Lenin‎ > ‎1905‎ > ‎

Wladimir I. Lenin 19050119 Brief an E. D. Stassowa und die Genossen im Moskauer Gefängnis

Wladimir I. Lenin: Brief an E. D. Stassowa und die Genossen im Moskauer Gefängnis1

[Zum ersten Mal veröffentlicht 1924 in der Zeitschrift „Proletarskaja Rewoluzija" („Die proletarische Revolution") Nr. 7 (30). Nach Sämtliche Werke, Band 7, 1929, S. 79-84]

19. I. 1905

Liebe Freunde! Ich gelangte in den Besitz Eurer Anfrage über die Taktik vor Gericht (durch den Brief von Absolut und einen Zettel, der durch eine unbekannte Person „wörtlich wiedergegeben" worden ist). Absolut schreibt von zwei Standpunkten. Im Zettel ist von drei Gruppierungen die Rede, vielleicht sind folgende drei Schattierungen gemeint, die ich zu rekonstruieren versuchen will: 1. Das Gericht negieren und es direkt boykottieren. 2. Das Gericht negieren und sich an dem Gerichtsverfahren nicht beteiligen. Einen Rechtsanwalt nur unter der Bedingung bestellen, dass er ausschließlich über die Unzuständigkeit des Gerichts vom Standpunkt des abstrakten Rechts spreche. Im Schlusswort eine profession de foi2 ablegen und ein Geschworenengericht fordern. 3. Bezüglich des Schlusswortes dasselbe. Sich des Gerichts als eines Agitationsmittels bedienen und zu diesem Zweck sich an dem Gerichtsverfahren mit Hilfe eines Rechtsanwalts beteiligen. Die Ungesetzlichkeit des Gerichts aufzeigen und sogar Vernehmung von Zeugen beantragen (Alibinachweis usw.).

Ferner die Frage: soll man nur sagen, dass man der Überzeugung nach Sozialdemokrat sei, oder soll man sich als Mitglied der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands zu erkennen geben?

Ihr schreibt, dass eine Broschüre über diese Frage notwendig sei. Ich würde es nicht für opportun halten, schon jetzt, wo wir noch keine Erfahrung haben, eine Broschüre in die Welt zu lassen. Wir werden vielleicht in der Zeitung, bei Gelegenheit, die Sache in irgendeiner Form streifen. Vielleicht könnte jemand von den Verhafteten für die Zeitung ein Artikelchen (5000 bis 8000 Buchstaben) schreiben? Für den Anfang der Diskussion dürfte es wohl das beste sein.

Ich persönlich habe mir noch kein abschließendes Urteil gebildet, und würde es vorziehen, ehe ich mich festlege, mich erst eingehend mit Genossen zu besprechen, die sitzen oder vor Gericht gestanden haben. Zur Einleitung einer solchen Besprechung will ich nun meine Erwägungen darlegen. Vieles hängt meines Erachtens davon ab, was für ein Gericht das sein wird. Das heißt, ob die Möglichkeit besteht, es zur Agitation auszunützen, oder ob gar keine Möglichkeit vorhanden ist? Ist das erste der Fall, so ist die Taktik Nummer 1 untauglich; ist das zweite der Fall, so ist sie am Platze, aber auch nur nach einem offenen, eindeutigen, energischen Protest und einer Erklärung. Falls jedoch die Möglichkeit besteht, das Gericht zur Agitation auszunutzen, ist die Taktik Nummer 3 wünschenswert. Eine Rede, in der eine profession de foi abgegeben wird, wäre meiner Meinung nach überhaupt sehr wünschenswert, sehr nützlich und hätte in den meisten Fällen Aussicht, agitatorisch zu wirken. Besonders in der ersten Zeit, wo die Regierung ein gerichtliches Verfahren anwendet, sollten die Sozialdemokraten mit einer Rede über das sozialdemokratische Programm und die sozialdemokratische Taktik auftreten. Man sagt: es sei nicht ratsam, sich als Mitglied der Partei, zumal der Organisation, zu erkennen zu geben, man solle sich lieber auf die Erklärung beschränken, dass man der Überzeugung nach Sozialdemokrat sei. Ich glaube, das Organisationsverhältnis sollte man in der Rede direkt ausschalten, d. h. man soll sagen, über Organisationsverhältnisse werde ich aus begreiflichen Gründen nicht sprechen, ich bin aber Sozialdemokrat und werde von unserer Partei sprechen. Ein solches Vorgehen würde zwei Vorteile haben: es wird ausdrücklich und genau festgestellt, dass man über das Organisationsverhältnis (Zugehörigkeit zur Organisation, zu welcher usw.) nicht sprechen dürfe, und gleichzeitig wird von unserer Partei gesprochen. Das ist notwendig, damit die sozialdemokratischen Reden vor Gericht zu Reden und Erklärungen der Partei werden, damit die Agitation der Partei zugute kommt. Mit anderen Worten: mein formales Organisationsverhältnis lasse ich unerörtert, das verschweige ich, formell werde ich nicht im Namen irgendeiner Organisation sprechen, aber ich werde vor euch als Sozialdemokrat über unsere Partei sprechen, und bitte, meine Erklärungen als einen Versuch anzusehen, jene sozialdemokratischen Auffassungen darzulegen, die in unserer gesamten sozialdemokratischen Literatur, in den und den Broschüren, Flugschriften, Zeitungen entwickelt worden sind.

Die Rechtsanwaltsfrage. Die Rechtsanwälte muss man unter der Fuchtel halten und unter Belagerungszustand stellen, denn dieses Intellektuellenpack macht oft Bockmist. Man muss ihnen von vornherein erklären: wenn du, Hundesohn, dir auch nur die allergeringste Unanständigkeit oder einen politischen Opportunismus erlauben solltest (etwa von der Unreife, der Unrichtigkeit des Sozialismus, von Schwärmerei, von der Verneinung der Gewalt durch die Sozialdemokraten, von dem friedlichen Charakter ihrer Lehre und ihrer Bewegung usw. oder von etwas Ähnlichem zu sprechen), so werde ich, der Angeklagte, dich auf der Stelle öffentlich unterbrechen, werde dich einen Schuft nennen, werde erklären, dass ich auf eine solche Verteidigung verzichte usw. Und diese Drohungen auch verwirklichen. Man soll nur gescheite Rechtsanwälte nehmen, andere braucht man nicht. Man soll ihnen von vornherein erklären: ausschließlich kritisieren und die Zeugen sowie den Staatsanwalt bei der Nachprüfung der Tatsachen „fangen" und die Machenschaften der Anklage festnageln, ausschließlich die Schemjakischen Seiten des Gerichts diskreditieren. Selbst ein kluger liberaler Advokat ist sehr geneigt, zu sagen, oder durchblicken zu lassen, dass die sozialdemokratische Bewegung friedlich sei, dass selbst Männer, wie Adolf Wagner, ihre kulturelle Rolle anerkennen usw. Alle derartigen Versuche müssen im Keime unterbunden werden. Die Juristen sind die reaktionärsten Menschen, wie, ich glaube, Bebel gesagt hat. Schuster, bleib bei deinem Leisten. Sei nur Jurist, verspotte die Zeugen der Anklage und den Staatsanwalt, höchstens darfst du ein solches Gericht dem Geschworenengericht in einem freien Lande gegenüberstellen, aber lasse die Überzeugungen des Angeklagten beiseite, unterstehe dich nicht, auch nur mit einem Ton anzudeuten, wie du seine Überzeugungen und seine Handlungen bewertest. Denn du, ein jämmerlicher Liberaler, wie du bist, kapierst diese Überzeugungen so wenig, dass es, selbst wenn du sie lobst, ohne Fadheiten nicht abgehen wird. Natürlich darf man das alles dem Rechtsanwalt nicht wie ein Sobakewitsch sagen, sondern liebenswürdig, konziliant, gewandt und behutsam. Immerhin aber ist es besser, sich vor den Rechtsanwälten in acht zu nehmen und ihnen nicht zu trauen, besonders wenn sie sagen, sie seien Sozialdemokraten und Mitglieder der Partei (laut unserem § 1!!).

Die Frage der Beteiligung am Gerichtsverfahren wird, glaube ich, durch die Rechtsanwaltsfrage entschieden. Einen Rechtsanwalt bestellen, heißt ja, sich am Gerichtsverfahren beteiligen. Warum sollte man sich auch nicht beteiligen, um die Zeugen fangen und gegen das Gericht agitieren zu können. Freilich muss man sehr vorsichtig sein, um nicht in den Ton einer unpassenden Rechtfertigung zu verfallen, darüber erübrigt sich jedes Wort! Am besten ist es, sofort, vor der Beweisaufnahme, auf die ersten Fragen des Vorsitzenden zu erklären, man sei Sozialdemokrat und werde in der Rede ausführen, was dies bedeute. Konkret hängt die Entscheidung der Frage nach der Beteiligung am Gerichtsverfahren ganz von den Umständen ab: angenommen, dass man vollkommen überführt ist, dass die Zeugen die Wahrheit sagen, dass die ganze Anklage in der Hauptsache auf unbestreitbaren Dokumenten beruht, dann wird es vielleicht keinen Zweck haben, sich am Gerichtsverfahren zu beteiligen, und man sollte alle Aufmerksamkeit auf eine prinzipielle Rede richten. Wenn dagegen die Tatsachen vage sind, die Zeugen der Geheimpolizei sich in Widersprüche verwickeln und schwindeln, dann dürfte es kaum angebracht sein, sich des Agitationsmaterials zur Entlarvung der Gerichtsmache zu berauben. Die Sache hängt auch von den Angeklagten ab: wenn sie sehr ermüdet, krank, abgespannt sind, wenn keine in der „gerichtlichen Beweisführung" und in rednerischen Kämpfen geübten Leute vorhanden sind, dann wird es vielleicht rationeller sein, auf die Teilnahme am Gerichtsverfahren zu verzichten, dies zu erklären und die ganze Aufmerksamkeit auf eine prinzipielle Rede zu richten, die vorher vorbereitet werden sollte. Jedenfalls ist eine Rede über die Grundsätze, das Programm und die Taktik der Sozialdemokratie, über die Arbeiterbewegung, über die sozialistischen Ziele, über den Aufstand das Wichtigste.

Zum Schluss wiederhole ich nochmals: dies sind meine vorläufigen Erwägungen, die nichts weniger als ein Versuch sein sollen, die Frage zu entscheiden. Man muss abwarten, was die Erfahrung zeigen wird. Bei der Herausarbeitung dieser Erfahrung aber werden sich die Genossen in sehr vielen Fällen von dem Abwägen der konkreten Umstände und dem Instinkt des Revolutionärs leiten lassen müssen.

Herzlichsten Gruß an Kurz, Ruben, Baumann und alle Freunde. Verzagt nicht! Bei uns gehen die Dinge jetzt gut. Von den Skandalisten haben wir uns endlich losgemacht. Mit der Taktik des Rückzuges ist es nun vorbei. Jetzt sind wir in der Offensive. Die russischen Komitees beginnen ebenfalls mit den Desorganisatoren zu brechen. Eine eigene Zeitung ist gegründet. Ein eigenes praktisches Zentrum (Büro) ist da. Von der Zeitung sind zwei Nummern erschienen, in diesen Tagen (23. Januar 1905 neuen Stils) erscheint die dritte. Wir hoffen, sie wöchentlich erscheinen lassen zu können. Ich wünsche Euch Gesundheit und guten Mut!! Wir werden uns noch bestimmt sehen und wir werden unter besseren Bedingungen kämpfen als bei dem hiesigen Tratsch und Gezänk in der Art der Ligakongresse!3

1 Von diesem Brief ist eine von Lenins Hand geschriebene Kopie erhalten. Die Kopie trägt die Überschrift: „Von Lenin an Absolut und die Genossen im Moskauer Gefängnis." Absolut war einer der Parteidecknamen der Genossin Stassowa. Die am Schlusse des Briefes genannten Genossen wurden im Juni 1904 verhaftet. Die Frage der Taktik der Sozialdemokraten vor Gericht wurde dadurch hervorgerufen, dass im Juni 1904 ein neues Gesetz erlassen worden war, durch welches eine Reihe „politischer Verbrechen", die bis dahin ohne Gerichtsverfahren auf administrativem Wege erledigt wurden, nunmehr dem Gericht unterstellt wurden. So entstand die Frage, wie man das bis zu einem gewissen Grade öffentliche Gerichtsverfahren zu Agitationszwecken ausnützen soll.

2 Glaubensbekenntnis.

3 Gemeint sind die Kongresse der Auslandsliga der russischen revolutionären Sozialdemokratie, die nach dem II. Parteitag II. Parteitag zu einem Stützpunkt und Tummelplatz der MenschewikiMenschewiki geworden war.

Kommentare