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Büro der Komitees der Mehrheit 19050228 Mitteilung über die Einberufung des III. Parteitages

Büro der Komitees der Mehrheit:

Mitteilung über die Einberufung des III. Parteitages

[„Wperjod" Nr. 8 vom 15./28. Februar 1905. Nach Lenin: Sämtliche Werke, Band 7, 1929, S. 561-565]

Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands

Proletarier aller Länder, vereinigt Euch!

Genossen! Die Revolution hat begonnen. Das Blut Tausender von Menschen rötete die Straßen Petersburgs, und ein Ruf der Rache, ein Ruf des Hasses gegen die Mörderregierung erschallte im ganzen Lande und fand überall Widerhall. Die Idee der Freiheit und der Volksregierung ist in breite Massen eingedrungen, der Gedanke der Notwendigkeit des bewaffneten Aufstandes verbreitet sich mit rasender Schnelligkeit. Die Proletarier Petersburgs haben das Signal gegeben, die Dinge treiben zur Entscheidung. Eine Welle der allgemeinen politischen Streiks und Massendemonstrationen flutet jetzt durch alle großen Zentren Russlands. Wahrscheinlich wird diese Welle abebben, aber sie wird das Volksbewusstsein tief aufrütteln, wird den Massen die erste revolutionäre Erziehung geben. Auf diese Welle wird bald eine andere folgen und jene wird die Sache entscheiden. Diese zweite Welle ist unvermeidlich, weil jene Bedingungen, die die erste hervorgerufen haben, nicht nur weiter bestehen, sondern sich immer mehr verschärfen. Der schändliche Krieg geht weiter, die Wirtschaftskrise verschärft sich, Pest, Cholera, Hungersnot rücken heran, das Land ist ruiniert … Vor der Arbeiterpartei erhebt sich eine neue Aufgabe von einer Tragweite und Schwere, wie sie noch nie dagewesen ist. Es ist die Aufgabe der politischen Leitung der Arbeiterklasse während der Revolution, die Aufgabe, eine allgemeine Taktik zu finden und in die Tat umzusetzen, bei der mit dem geringsten Verlust an kostbarem Blut des Proletariats die größten politischen und ökonomischen Errungenschaften in der bevorstehenden Umwälzung der Gesellschaftsordnung Russlands erreicht werden könnten. Wird die Partei, so wie sie ist, imstande sein, diese Aufgabe zu lösen? Jedes ehrliche Parteimitglied muss offen sagen: nein. Das braucht nicht bewiesen zu werden; die Tatsachen sind zu zahlreich, zu bekannt, es genügt eine einzige, die krasseste, die schrecklichste, zu erwähnen. In Petersburg, im Hauptzentrum, wo eine Masse der besten Kräfte der Partei versammelt ist, gehörte die Leitung der Bewegung in den revolutionären Januartagen nicht der Partei, sondern einer der Partei ganz fremden Person – einem Geistlichen mit einer Gruppe unklarer Leute, die blind an ihn glauben und von seinem religiös-utopischen Enthusiasmus hingerissen wurden. In diesen Tagen weigern sich die bürgerlichen Oppositionsgruppen, die Sozialdemokratie als rechtmäßige Vertreterin des Proletariats anzuerkennen, indem sie sich auf ihre äußere Schwäche, auf ihre fehlende Einheit berufen; sie benützen sogar die Gelegenheit, selbständige Verbindungen in den Arbeiterkreisen anzuknüpfen, in der Hoffnung, politischen Einfluss auf sie zu bekommen und deren Kraft in ihrem Interesse auszunützen. Das ist eine beispiellose Demütigung der Partei. So geht es nicht weiter. Damit muss Schluss gemacht werden. Die Partei muss würdig werden ihrer großen Idee. Wo liegen die Ursachen der Schwäche der Sozialdemokratie? Die Antwort ist einfach. In dem Fehlen der Parteieinheit, in der politischen Unfähigkeit der offiziellen Parteiführer. Diese zwei Ursachen sind voneinander nicht zu trennen. Die Unfähigkeit der offiziellen Führer hielt die Uneinigkeit aufrecht und verschärfte sie. Die Uneinigkeit, die sie in immer größere Verwirrung brachte und ihnen die Möglichkeit einer fruchtbaren Parteiarbeit nahm, machte sie noch untauglicher. Wir, die Anhänger der Parteimehrheit, führen bereits seit langem den Kampf um die Parteieinheit. Wir haben längst auf den einzig möglichen, der Partei einzig würdigen Ausweg aus diesem Wirrwarr hingewiesen, nämlich auf den Parteitag.

Wir haben längst auf die neuen und äußerst schwierigen taktischen und organisatorischen Aufgaben hingewiesen, die unsere Zentralinstanzen nicht imstande sind und nicht das Recht haben, selbständig zu lösen. Wir haben klargelegt, dass die Zeit nicht wartet, dass es bald zu spät sein wird, dass die Partei Gefahr läuft, zersplittert und ohnmächtig in den Strudel großer Ereignisse hineinzugeraten, dass sie Gefahr läuft, dann ihre politische Ehre zu verlieren und die Sache des Proletariats zu verspielen. Wie stellten sich zu all dem die Zentralinstanzen? Das Zentralorgan setzte seinen Kampf gegen die Parteimehrheit hartnäckig fort und drohte, während es in der letzten Zeit heuchlerisch von Parteifrieden sprach, mit einer Spaltung auf dem Parteitag, obwohl festgestellt wurde, dass programmatische Differenzen in der Partei nicht bestehen und die taktischen und organisatorischen nicht so groß sind, um die Parteieinheit bei Konfrontation ihrer Schattierungen zu bedrohen. Der Parteirat kämpfte verzweifelt gegen den Parteitag unter offener Verletzung des Parteistatuts. Unter phantastischen Vorwänden erklärte er die einzelnen Resolutionen, die sich für einen Parteitag aussprachen, für ungültig, setzte zweimonatige Perioden fest, von denen in jeder die Berechnung von vorne anfangen muss, er tat das, obwohl er sehr gut weiß, dass bei den russischen Entfernungen und den konspirativen Bedingungen zwei Monate praktisch nicht einmal ausreichen, um auch nur alle Komitees über den Gang der Parteigeschäfte zu informieren, der Parteirat fasste noch eine ganze Reihe von Beschlüssen dieser Art. Mit einem Wort, er hat aus eigener Machtvollkommenheit die vom Parteitag festgelegten Rechte der Komitees zur Einberufung des Parteitages abgeschafft. Das Zentralkomitee agitierte energisch gegen den Parteitag, erklärte alle, die für den Parteitag kämpften, als Desorganisatoren und unternahm schließlich eine Reihe von Versuchen, die örtliche Arbeit der Komitees, die für den Parteitag waren, zu desorganisieren. Es unterstützt inoffiziell oder bildet in einer ganzen Reihe von Städten Gruppen der Organisationsminderheit, die parallel mit den Komitees arbeiten und mit diesen konkurrieren; so verfuhr es in Odessa, Jekaterinoslaw, Nischni-Nowgorod; in Petersburg bestätigte es offiziell eine solche Gruppe unter dem Namen „Gruppe des ZK", entgegen seinem ausdrücklichen offiziellen Versprechen, das es wenige Tage zuvor dem Petersburger Komitee gegeben hatte, dass derartige Schritte ohne Beratung mit dem Petersburger Komitee nicht unternommen werden sollen. Das ZK hat somit praktisch das Recht der Parteimitglieder, für den Parteitag zu agitieren, durch seinen Druck zunichte gemacht und das vom Statut den Komitees zustehende Recht, die ganze örtliche Arbeit zu organisieren, verletzt. So haben die Zentralinstanzen das innerparteiliche Leben geleitet. Und wie sah ihre Außenpolitik aus? Das Zentralorgan machte einen einzigen Versuch, die Partei wirklich politisch zu leiten: die Flugschrift der „Iskra" über den Plan der Semstwokampagne. Im Wesentlichen läuft dieser Plan darauf hinaus, dass die Sozialdemokratie im Schwanze der bürgerlichen Parteien marschieren und es diesen überlassen müsse, im Namen des Volkes zu sprechen. Die Unbrauchbarkeit dieser Emigrationserfindung wird jetzt anscheinend sogar vom größten Teil der „Iskra"-Anhänger anerkannt. Das ZK, das verpflichtet ist, ständiger politischer Führer der Partei zu sein, hat diese Aufgabe in keinem einzigen der schwierigen Momente des allgemeinen Parteilebens erfüllt: weder bei Beginn des Krieges noch am 1. Mai noch bei den Mobilmachungen im Herbst. Es hat keine eigene Stellung zu den liberal-bürgerlichen Parteien festgelegt und verbreitete den sinnlosen Kampagne-Plan der „Iskra", ohne sich sogar dagegen auszusprechen. Den Verlauf der Ereignisse hat das ZK nicht vorausgesehen. Als einige von uns in Komiteesitzungen leidenschaftlich die Vertreter des ZK zu überzeugen suchten, dass in Anbetracht der bevorstehenden revolutionären Konflikte ein Parteitag unaufschiebbar sei, zuckten diese Vertreter die Achseln und antworteten: „Und vielleicht wird die Revolution nicht so schnell kommen." Ist bei politischen Führern ein solcher Grad von Kurzsichtigkeit und Naivität zulässig? Dank der Untauglichkeit der Zentralinstanzen ist die Partei für den Kampf unvorbereitet. Man muss sich so schnell wie möglich vorbereiten. Das Mittel hierzu ist die sofortige Einberufung des Parteitages.

Der Parteitag wird folgende dringende Fragen der revolutionären Taktik zu entscheiden haben: 1. Die Frage der Methoden des unmittelbaren politischen Kampfes. Hier stehen unseres Erachtens an erster Stelle die Fragen der planmäßigen Organisierung allgemeiner politischer Streiks, der Mittel zur Bewaffnung der Massen, der Mittel zur Organisierung des bewaffneten Aufstandes, der Mittel zur Einwirkung auf die Armee, der Grenzen der revolutionären Aktionen, soweit sie nicht nur unsere direkten Feinde, sondern auch andere Gesellschaftsklassen berühren (z. B. inwieweit ist in den Großstädten die Zerstörung der Wasserleitungen, die Schließung der Lebensmittelläden zulässig). 2. Die Frage des Verhältnisses zur bürgerlichen Opposition: unter welchen Bedingungen und in welchen Grenzen ist eine Koordinierung unserer und ihrer Handlungen im Kampfe gegen den Absolutismus möglich; welche Bedeutung soll formellen Verhandlungen beigemessen werden usw. Ihr offenes Auftreten und die Position, welche sie gegenüber den Sozialdemokraten eingenommen haben, haben vieles seit dem II. Parteitag geändert, und die Geschichte mit dem Plan der Semstwokampagne zeigt, wie wenig wir uns in dieser Frage auf unsere heutigen Zentralinstanzen verlassen können. 3. Die Frage der Verständigung und Vereinigung mit den nationalen sozialistischen Parteien: dem „Bund", der polnischen, litauischen, ukrainischen, finnischen, armenischen Partei und anderen. Die Dringlichkeit der Frage ist evident: die Wiederherstellung der Parteieinheit wird nach unserer Auffassung eine der Partei würdige Lösung dieser Aufgabe außerordentlich erleichtern. Die Frage einer Verständigung mit den Sozialrevolutionären muss nach unserer Auffassung eingehend besprochen werden. 4. Eigentliche Organisationsfragen:

I. Festlegung bestimmter Grenzen der Partei durch Ersetzung des jetzigen Martowschen § 1 des Statuts durch den Leninschen, wonach Mitglieder der Partei nur die Mitglieder von Parteiorganisationen sein können.

II. Herstellung der wirklichen Einheit der Parteiorganisation durch folgende Reformen:

a) genaue Bestimmung der Grenzen der Zentralisation und der Autonomie der einzelnen Organisationen. Wir werden für strenge Zentralisation kämpfen, aber gegen ihre naive bürokratische Auffassung, wie sie jetzt von den Zentralinstanzen vertreten wird, die bei all ihrer offenkundigen Untauglichkeit blinden Gehorsam verlangen; man muss eingedenk sein, dass die Grundlage der Organisation die bewusst-kameradschaftlichen Beziehungen bilden. Wir werden für möglichst weitgehende Autonomie der lokalen Komitees und der Gruppen, die sich an sie anlehnen, eintreten, jedoch gegen die von der Minderheit vertretene angeblich demokratische Auffassung dieser Autonomie sein, die unter den schweren äußeren Bedingungen des revolutionären Kampfes in der Praxis zu einer wahren Anarchie führen würde:

b) statutarische Festlegung der Grundlagen der gegenseitigen Beziehungen zwischen den Komitees und den Peripherien;

c) Umgestaltung der Zentralinstanzen.

Wir sind der Ansicht, dass es ein Zentrum und zwar ein russisches geben muss. Wir glauben nicht, mit den gestellten Fragen das Programm des Parteitages erschöpft zu haben, halten sie aber für die wichtigsten und dringendsten. Schon aus ihrer Aufzählung ist ersichtlich, dass der Parteitag viel zu viel bei der Reform zu tun haben wird, als dass er sich in einen Parteitag des Gerichts über einzelne Parteimitglieder verwandeln könnte; außerdem halten wir ja nicht die heutigen schlechten Parteiführer für bewusst verbrecherisch gegenüber den Interessen der Partei: sie sind nur Opfer der ihnen zugefallenen Aufgaben, denen sie nicht gewachsen sind. Der Parteitag ist notwendig. Das ist von den Komitees der Mehrheit erkannt worden, und sie haben durch eine Reihe von Konferenzen (des Nordens – 6 Komitees, des Südens – 3 Komitees, des Kaukasus – 4 Komitees) ein Organisationsbüro des III. Parteitages gewählt, wobei sie diesem Büro das Recht einräumten, wenn alle Mittel, um die Einberufung des Parteitages durch die Zentralinstanzen zu erreichen, erschöpft sein werden, in der Rolle eines Organisationskomitees aufzutreten und selber den Parteitag zu organisieren. Jetzt sind alle Mittel erschöpft. Das ZK antwortete auf alle Anfragen der Mehrheit wegen Einberufung des Parteitages ablehnend oder versuchte, durch ausweichende Antworten die Sache zu verschleppen. Die Zeit wartet aber nicht. Drohende Ereignisse rücken heran. Infolgedessen geht das Organisationsbüro daran, den Parteitag zu organisieren. Wenn bei irgend jemand noch Zweifel geblieben sein sollten, ob die Einberufung des Parteitages unter Umgehung der Zentralinstanzen berechtigt ist, so antworten wir einem solchen Genossen nur eines: die revolutionären Ereignisse rufen das revolutionäre Recht in Aktion, und dieses verneint praktisch untaugliche Institutionen. Die Ehre der Partei, die Sache des Proletariats muss gerettet werden.

Büro der Komitees der Mehrheit

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