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Wladimir I. Lenin 19050914 Brief an N. A. Krassikow

Wladimir I. Lenin: Brief an N. A. Krassikow1

[Geschrieben 1./14. September 1905. Zum ersten Mal veröffentlicht 1926 im „Leninski Sbornik", Nr. 5. Nach Sämtliche Werke, Band 8, 1931, S. 266-269]

14. IX. 05

Lieber Freund! Ich beeile mich, Ihren pessimistischen Brief zu beantworten. Ich kann die Tatsachen nicht nachprüfen, aber es scheint mir, dass Sie übertreiben. Das als Erstes. Die „Flugschriften" des ZK sind gut und der „Rabotschij", Nr. 1, ist sehr gut. Das ist eine große Leistung. Mit den Geldangelegenheiten steht es jetzt schlimm, aber Beziehungen sind da und die Aussichten sind sehr gut. Eine große Unternehmung, eine sehr solide und ertragreiche, ist so organisiert, dass der „Finanzmann" zweifellos nicht schläft. Zweitens: Sie sehen die Dinge nicht vom richtigen Standpunkt an. Es ist eine Utopie, eine restlose Solidarität im ZK oder unter seinen Vertrauensleuten zu erwarten. „Nicht Zirkel, sondern die Partei", lieber Freund! Verlegen Sie den Schwerpunkt in die örtlichen Parteikomitees, sie sind autonom, geben volle Handlungsfreiheit, machen die Hände frei für Geld- und andere Beziehungen, für das literarische Auftreten usw. usw. Sehen Sie zu, dass Sie selbst nicht in denselben Fehler verfallen, den Sie anderen vorwerfen: jammern und klagen Sie nicht, und wenn die Arbeit als Vertrauensmann des ZK Ihnen nicht liegt, verlegen Sie sich auf die Komiteearbeit und regen Sie auch Ihre Gesinnungsgenossen an, sich auf sie zu verlegen. Angenommen, es bestehen zwischen Ihnen und den „Agenten"2 Meinungsverschiedenheiten. Es ist viel zweckmäßiger, seine Ansichten im Komitee durchzusetzen, besonders dann, wenn sich ein einmütiges, prinzipienfestes Komitee gebildet hat, und in ihm eine offene, gerade und entschlossene Linie zu führen, statt mit den „Agenten" zu streiten. Wenn Sie mit der Blutarmut der Komitees und der Überfüllung der „Agenturen" recht haben, so haben Sie doch das Heilmittel für diese Krankheit in Ihrer Hand: Strömt alle in die Komitees. Das Komitee ist autonom. Die Komitees entscheiden alles auf den Parteitagen. Die Komitees können Resolutionen annehmen. Die Komitees haben das Recht, ihre Sachen zu drucken. Sehen Sie nicht der „Obrigkeit" passiv zu, sondern machen Sie sich selbständig an die Sache. Sie haben jetzt ein weites, freies Feld, eine unabhängige, selbständige, dankbare Arbeit im wichtigsten Komitee. Stürzen Sie sich in diese Arbeit, suchen Sie sich eine einheitliche Gesellschaft zusammen, gehen Sie mutiger und mehr zu den Arbeitern, drucken Sie mit Feuereifer Schriften, bestellen Sie sie bei uns, bei Schwarz, bei mir, bei Galorka, erklären Sie im Namen des Komitees laut Ihre Parteimeinung. Ich versichere Ihnen, dass Sie auf diese Weise tausendmal mehr auf die ganze Partei und das ZK in der für Sie wünschenswerten Richtung einwirken werden als durch persönliche Einwirkung auf die Vertrauensleute und Mitglieder des ZK. Mir scheint, dass Sie die Sache in veralteter Weise betrachten, vom Zirkelstandpunkte und nicht vom Parteistandpunkte. Das ZK ist wählbar, der Parteitag ist nicht mehr fern, Sie haben Rechte in der Hand, nützen Sie sie aus und bringen Sie alle energischen, entschlossenen Gesinnungsgenossen auf denselben Weg: in die Komitees!! Man muss formal, durch die Komitees, einwirken und nicht persönlich durch Gespräche mit Agenten. Es ist ja niemand gezwungen, Agent zu sein, wenn er in die Komitees gehen will!

Sie schreiben: Der Agent Mjamlin hat erklärt, dass die hochstaplerische Notiz der „Iskra" gerechtfertigt sei.3 Schön. Das ist sein gutes Recht. Aber das ZK hat in Nummer 1 der „Flugschriften" erklärt, dass zwei Drittel der Partei auf unserer Seite sind. Mjamlin hat sich also selbst geprügelt! Es ist Ihre Aufgabe, die Mjamlins nicht durch Gespräche mit ihnen, sondern durch Ihr Komitee, zu bändigen, zu entlarven, zu entthronen. Die Komitees werden Leute wählen, von denen die Mjamlins ernannt werden, und nicht die Mjamlins werden das Schicksal der Partei bestimmen. Mögen energische Menschen die Komitees in ihre Hand nehmen: das ist eine Losung für Alle, und ich rate Ihnen, sie zu verbreiten, allen einzuprägen und sie durchzuführen.

Der Agent Mjamlin ist für zwei Zentralorgane. Wiederum: wer wird darüber entscheiden? Die Komitees und ihre Delegierten auf dem 4. Parteitag. Bereiten Sie ein oder zwei Komitees darauf vor, und Sie haben eine dankbare und sachliche Aufgabe. Nehmen wir an, die Mjamlins siegen. Die Komitees haben das Recht, ihr Organ zu gründen, sogar ein einzelnes Komitee ist dazu berechtigt!! Sie irren sich also, verfallen in die alte vorparteiliche Auffassung, wenn Sie schreiben: „Es werden Trotzkis Flugschriften gedruckt." Das ist gar nicht schlimm, wenn die Flugschriften erträglich und korrigiert sind. Ich werde auch dem St. Petersburger Komitee raten, seine Schriften, nachdem sie, sagen wir von Ihnen, durchredigiert sind, abzudrucken. Sie schreiben weiter: „Ein Sündenfall à la Boris steht nahe bevor." Ich verstehe das nicht. Nehmen wir an, es gebe solche Boris'! Es gibt davon immer mehr als genug. Gesetzt den Fall, die Boris' und Mjamlins erweisen sich in der Mehrheit (in den Komitees, vergessen Sie das nicht, in den Komitees). Dann „geht eine Masse früherer Arbeit zugrunde", schließen Sie. Wieso? Wie und wodurch soll der „Proletarij" zugrunde gehen?? Sogar die Sinnlosigkeit der „zwei Zentralorgane" wird den „Proletarij" nicht zugrunde richten, sondern nur Unsinn in die Statuten hineinbringen. Aber das Leben wird doch den „Proletarij" bestehen lassen und den Unsinn wegfegen. Und dem „Proletarij" ein Ende zu machen, dazu werden sich auch die Mjamlins nicht entschließen. Und nehmen wir selbst das Schlimmste an, wie Sie in ihrem Pessimismus es sehen: nehmen wir an, der „Proletarij" wird eingestellt. Dann frage ich Sie: Und wozu ist das Petersburger Komitee da? Wird etwa der „Proletarij" als Organ des Petersburger Komitees schwächer sein, als wenn er eines der „beiden" Zentralorgane ist?? Ergreifen Sie sofort energische Maßnahmen, damit das Petersburger Komitee nicht in nur formale, sondern in enge, sachliche, ständige Beziehungen zum „Proletarij" trete, und Sie werden dadurch Ihre Stellung und den Einfluss ihrer Ideen so stärken, dass hunderte Mjamlins nicht mehr gefährlich werden können. Das Petersburger Komitee ist eine dreimal stärkere Macht als sämtliche „Agenten" zusammengenommen. Machen Sie den „Proletarij" zum Organ des Petersburger Komitees und das Petersburger Komitee zum ideologischen und taktischen Leiter des „Proletarij" – das wird die reale Bekämpfung der Mjamlins und nicht nur ein Kampf mit Klagen und Jammern sein. In Petersburg lassen sich hunderte Adressen finden, in Petersburg kann man zahllose Gelegenheiten finden, den Korrespondenzteil zu organisieren, die Beziehungen zu beleben, Flugblätter zu bestellen, Artikel aus dem „Proletarij" als Flugblätter auszugeben, sie für Flugblätter zu verwenden, zu Flugblättern zu verarbeiten usw. usw. In den Flugblättern kann und muss auch von den allgemeinen Parteifragen gesprochen werden. (Das Komitee in Kostroma hat uns dieser Tage eine gegen die Ernennung Plechanows in das Internationale Büro gerichtete Resolution geschickt: nichts als ein Dreinhauen.4 Das Treiben der Mjamlins muss man mit einer mustergültigen Organisation der Komiteeagitation, mit Kampfflugschriften an die Partei und nicht mit missvergnügten Klagen an das ZK bekämpfen!

Von welchem meiner Artikel in Nr. 5 (??) der „Sarja" (über Prokopowitsch) schreiben Sie? Ich verstehe nicht. Weswegen sind Sie mit Ruben unzufrieden? Bringen Sie mich unbedingt sowohl mit ihm als auch mit Lalajanz direkt in Verbindung.

Ich drücke fest Ihre Hand. Schreiben Sie häufiger und blasen Sie nicht Trübsal! Und pfeifen Sie auf die Mjamlins!

Ihr N. Lenin.

1 Der Brief P. A. Krassikows an Lenin ist vom 22. August/4. September 1905 datiert. Krassikow beklagt sich gegenüber Lenin über das „Konservieren und Einmarinieren der Kräfte" in Petersburg und schreibt u. a.: „Auf dem Papier gibt es einen Haufen Vertrauensleute des Zentralkomitees, zu welcher Funktion die besten Kräfte genommen und der Verwendung in den einzelnen Orten entzogen worden sind, und diese Vertrauensleute reisen von einem Bestimmungsort zum anderen, von einem Nachtlager wieder an einen anderen Bestimmungsort und seufzen Ach und Weh, wie die bösen Menschewiki uns verprügeln. Der Vertrauensmann erster Güte Bur hat zynisch erklärt, dass die prahlerische Notiz der ,Iskra' höchst gerechtfertigt sei. Daraus wird der Schluss gezogen, dass wir uns sofort mit den Menschewiki verschmelzen sollen, wobei beide Organe zu Zentralorganen erklärt oder beide als führende Organe beseitigt und zu fraktionellen erklärt werden sollen. Im äußersten Falle soll, wenn Lenin sich damit nicht einverstanden erklärt, ein anderer Redakteur bestellt werden …" Weiter heißt es in dem Briefe: „ … Die Unzufriedenheit wächst; wenn das ZK sich von der konsequent prinzipiellen Haltung lossagt, die es, als Reflex des Organs, mit einer gewissen Aureole umgibt – wie es scheint, ist aber ein Sündenfall à la Boris nahe“ (damit ist das Versöhnlertum W. A. Noskows im Jahre 1904 gemeint. Die Red.) –, „dann wird wiederum eine Menge getaner Arbeit verloren sein; denn wenn außer der positiven Arbeit auch noch der prinzipielle Boden fehlt, dann bleibt nichts übrig. Am. allerwenigsten beschäftigen sie sich mit der Agitation im Sinne der ,zwei Taktiken'." Die Worte Lenins: „… es scheint, dass Sie übertreiben", wurden bald teilweise bestätigt. Ein Brief, den Lenin von A. M. Essen (Bur) erhielt, zeigt, dass die Mitteilung P. A. Krassikows über das Verhältnis Essens zum „Proletarij" nicht genau ist. Essen schrieb: „Den Brief des Zentralkomitees an Sie, wonach im Falle des Geldmangels in erster Linie das Zentralorgan eingestellt werden soll, haben wir gelesen und äußerst unbedacht gefunden. Wir hatten über diese Frage eine Unterredung mit dem Zentralkomitee. Wir haben die Frage des Abdruckes des Zentralorgans in Russland und, falls das Geld fehlen sollte, die Einstellung des „Rabotschij" aufgeworfen… Das Zentralkomitee verhielt sich zu unserem Antrag ablehnend…"

2 Die Vertrauensleute des ZK wurden kurzweg „Agenten" genannt. D. Red.

3 Mit der „hochstaplerischen Notiz" beschäftigt sich auch der Artikel „Die Informierung der internationalen Sozialdemokratie". In der dort angeführten Nr. 9 des „Proletarij" vom 20. Juni/3. Juli 1905 war die menschewistische „Statistik" unter der Überschrift „Unsere Chlestakows" abgedruckt. Das Manuskript der redaktionellen Bemerkung dazu stammt von Krupskaja. Lenin schrieb drei einleitende Zeilen und die folgende Schlusszeile: „Die Kuriere springen, 30.000 Kuriere fordern die neu-iskristischen Chlestakows auf, die Partei zu regieren!"

4 Die Resolution des Parteikomitees von Kostroma lautete: Nach Kenntnisnahme der mit der Nr. 101 der „Iskra" erhaltenen Erklärung Plechanows, dass er unsere Partei im Internationalen Sozialistischen Büro nur in dem Falle vertreten kann, wenn dies von beiden Fraktionen verlangt wird, hält es das Parteikomitee von Kostroma für notwendig, zu dieser Sache seine Meinung zu sagen. Ganz abgesehen davon, dass Plechanow, da er außerhalb der Partei steht, formell sie nicht vertreten kann, ist das Kostromaer Komitee der Ansicht, dass die Tätigkeit Plechanows in den letzten zwei Jahren voll ununterbrochener Schwankungen gewesen ist und stets den Interessen eines ausländischen Zirkels in seinem Kampfe gegen die kaum begonnene Bildung der Partei gedient hat. Erst in der allerletzten Zeit hat Plechanow die Zusammenarbeit mit Martynow und seinen Anhängern abgelehnt, aber er hat sich nicht ermannen können, wieder in die Partei einzutreten und in ihr einen bestimmten Platz einzunehmen. Seine politische Unbeständigkeit ist nach unserer Meinung eine Folge seines Losgelöstseins von der lebendigen russischen Wirklichkeit, vom wirklichen Parteileben und eine Widerspiegelung der vorübergehenden Stimmungen und Schwankungen der Genfer Kooptierungspolitik. Besonders auf dem Amsterdamer Kongress vertrat Plechanow, als er am Kollegium der Vertreter teilnahm, nicht die Partei, sondern nur die Minderheit und ihren ausländischen Teil, und er protestierte, als die Mehrheit der Partei ebenfalls auf dem Kongress vertreten sein wollte, wenn auch nur als Minderheit in der Delegation. Das Kostromaer Komitee hat keinen Grund, anzunehmen, dass die Betätigung Plechanows künftighin eine andere Richtung einschlagen wird. Dabei ist die Aufgabe des Vertreters Russlands im Internationalen Sozialistischen Büro im gegenwärtigen Augenblick äußerst verantwortungsvoll. Die Häufung der revolutionären Ereignisse und die politische Lage in Russland überhaupt bedingen in bedeutendem Maße die revolutionäre Aktivität des westeuropäischen Proletariats zur Verwirklichung der sozialistischen Revolution. Jetzt naht bereits die Zeit, wo die Frage des gemeinsamen politischen Handelns des internationalen Proletariats brennende praktische Bedeutung annimmt.

Wie kann man – so fragen wir die Parteigenossen – in dieser gespannten Lage die Vertretung der Partei einem Menschen anvertrauen, dessen Losung die „Diplomatie" ist und dessen Kult „seine Genfer Freunde" sind? Man kann dem Genossen Plechanow das Recht, unsere Partei im Internationalen Sozialistischen Büro zu vertreten, nicht übertragen, ohne die revolutionäre Rolle des Proletariats Russlands und seine sozialdemokratischen Aufgaben herabzusetzen. Unter Berufung auf alles hier Gesagte gibt das Kostromaer Komitee dem Wunsch Ausdruck, das ZK möge einen Vertreter bestimmen, der imstande ist, die wirklichen Interessen unserer Partei zu vertreten. „Proletarij", Nr. 20, vom 27. September/10. Oktober 1905. – In „Die Vertretung der SDAPR im Internationalen Sozialistischen Büro“ wird vermerkt, dass diese Resolution noch im August 1905 an die Redaktion des „Proletarij" geschickt wurde.

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