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Wladimir I. Lenin 19050124 Der Petersburger Streik

Wladimir I. Lenin: Der Petersburger Streik

[Wperjod" Nr. 3, 11./24. Januar 1905. Nach Sämtliche Werke, Band 7, 1929, S. 105-108]

Der am 3. Januar in den Putilow-Werken begonnene Streik wächst sich zu einer der großartigsten Erscheinungen der Arbeiterbewegung aus. Unsere Nachrichten erschöpfen sich vorläufig in Meldungen der ausländischen und der legalen russischen Blätter. Aber auch diese Meldungen lassen keinen Zweifel darüber, dass der Streik bereits zu einem politischen Ereignis von ungeheurer Wichtigkeit geworden ist.

Der Streik hat rein spontan begonnen. Einer der Zusammenstöße zwischen Kapital und Arbeit, wie sie immer wiederkehren; diesmal erfolgte er, weil die Direktion der Fabrik vier Arbeiter entlassen hatte. Die Arbeiter erhoben sich, erfüllt vom Geiste der Solidarität, mit der Forderung ihrer Wiedereinstellung. Die Bewegung erstarkte rasch. Der legale „Russische Verein der Fabrikarbeiter" beteiligte sich daran, und der Streik geht in die nächste, höhere Phase über.

Der legale Arbeiterverein war Gegenstand besonderer Aufmerksamkeit der Subatowleute. Und nun wächst die Subatowsche Bewegung über ihren Rahmen hinaus und diese von der Polizei im Interesse der Polizei, im Interesse der Unterstützung des Absolutismus, im Interesse der Korrumpierung des politischen Bewusstseins der Arbeiter begonnene Bewegung wendet sich gegen den Absolutismus, wird zu einem Ausbruch des proletarischen Klassenkampfes.

Die Sozialdemokraten haben schon längst auf die Unvermeidlichkeit solcher Resultate unserer Subatowiade hingewiesen. Die Legalisierung der Arbeiterbewegung – sagten sie – werde unbedingt uns, den Sozialdemokraten, zugute kommen. Sie werde manche besonders rückständige Arbeiterschichten in die Bewegung hineinziehen, sie werde jene aufrütteln helfen, die der sozialistische Agitator nicht so bald und vielleicht niemals aufgerüttelt hätte. Einmal in die Bewegung hineingezogen, für die Frage ihres Schicksals interessiert, würden aber die Arbeiter weitergehen. Die legale Arbeiterbewegung werde nur eine neue, breitere Grundlage für die sozialdemokratische Arbeiterbewegung abgeben*.

Kein Zweifel, dass in Petersburg sich die Sache gerade so abgespielt hat.

Zwei Umstände trugen zur Ausdehnung der Bewegung besonders bei: erstens, der für den wirtschaftlichen Kampf günstige Moment (die Regierung benötigt dringend die Ausführung der Aufträge der Kriegs- und Marineministerien); zweitens, die Belebung der Verfassungsbewegung in der Gesellschaft. Die Arbeiter, die den Streik zum Schutze einzelner entlassener Kameraden begonnen hatten, stellten nun weitgehende ökonomische Forderungen. Sie forderten den Achtstundentag, einen Mindestlohn (1 Rubel für die männlichen und 70 Kopeken für die weiblichen Arbeiter), Abschaffung des Überstundenzwanges (und doppelte Bezahlung der Überstunden), Verbesserung der sanitären Bedingungen und der ärztlichen Hilfe usw. Der Streik begann sich in einen Generalstreik zu verwandeln.

Die ausländischen Zeitungen berichten vom Sonnabend, dem 8./21. Januar, dass sogar nach den amtlichen russischen Meldungen 174 Werke, Fabriken und Werkstätten mit rund 96.000 Arbeitern streiken.

Wir haben es mit einem der großen Zusammenstöße der sich formierenden Proletarierklasse mit ihrem Feinde zu tun, Zusammenstöße, die ihre Spuren für lange Jahre zurücklassen.

Bei den ökonomischen Forderungen blieb es jedoch nicht. Die Bewegung begann politischen Charakter anzunehmen. Die dortigen Sozialdemokraten versuchten, auf die Bewegung Einfluss (wenn auch, wie es scheint, noch sehr geringen) zu bekommen. In gewaltigen Arbeiterversammlungen von mehreren tausend Menschen begann man politische Forderungen zu erörtern und Resolutionen für die politische Freiheit zur Abstimmung zu bringen. Die von den Arbeitern verfasste Petition zerfällt in drei Teile. Der erste Teil enthält Forderungen von Rechten für das Volk. Der zweite – Maßnahmen zur Bekämpfung der Armut des Volkes. Der dritte – Maßnahmen gegen die Unterdrückung der Arbeit durch das Kapital. Die Forderungen des ersten Teiles sind: Unantastbarkeit der Person, Rede-, Versammlungs- und Gewissensfreiheit, obligatorische Schulbildung auf Kosten des Staates, Teilnahme von gewählten Volksvertretern an der Gesetzgebung, Gleichheit aller vor dem Gesetz, Verantwortlichkeit der Minister, Aufhebung der Ablösungszahlungen, billiger Kredit, allmähliche Verteilung der Staatsländereien an das Volk, Einkommensteuer. (Wenn diese Meldung auf Wahrheit beruht, so zeigt sie eine außerordentlich interessante Spiegelung des Programms der Sozialdemokraten in den Köpfen der Masse oder ihrer wenig aufgeklärten Führer.) Der Korrespondent der englischen Zeitung „The Standard" meldet, dass am 5./18. Januar drei Versammlungen (davon eine von 4000 und eine andere von 2000 Menschen) stattgefunden hätten und dass folgende politische Forderungen angenommen wurden: erstens, sofortige Einberufung einer konstituierenden Versammlung auf der Grundlage des allgemeinen Wahlrechts; zweitens, Beendigung des Krieges; drittens, vollständige Amnestie für die politischen Gefangenen und Verbannten; viertens, Presse- und Gewissensfreiheit; fünftens, Versammlungs- und Koalitionsfreiheit. Die ausländischen Zeitungen vom 21. (8.) Januar bringen Meldungen über eine für Sonntag, den 9./22. Januar sich vorbereitende Demonstration vor dem Winterpalais, bei der eine Petition „dem Zaren selbst" überreicht werden soll. Die Arbeiter erklären: Freiheit oder Tod. Arbeiterdelegierte von Moskau und Libau begeben sich nach Petersburg.

Das sind die knappen und noch unkontrollierten Meldungen, über die wir augenblicklich verfügen. Die Bewegung hat offenbar den Höhepunkt der Entwicklung noch nicht erreicht und man muss die Ereignisse abwarten, um das Geschehene vollkommen würdigen zu können. Augenfällig ist der erstaunlich schnelle Übergang der Bewegung von dem rein ökonomischen auf den politischen Boden, die gewaltige Solidarität und Energie Zehntausender, ja Hunderttausender von Proletariern – und das alles, trotzdem eine zielbewusste sozialdemokratische Einwirkung ganz fehlt oder verschwindend gering ist. Die Bedeutung des hervorbrechenden revolutionären Instinkts des Proletariats wird durch die Primitivität der sozialistischen Anschauungen bei einigen Führern der Bewegung, die Zähigkeit des naiven Glaubens an den Zaren bei gewissen Elementen der Arbeiterklasse nicht verkleinert, sondern eher verstärkt. Der politische Protest der vorgeschrittenen unterdrückten Klasse und seine revolutionäre Energie durchbrechen alle Schranken, sowohl die äußeren – die Polizeiverbote – als auch die inneren – die Unreife und Rückständigkeit der Ideen einiger Führer. Die Arbeit der Sozialdemokratie während der letzten zehn Jahre und die Lehren der Arbeiterbewegung in dieser Zeit haben ihre Früchte getragen, indem sie die Ideen des Sozialismus und des politischen Kampfes in die breitesten Kanäle hineinströmen ließen. Das Proletariat zeigt in der Tat, dass in der Arena der politischen Bewegung in Russland nicht nur zwei Kräfte (Absolutismus und bürgerliche Gesellschaft) vorhanden sind, wie manche kleinmütig anzunehmen bereit waren. Das Proletariat zeigt uns wirklich hohe Formen der Mobilisierung der revolutionären Klassenkräfte; die Mobilisierung schließt sich selbstverständlich nicht an die sekundären Manifestationen in irgendeiner Stadtverordnetenversammlung an, sondern an die Massenbewegungen in der Art der Rostower Demonstration und der Streiks im Süden vom Jahre 1903. Und diese neue und höhere Mobilisierung der revolutionären Kräfte des Proletariats bringt uns mit Siebenmeilenschritten näher einem noch entschiedeneren, noch bewussteren Aufmarsch des Proletariats zum Kampfe gegen den Absolutismus!

* Vergleiche „Was tun?" von N. Lenin, S. 86-88.

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