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Wladimir I. Lenin19050104 Es ist Zeit, Schluss zu machen

Wladimir I. Lenin: Es ist Zeit, Schluss zu machen1

[Wperjod" Nr. 1 vom 4. Januar 1905 (22. Dezember 1904). Nach Sämtliche Werke, Band 7, 1929, S. 51-56]

Die Äußerungen aller Augenzeugen stimmen darin überein, dass die Demonstration vom 28. November misslungen ist, weil die Arbeiter ihr fast gänzlich fern geblieben sind. Aber warum sind die Arbeiter zur Demonstration nicht erschienen? Warum hat das Petersburger Komitee, auf dessen Ruf die studierende Jugend zur Demonstration kam, nicht für die Heranziehung der Arbeiter gesorgt und damit das von ihm selbst eingeleitete Unternehmen zum Scheitern gebracht? Die Antwort auf diese Fragen gibt folgender Brief eines Arbeiters, eines Mitglieds des Komitees, dessen wichtigste Stellen wir hier veröffentlichen:

Die Stimmung war (Anfang November) gehoben und strebte nach Ausdruck. Das Mittel hierzu sollte eine Demonstration sein. Und wirklich erschien in dieser Zeit irgendein Flugblatt im Namen der ,Sozialdemokratischen Studentenorganisation' mit der Aufforderung zu einer Demonstration am 14. November. Als das Komitee davon erfuhr, wandte es sich an diese Organisation mit dem Vorschlag, die Demonstration bis Ende November zu vertagen, um die Möglichkeit zu haben, zusammen mit dem Petrograder Proletariat aufzutreten. Die Studenten willigten ein … Die klassenbewussten Arbeiter waren entschieden für die Demonstration. Zahlreiche Arbeiter fanden sich am 14. November auf dem Newski-Prospekt ein, weil sie angenommen hatten, dass die Studentendemonstration stattfinden werde. Als man sie darauf hinwies, sie hätten ohne den Ruf des Komitees nicht gehen sollen, gaben sie das zwar zu, antworteten aber, sie hätten ,geglaubt, dort werde was los sein'. Jedenfalls charakterisiert diese Tatsache die Stimmung der klassenbewussten Arbeiter.

Am 18. November wurde in der Sitzung des Komitees beschlossen, die Demonstration am 28. zu veranstalten. Sofort wurde eine Kommission gewählt, die sich mit der Organisierung der Demonstration und der Ausarbeitung eines Aktionsplanes befassen sollte: es wurde beschlossen, zwei vorbereitende Agitationsflugblätter und einen Aufruf zur Demonstration herauszugeben. Es begann eine emsige Arbeit. Der Schreiber dieser Zeilen hatte Gelegenheit, persönlich eine Reihe von Arbeiterversammlungen, die sich aus Vertretern der Zirkel zusammensetzten, abzuhalten, in denen über die Rolle der Arbeiterklasse, über Zweck und Bedeutung der Demonstration im gegenwärtigen Augenblick gesprochen wurde. Man beriet über die Frage, ob bewaffnete oder unbewaffnete Demonstration, und auf allen Versammlungen wurden Resolutionen angenommen, die sich mit dem Beschluss des Komitees solidarisierten. Die Arbeiter forderten möglichst viele Flugblätter zur Verbreitung: ,Ihr könnt uns ganze Fuhren davon geben', sagten sie.

Also, für den 28. war eine Demonstration in Vorbereitung, die grandios zu werden versprach. Aber da konnte unsere Petersburger ,Minderheit' nicht umhin, ebenso wie die ,allrussische' oder die ausländische ,Minderheit', eine rein negative Rolle zu spielen – die Rolle des Desorganisators. Um diese Rolle recht deutlich zu veranschaulichen, erlaube ich mir, einige Worte über die hiesige ,Minderheit' und ihre Tätigkeit zu sagen. Vor wie nach der Demonstration bestand das Komitee vorwiegend aus Anhängern der Mehrheit des II. Parteitages. Durch Verhaftungen und durch die Meinungsverschiedenheiten, die die Partei zerfleischten, war die Tätigkeit der hiesigen sozialdemokratischen Organisationen in vieler Hinsicht geschwächt. In ihrem Kampf gegen die ,Mehrheit' bemüht sich die hiesige ,Minderheit', das Ortskomitee zugunsten ihrer Fraktionsinteressen zu diskreditieren. Die Rayonvertreter, die Anhänger der ,Minderheit' sind, lassen in ihren Rayons keine Genossen von der ,Mehrheit' zu, und geben dem Komitee keine Verbindungsadressen. Die Folge ist eine schreckliche Desorganisation und Schwächung der Arbeitsfähigkeit des betreffenden Rayons. Da ist z. B. folgender Fall. Während der letzten fünf bis sechs Monate war der Vertreter eines gewissen Rayons ein ,Menschewik'. Infolge der fehlenden Verbindung mit der allgemeinen Arbeit ist dieser Rayon äußerst schwach geworden. Anstatt der früheren fünfzehn bis zwanzig Zirkel zählt er jetzt kaum vier bis fünf. Die Arbeiter sind mit dieser Lage der Dinge unzufrieden und ihr Vertreter bemüht sich, diese Unzufriedenheit gegen die ,Mehrheit' auszunützen, indem er auf diesem Boden die Arbeiter gegen das Komitee aufhetzt. Die ,Minderheit' ist bemüht, jede Schwäche der hiesigen Sozialdemokratie gegen die ,Mehrheit' auszunützen. Ob diese Bemühungen erfolgreich sind oder nicht, ist eine andere Frage, aber sie sind Tatsache.

Drei Tage vor der Demonstration wird auf Initiative der ,Minderheit' eine Sitzung des Komitees einberufen. Aus gewissen Gründen fehlen drei Komiteemitglieder der ,Mehrheit', die von der Sitzung nicht benachrichtigt werden konnten. Die ,Minderheit' stellt den Antrag, die Demonstration abzusagen – andernfalls droht sie, der Demonstration entgegenzuwirken und kein einziges Flugblatt zu verbreiten –, und da drei Genossen fehlten, die sich für die Demonstration eingesetzt hätten, geht dieser Antrag durch. Es wird beschlossen: die Flugblätter nicht zu verbreiten und die Aufrufe zu vernichten.

Die breite Masse sowohl der Gesellschaft als auch der Arbeiter rüstet zur Demonstration und wartet nur noch auf den Ruf des Komitees. Gerüchte beginnen umher zu schwirren, dass die Demonstration abgesagt und auf unbestimmte Zeit vertagt sei. Viele äußern ihre Unzufriedenheit mit dieser Absage; die Technik2 protestiert und weigert sich, künftig für das Komitee zu arbeiten.

Am Freitag tritt das Komitee zu einer Sitzung zusammen und die drei Genossen, die in der vorigen Sitzung fehlten, protestieren gegen die falsche Umstoßung des Beschlusses in der Demonstrationsfrage; mit Rücksicht darauf, dass sich ein größeres Publikum sowieso, auch ohne Flugblätter, auf dem Newski-Prospekt einfinden werde, dringen sie darauf, dass alle Maßnahmen getroffen werden, damit auch die Arbeiter an der Demonstration teilnehmen. Der Vertreter der ,Minderheit' widersetzte sich mit der Begründung, dass ,nicht alle Arbeiter genügend aufgeklärt seien, um bewusst an der Demonstration teilzunehmen und die vom Komitee aufgestellten Forderungen zu vertreten'. Über die Frage wird abgestimmt, und mit Mehrheit, gegen eine Stimme, wird beschlossen, an der Demonstration teilzunehmen. Aber hier zeigte sich nun, dass ein großer Teil – mehr als 12.000 – der fertiggestellten Aufrufe verbrannt worden ist. Außerdem wäre eine weite Verbreitung dieser Aufrufe in den Betrieben unmöglich gewesen, weil bis Sonnabend früh die Flugblätter nirgends eingetroffen wären und die Betriebe am Sonnabend bereits um 2 oder 3 Uhr schließen. Die Verbreitung der Flugblätter war daher nur in engstem Kreise der Arbeiter, unter Bekannten, aber nicht unter der breiten Masse möglich. Unter solchen Umständen war die Demonstration von vornherein zum Misserfolg verurteilt. Und sie ist auch gescheitert…

Jetzt kann unsere ,Minderheit' triumphieren. Sie hat gesiegt! Eine neue Tatsache, die das Komitee (lies: ,Mehrheit') in Misskredit bringt. Wir hoffen jedoch, dass der Leser an die Ursachen, die diesen Ausgang der Demonstration hervorgerufen haben, etwas ernster herangehen und zusammen mit uns sagen wird: ,Ja, jetzt sind bei uns 'in der Partei Zustände eingerissen, bei denen eine erfolgreiche Arbeit unmöglich ist. Man muss so schnell wie möglich mit der Parteikrise Schluss machen, man muss unsere Reihen fest zusammenfügen. Andernfalls droht uns eine völlige Erschlaffung. Wenn wir den gegenwärtigen günstigen Augenblick nicht nützen, werden wir bei den großen Ereignissen das Nachsehen haben'."

Der desorganisatorische Streich der Petersburger „Minderheit", die aus kleinlichen Konventikelinteressen die proletarische Demonstration hintertrieben hat, ist der letzte Tropfen, der das Maß der Geduld der Partei zum Überlaufen bringen muss. Dass unsere Partei ernsthaft krank ist und im letzten Jahre gut die Hälfte ihres Einflusses eingebüßt hat, das weiß alle Welt. Und wir wenden uns jetzt an die Leute, die es nicht fertig bringen, angesichts dieser ernsten Krankheit schadenfroh zu grinsen, die nicht mit Ächzen und Krächzen, mit Gewimmer und Gegreine über die verdammten Fragen hinweggehen können, die es für ihre Pflicht halten, sich über die Ursachen der Krise vollkommen klar zu werden, und sei es auch um den Preis ungeheurer Anstrengungen, um das Übel mit der Wurzel auszurotten. Diese Leute, und nur sie, wollen wir an die Geschichte der Krise erinnern: ohne das Studium dieser Geschichte lässt sich auch die jetzige Spaltung, die die „Menschewiki" nun doch erreicht haben, nicht begreifen.

Erstes Stadium der Krise. Auf dem II. Parteitag unserer Partei siegen trotz des Widerstandes der ganzen und halben Rabotschedjelzen3 die Grundsätze der „Iskra"-Richtung. Nach dem Parteitag beginnt die Minderheit in der Partei zu wühlen, um in die Redaktion Personen hineinzubringen, die der Parteitag abgelehnt hat4. Drei Monate lang, von Ende August bis Ende November, wird eine Desorganisation, ein Boykott, die Vorbereitung der Spaltung betrieben.

Zweites Stadium. Plechanow gibt den Gentlemen, die danach lechzen, kooptiert zu werden, nach, wobei er schwarz auf weiß und in aller Öffentlichkeit in dem Artikel „Was man nicht tun soll" (Nr. 52) erklärt, dass er den Revisionisten und anarchistischen Individualisten ein persönliches Zugeständnis mache, um ein größeres Übel zu verhüten. Die Gentlemen benutzen das Zugeständnis, um in der Partei weiter zu wühlen. Nachdem sie Zutritt zur Redaktion des Zentralorgans und zum Parteirat erlangt haben, bilden sie eine geheime Organisation, mit dem Zweck, ihre Leute in das Zentralkomitee zu bringen und den III. Parteitag zu hintertreiben. Das ist eine unerhörte und unglaubliche Tatsache, aber sie ist dokumentarisch bewiesen durch den Brief des neuen Zentralkomitees über die Abmachungen mit dieser edlen Gesellschaft.

Drittes Stadium. Drei Mitglieder des Zentralkomitees gehen auf die Seite der Verschwörer gegen die Partei über, kooptieren drei Prätendenten von der Minderheit5 (während sie den Komitees schriftlich das Gegenteil versichern) und hintertreiben mit Hilfe des Parteirates endgültig den III. Parteitag, für den sich die erdrückende Mehrheit aller Komitees, die zu der Krise überhaupt Stellung genommen haben, erklärt hat. In den Broschüren Orlowskis („Der Parteirat gegen die Partei") und Lenins („Erklärung und Dokumente über den Bruch der Zentralinstanzen mit der Partei") sind diese Tatsachen ebenfalls dokumentarisch bewiesen. Die Masse der Parteiarbeiter in Russland kennt diese Tatsachen nicht, aber sie zu kennen ist jeder verpflichtet, der nicht nur in Worten Parteimitglied sein will.

Viertes Stadium. Die russischen Parteiarbeiter schließen sich zusammen, um dem Emigrantenkonventikel, das unsere Partei blamiert hat, entgegenzutreten. Die Anhänger und die Komitees der Mehrheit organisieren eine Reihe privater Konferenzen und wählen ihre Bevollmächtigten. Das vollkommen in den Händen der kooptierten Prätendenten befindliche neue Zentralkomitee stellt sich zur Aufgabe, alle Ortskomitees der Mehrheit zu desorganisieren und zu spalten. Die Genossen mögen sich darüber keine Illusionen machen: ein anderes Ziel hat das Zentralkomitee nicht. Die Kreaturen der Emigrantenclique arbeiten an der Vorbereitung neuer Komitees und bilden sie allüberall (Odessa, Baku, Jekaterinoslaw, Moskau, Woronesh usw.). Das Emigrantenkonventikel bereitet für sich einen eigenen ausgesiebten Parteitag vor. Nachdem die Geheimorganisation mit den Zentralinstanzen fertig geworden ist, wendet sie sich gegen die Ortskomitees.

Der desorganisatorische Streich der Petersburger Menschewiki ist nichts Zufälliges, sondern ein wohlüberlegter Schritt zur Spaltung des Komitees, ein Schritt, der mit Hilfe der in das Zentralkomitee kooptierten „Menschewiki" gemacht wurde. Wir wiederholen nochmals: die Masse der Parteiarbeiter in Russland kennt diese Tatsachen nicht. Auf das Nachdrücklichste warnen wir sie im Voraus: alle diese Tatsachen muss jeder kennen, der gegen die Desorganisation und für die Partei kämpfen, der sich nicht vollends an der Nase herumführen lassen will.

Wir haben alle möglichen und selbst eine Reihe unmöglicher Zugeständnisse gemacht, um in einer Partei mit der „Minderheit" weiter arbeiten zu können. Jetzt, wo der III. Parteitag hintertrieben wird und die Desorganisationsarbeit sich gegen die Ortskomitees richtet, ist jede Hoffnung darauf verloren. Im Gegensatz zu den „Menschewiki", die im Geheimen handeln und sich vor der Partei verstecken, müssen wir offen erklären und es mit Taten beweisen, dass die Partei mit diesen Herrschaften alle und jede Beziehungen abbricht.

1 Aus dem erhaltenen Teil des Originalmanuskripts des Artikels: „Es ist Zeit, Schluss zu machen" geht hervor, dass dieser Artikel von Lenin in Gemeinschaft mit Worowski geschrieben wurde. Der Anfang des Artikels, einschließlich der Korrespondenz, ist von der Hand Worowskis geschrieben; von da ab, also von den Worten: „Der desorganisatorische Streich der Petersburger ,Minderheit', die aus kleinlichen Konventikelinteressen die proletarische Demonstration hintertrieben hat" usw. (siehe S. 53) bis zum Schluss ist von Lenin geschrieben. Im Manuskript trug der Artikel die Überschrift: „Warum ist die Petersburger Demonstration misslungen?"; im „Wperjod" wurde der Artikel unter dem Titel: „Es ist Zeit, Schluss zu machen" veröffentlicht. Die zitierte Korrespondenz stammt von Р. P. Rumjanzew. Der erhaltene Teil des Originalmanuskriptes, das im Lenin-Institut aufbewahrt wird, reicht bis zu den Worten: „… ein wohlüberlegter Schritt zur Spaltung, ein Schritt, der mit Hilfe der in das ZK koop…"

2 Mit dem Worte „Technik" bezeichnete man die illegale Druckerei, die Beschaffung von Pässen, illegalen Wohnungen und dergl. Mehr, bzw. die Gruppe von Genossen, die für den illegalen Druck der Flugblätter usw. zu sorgen hatte. Die Red.

3 Die Anhänger des „Rabotscheje Djelo". Die Red.

4 Auf dem II. Parteitag der SDAPR wurde Axelrod, Potressow und Sassulitsch nicht mehr in die Redaktion der „Iskra" gewählt. Nachdem Lenin am 1. November 1903 aus der „Iskra" ausgetreten war, kooptierte Plechanоw Martow und die vom Parteitag abgelehnten Axelrod, Potressow und Sassulitsch in die Redaktion (vgl. den Artikel „Kurze Darstellung der Spaltung in der SDAPR").

5 Drei Mitgliedern des Zentralkomitees, Krassin, Noskow und Galperin (Nikititsch, Glebow und Valentin), die damals einen „versöhnlerischen" Standpunkt einnahmen verhandelten mit der Minderheit und kooptierten drei Menschewiki in das Zentralkomitee: W. N. Krochmal (Fomin), W. N. Rosanow (Popow) und Rosa Halberstadt (Fischer). Die Halberstadt wurde bald durch Alexandrowa (Stein) ersetzt.

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