich, alles zu veröffentlichen. Sonst sei das einfache Skandalsucht1. Martow zieht sich natürlich „respektvoll" zurück und verlangt (auch jetzt noch) ein Parteigericht; ich fordere wieder, dass er den Mut habe, offen anzuklagen, – sonst ignoriere ich alles als erbärmlichen Klatsch.

Plechanow weigert sich infolge des unwürdigen Verhaltens Martows, zu sprechen. Etwa ein Dutzend von unseren Leuten reichen dem Büro des Kongresses eine Erklärung ein, in der sie das „unwürdige Verhalten" Martows brandmarken, der die Diskussion auf das Gebiet des Klatsches, der Verdächtigungen usw. verlegt hat. Nebenbei gesagt, hat meine zweistündige Rede auf dem Parteitag über die „historische Schwenkung des Genossen Martow" in der Richtung der Versumpfung2 keinen einzigen Protest selbst bei den Martowleuten, wegen Verschiebung der Frage auf das Gebiet des Klatsches hervorgerufen.

Freitag. Wir beschließen, elf neue Mitglieder in die Liga aufzunehmen; abends in einer Privatsitzung mit diesen „Grenadieren" (wie wir sie zum Scherz nannten) veranstaltet Plechanow eine Probe aller Schritte – wie wir die Martowleute aufs Haupt schlagen. Ein Schauspiel. Beifallssturm.

Sonnabend. Das Zentralkomitee verliest seine Erklärung über die Nichtbestätigung des Statuts der Liga und über die Ungesetzmäßigkeit der Versammlung (eine Erklärung, die vorher genau bis ins Einzelne mit Plechanow durchgesprochen worden war). Alle unsere Leute verlassen den Kongress unter dem Geheul der Martowleute: „Gendarmen" usw.

Sonnabend Abend. Plechanow „fällt um": er ist gegen die Spaltung. Er verlangt die Einleitung von Friedensverhandlungen.

Sonntag (1. November). Ich übergebe Plechanow meine schriftliche Rücktrittserklärung (weil ich keine Lust habe, an einer so unsauberen Sache beteiligt zu sein, wie es die Umstoßung des Parteitages unter dem Einfluss eines Skandals im Ausland ist; ganz abgesehen davon, dass auch vom rein strategischen Standpunkt aus der Augenblick für Zugeständnisse kaum dümmer gewählt werden konnte).

3. November. Starowjer teilt Plechanow, der Verhandlungen eingeleitet hat, schriftlich die Bedingungen für einen Frieden mit der Opposition mit: 1. Die Verhandlungen führen die Redaktion des Zentralorgans und das Zentralkomitee; 2. Wiederherstellung der alten „Iskra"-Redaktion; 3. Kooptation in das Zentralkomitee einer bei den Verhandlungen festzusetzenden Zahl von Genossen, Einstellen der Kooptation in das Zentralkomitee mit dem Beginn der Verhandlungen; 4. zwei Sitze (sic!) im Parteirat und 5. Anerkennung der Gesetzmäßigkeit des Ligakongresses.

Plechanow gerät nicht in Verlegenheit. Er verlangt, dass das Zentralkomitee nachgebe (!!!). Das Zentralkomitee lehnt das ab und schreibt nach Russland. Plechanow erklärt, dass er zurücktrete, wenn das Zentralkomitee nicht nachgebe. Ich übergebe Plechanow (am 6. November) alle Redaktionsangelegenheiten, nachdem ich mich überzeugt habe, dass Plechanow imstande ist, den Martowleuten nicht nur die Zeitung, sondern auch das ganze Zentralkomitee um nichts auszuliefern.

Stand der Dinge: Die „Iskra" wird kaum zur bestimmten Zeit erscheinen. Die Martowleute jubeln über ihren „Sieg". Unsere Leute (mit Ausnahme der beiden Jungfräulein Axelrod, die Plechanow sogar in seiner Treulosigkeit3 treu bleiben) verlassen Plechanow und sagen ihm in der Sitzung (vom 6. oder 7. November) bittere Wahrheiten (über den „zweiten Issari").

Sehr schön, nicht wahr? Ich werde nicht Mitglied der Redaktion sein, werde aber schreiben. Unsere Leute wollen nach Möglichkeit das Zentralkomitee verteidigen und die Agitation gegen die Martowleute verstärkt fortsetzen, – ein, meines Erachtens, richtiger Plan.

Soll Plechanow zurücktreten: dann wird der Parteirat die „Iskra" einer Kommission übergeben und einen außerordentlichen Parteitag einberufen. Soll man denn tatsächlich der Auslandsliga gestatten, mit einer Mehrheit von drei, vier Stimmen den Parteitag umzustoßen? Ist es denn angängig, den Kampf an die breiteste Öffentlichkeit zu bringen und fast bis zur Spaltung zu treiben, zum Rückzug zu blasen und die von den Martowleuten diktierten Friedensbedingungen anzunehmen?

Ich möchte gerne Ihre Meinung wissen.

Ich denke, à la Plechanow handeln, das heißt den Parteitag umstoßen und Verrat an seiner Mehrheit üben. Ich bin der Meinung, dass wir hier und in Russland aus allen Kräften für die Unterordnung unter den Parteitag und nicht unter den Kongress der Liga agitieren müssen.

Ein Boykott der „Iskra" (sei es auch der Martowschen) wäre natürlich eine Dummheit. Sie wird nicht einmal eine Martowsche, sondern eher eine Plechanowsche sein, denn Sassulitsch und Axelrod werden Plechanow in kürzester Zeit drei Stimmen im Fünferkollegium geben. Das nennt sich Redaktion!! Als Ergänzung zu ihrer witzigen Bemerkung über die Reliquien von Sarowo4 will ich eine kleine Statistik anführen: in den 45 Nummern der vom Sechserkollegium redigierten „Iskra" hat von den Artikeln und Feuilletons Martow 39 geschrieben, ich 32, Plechanow 24, Starowjer 8, Sassulitsch 6 und Р. B. Axelrod 4. Das in drei Jahren! Keine einzige Nummer ist (im redaktionell-technischen Sinne) von irgend jemand anders als von Martow oder mir hergestellt worden. Und jetzt – als Belohnung für den Skandal, als Belohnung dafür, dass Starowjer uns eine wichtige Geldquelle abgeschnitten hat – sollen sie in die Redaktion kommen! Sie haben für „grundsätzliche Meinungsverschiedenheiten" gekämpft – die sich im Brief Starowjers vom 3. November an Plechanow so ausdrucksvoll in eine Berechnung verwandelten, wie viel Pöstchen sie brauchen. Und wir sollen diesen Kampf um die Pöstchen legalisieren, mit dieser Partei der untauglich befundenen Generale oder Minister (grève générale des généraux5), wie Plechanow sagte, oder mit der Partei hysterischer Raufbolde Abmachungen treffen! Wozu dann Parteitage abhalten, wenn die Dinge durch Vetternwirtschaft, Hysterie und Skandale im Auslande geregelt werden?

Noch ein Wort über das berühmte „Dreierkollegium", in dem der hysterische Martow den Mittelpunkt meines „Intrigantentums" sieht. Sie erinnern sich wohl noch von der Zeit des Parteitages her an mein Parteitagsprogramm und an meinen Kommentar zu diesem Programm. Ich möchte gern, dass alle Mitglieder der Partei dieses Dokument kennen, darum führe ich es noch einmal genau an. „Punkt 23 (der Tagesordnung). Wahl des Zentralmitees und der Redaktion des Zentralorgans der Partei."

Mein Kommentar. „Der Parteitag wählt drei Genossen in die Redaktion des Zentralorgans und drei Genossen in das Zentralkomitee. Diese sechs Genossen zusammen ergänzen, wenn es notwendig ist, auf Beschluss einer Zweidrittelmehrheit, die Redaktion des Zentralorgans und das Zentralkomitee durch Kooptation und erstatten hierüber dem Parteitag Bericht. Ist dieser Bericht vom Parteitag bestätigt, so erfolgt die weitere Kooptation durch die Redaktion des Zentralorgans und durch das Zentralkomitee getrennt voneinander."

Geht hieraus nicht klar hervor, dass hier eine Erneuerung der Redaktion vorgenommen wird, die ohne Zustimmung des Zentralkomitees unmögliсh ist (4 von 6 sind für die Kooptation erforderlich), wobei die Frage, ob die ursprüngliche Dreiergruppe belassen oder erweitert werden soll, offenbleibt (man kooptiert, „wenn es notwendig ist")? Diesen Entwurf habe ich allen (natürlich auch Plechanow) vor dem Parteitag gezeigt. Selbstverständlich war eine Erneuerung notwendig, weil man mit dem Sechserkollegium unzufrieden war (und insbesondere mit Plechanow, der in Wirklichkeit die Stimmen des fast nie teilnehmenden Р. B. Axelrod und der nachgiebigen V. I. Sassulitsch hatte). Selbstverständlich habe ich im Privatgespräch mit Martow meine Unzufriedenheit scharf zum Ausdruck gebracht, ich habe sowohl (besonders) auf Plechanow als auch auf Axelrod und Sassulitsch wegen ihrer Launenhaftigkeit „geschimpft", ich beabsichtigte auch (im Besonderen), das Sechserkollegium auf sieben Mitglieder zu erweitern usw. Ist es aber nicht Hysterie, jetzt diese Privatgespräche zu verdrehen und zu schreien, „das Dreierkollegium war gegen Plechanow gerichtet", ich hätte Martow eine „Falle" gestellt usw.? Natürlich wäre das Dreierkollegium in den Fragen, in denen Martow und ich übereinstimmen, gegen Plechanow gerichtet, in den Fragen aber, in denen Plechanow und Martow einer Meinung sind (z. B. in der Frage der Demonstrationen), würde es sich gegen mich richten usw. Das hysterische Geschrei verbirgt nur die erbärmliche Unfähigkeit, zu begreifen, dass in der Redaktion ausschließlich wirkliche und nicht vermeintliche Redakteure notwendig sind, dass es ein sachliches und nicht spießbürgerliches Kollegium zu sein hat, dass in ihm jeder zu jeder Frage seine eigene Meinung haben muss (was bei den drei nicht gewählten Genossen nie der Fall war).

Martow hat meinen Plan der zwei Dreierkollegien gebilligt, als er aber sah, dass dieser sich in einer Frage gegen ihn, Martow, richtete, da verfiel er in Hysterie und begann über Intrigantentum zu schreien! Nicht umsonst hat ihn Plechanow in den Couloirs des Ligakongresses einen „bedauernswerten Menschen" genannt!

Ja… ein widerwärtiger Auslandsklatsch, das ist es, was den Beschluss der Mehrheit der in Russland arbeitenden Genossen entscheidend beeinflusst hat. Und Plechanow hat Verrat geübt einerseits, weil er einen Skandal im Auslande fürchtete, anderseits, weil er (vielleicht) fühlte, dass er im Fünferkollegium für drei gelten wird …

Kampf um das Zentralkomitee, für die rasche Einberufung eines neuen Parteitages (im Sommer) – das ist es, was uns bleibt.

Suchen Sie mein Heft zu bekommen. Poletajew (Baumann) hat es an Wetscheslow, nur an ihn persönlich geschickt. Schergow konnte es nur durch eine Gaunerei in die Hände bekommen, nur durch Vertrauensbruch. Lesen Sie es vor, wem Sie wollen, aber geben Sie es niemand in die Hand und schicken Sie es mir zurück.

Wetscheslow müssen Sie aus allen Stellungen verdrängen. Nehmen Sie einen Brief vom Zentralkomitee, weisen Sie sich vor dem Parteivorstand6 als Vertrauensmann des Zentralkomitees aus und nehmen Sie alle deutschen Verbindungen vollständig in Ihre Hand.

Wegen Ihrer Broschüre bin ich sehr in Ihrer Schuld7. Ich habe sie bisher nur einmal durchlesen können. Sie erfordert eine Umarbeitung, ich habe aber noch keine Zeit gefunden, den Plan für diese Umarbeitung zu entwerfen.

Ihr

Lenin

1 „Skandalsucht" bei Lenin deutsch. Die Red.

2 „Versumpfung" bei Lenin deutsch. Die Red.

3 „Treulosigkeit" bei Lenin deutsch. Die Red.

4 Die Bemerkung Ljadows in seinem Brief an Lenin über die „Reliquien von Sarowo" bezogen sich möglicherweise auf Axelrod.

5 Generalstreik der Generale. Die Red.

6 „Parteivorstand" bei Lenin deutsch. Die Red.

7 Es konnte nicht festgestellt werden, von welcher Broschüre Ljadows Lenin damals das Manuskript las. Die Broschüre ist nicht erschienen. Es steht jedenfalls fest, dass es sich nicht um den Bericht der Bolschewiki an den Amsterdamer Kongress über die Lage in der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands handelte; dieser Bericht erschien im August 1904 mit der Unterschrift M. Lidins (Pseudonym Ljadows) in deutscher Sprache (Material zur Erläuterung der Parteikrise in der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands").

Kommentare