IV. Die Handwerklerei der Ökonomisten und die Organisation der Revolutionäre

IV. Die Handwerklerei der Ökonomisten und die Organisation der Revolutionäre

Die weiter oben von uns analysierten Behauptungen des „Rabotscheje Djelo", der ökonomische Kampf sei das weitest anwendbare Mittel der politischen Agitation und es sei jetzt unsere Aufgabe, dem ökonomischen Kampf selbst einen politischen Charakter zu verleihen usw., bringen eine enge Auffassung nicht nur von unseren politischen, sondern auch von unseren organisatorischen Aufgaben zum Ausdruck. Für den „ökonomischen Kampf gegen die Unternehmer und die Regierung" ist eine allrussische zentralisierte Organisation, die sämtliche Kundgebungen der politischen Opposition, des Protestes und der Empörung zu einem gemeinsamen Ansturm vereinigt, eine Organisation, die aus Berufsrevolutionären besteht und von wirklichen politischen Führern des ganzen Volkes geführt wird, nicht notwendig, und darum kann sie sich auch im Verlaufe dieses Kampfes nicht herausbilden. Und das ist verständlich. Der Charakter der Organisation jeder Institution wird natürlich und unvermeidlich bestimmt durch den Inhalt der Tätigkeit dieser Institution. Darum sanktioniert und legalisiert das ,.Rabotscheje Djelo" durch seine oben analysierten Behauptungen nicht nur den engen Rahmen der politischen Tätigkeit, sondern auch der organisatorischen Arbeit.

Auch in diesem Falle ist es, wie immer, ein Organ, dessen Zielbewusstheit vor der Spontaneität kapituliert. Die Anbetung der spontan entstehenden Organisationsformen jedoch, die mangelnde Erkenntnis dessen, wie beschränkt und primitiv unsere Organisationsarbeit ist, welche „Handwerkler" wir auf diesem wichtigen Gebiet noch sind, der Mangel dieser Erkenntnis, sage ich, ist eine wirkliche Krankheit unserer Bewegung. Selbstverständlich ist es nicht eine Krankheit des Zerfalls, sondern eine Krankheit des Wachstums. Aber eben jetzt, wo die Welle der spontanen Empörung uns, als Führer und Organisatoren der Bewegung, sozusagen überschwemmt, ist der unversöhnlichste Kampf gegen jede Verteidigung der Rückständigkeit, gegen jeden Versuch, die Beschränktheit auf diesem Gebiete zum Gesetz zu erheben, besonders notwendig, es ist besonders notwendig, in jedem, der an der praktischen Arbeit teilnimmt oder die Absicht hat, sich ihr zu widmen, Unzufriedenheit mit der bei uns herrschenden Handwerklerei zu wecken und die unbeugsame Entschlossenheit, diese zu überwinden.

a) Was ist Handwerklerei?

Wir wollen versuchen, auf diese Frage zu antworten, indem wir ein kleines Bild von der Tätigkeit eines typischen sozialdemokratischen Zirkels in den Jahren 1894 bis 1901 entwerfen. Wir haben bereits auf die allgemeine Begeisterung der studierenden Jugend jener Zeit für den Marxismus hingewiesen. Diese Begeisterung bezog sich natürlich nicht nur und nicht so sehr auf den Marxismus als Theorie, wie als Antwort auf die Frage „was tun"?, als Aufruf zum Feldzug gegen den Feind. Und die neuen Kämpfer zogen mit erstaunlich primitiver Ausrüstung und Ausbildung ins Feld. Sehr oft war sogar fast gar keine Ausrüstung und nicht die geringste Ausbildung vorhanden. Man zog in den Krieg, wie die Bauern vom Pfluge, nur mit einem Knüppel bewaffnet. Ein Studentenzirkel knüpft Beziehungen zu Arbeitern an und beginnt zu wirken, ohne irgendeine Verbindung mit den alten Führern der Bewegung, ohne Verbindung mit Zirkeln an anderen Orten oder auch nur in anderen Teilen der Stadt (oder in anderen Lehranstalten), ohne irgendeine Organisation der einzelnen Zweige der revolutionären Arbeit, ohne irgendeinen systematischen Plan der Tätigkeit für eine einigermaßen lange Zeitspanne. Der Zirkel entfaltet allmählich eine immer umfassendere Propaganda- und Agitationsarbeit, weckt durch die Tatsache seines Hervortretens die Sympathie ziemlich breiter Arbeiterschichten, die Sympathie eines gewissen Teiles der gebildeten Gesellschaft, die Geld hergibt und dem „Komitee" immer neue und neue Jugendgruppen zur Verfügung stellt. Die Anziehungskraft des Komitees (oder des „Kampfbundes") wächst, es wächst der Umfang seiner Tätigkeit, und es erweitert diese Tätigkeit vollkommen spontan: dieselben Leute, die vor einem Jahre oder einigen Monaten in Studentenzirkeln auftraten und die Frage „Wohin gehen?" zu lösen suchten, die Beziehungen zu Arbeitern anknüpften und unterhielten, Flugschriften verfassten und verbreiteten, knüpfen Beziehungen an zu anderen Gruppen von Revolutionären, verschaffen sich Literatur, beginnen eine lokale Zeitung herauszugeben, von der Veranstaltung einer Demonstration zu reden, und gehen schließlich zu offenen Kriegshandlungen über (wobei eine solche offene Kriegshandlung – je nach den Umständen – entweder schon das erste Agitationsflugblatt oder die erste Nummer einer Zeitung oder die erste Demonstration sein kann). Und gewöhnlich führt schon der Beginn dieser Aktionen sofort zum vollständigen Auffliegen. Sofort und vollständig, eben weil diese Kriegshandlungen nicht das Resultat eines systematischen, vorbedachten und von langer Hand vorbereiteten Planes für einen langen und hartnäckigen Kampf waren, sondern einfach das spontane Anwachsen traditionell betriebener Zirkelarbeit; weil die Polizei natürlich fast immer alle Hauptführer der lokalen Bewegung, die sich schon in ihrer Studentenzeit „missliebig gemacht" hatten, kannte und nur den günstigen Augenblick für ihren Überfall abwartete, nachdem sie den Zirkeln absichtlich die Möglichkeit gegeben hatte, sich auszubreiten und zu entfalten, um ein greifbares corpus delicti1 zu haben. Ein paar ihr wohlbekannte Leute ließ die Polizei dabei stets übrig – zur weiteren „Zucht" (wie der technische Ausdruck heißt, der, soweit mir bekannt ist, sowohl von uns als auch von den Gendarmen angewandt wird). Man kann nicht umhin, einen solchen Krieg mit einem Feldzug von mit Knüppeln bewaffneten Bauernbanden gegen ein modern ausgerüstetes Heer zu vergleichen. Und man muss sich nur über die Lebensfähigkeit der Bewegung wundern, die sich ausbreitete, wuchs und Siege davontrug trotz dieses absoluten Mangels an Vorbereitung bei den Kämpfenden. Vom geschichtlichen Standpunkt aus war allerdings die Primitivität der Ausrüstung zu Beginn nicht nur unvermeidlich, sondern sogar gesetzmäßig, als eine der Vorbedingungen für eine breite Heranziehung von Kämpfern. Aber sobald ernste Kriegshandlungen begonnen hatten (und sie haben eigentlich schon mit den Streiks im Sommer 1896 begonnen), – da machten sich die Mängel unserer militärischen Organisation immer stärker und stärker fühlbar. Nachdem die Regierung zunächst in Verwirrung geraten war und eine Reihe von Fehlern gemacht hatte (wie z.B. den Aufruf an die Gesellschaft mit der Schilderung der Schandtaten der Sozialisten oder die Verbannung von Arbeitern aus den Hauptstädten in die Industriezentren der Provinz), passte sie sich bald den neuen Kampfbedingungen an und verstand es, ihre mit aller Vollkommenheit ausgerüsteten Trupps von Lockspitzeln, Spionen und Gendarmen an den richtigen Platz zu stellen. Die Polizeiüberfälle begannen sich so häufig zu wiederholen, eine so große Menge von Leuten in Mitleidenschaft zu ziehen, die lokalen Zirkel so restlos fortzufegen, dass die Arbeitermasse buchstäblich alle Führer verlor, die Bewegung einen unglaublich sprunghaften Charakter annahm und absolut keine kontinuierliche und zusammenhängende Arbeit geleistet werden konnte. Die außerordentliche Zersplitterung der lokalen Führer, die zufällige Zusammensetzung der Zirkel, der Mangel an Vorbereitung und der enge Gesichtskreis auf dem Gebiete der theoretischen, politischen und organisatorischen Fragen waren das unvermeidliche Resultat der geschilderten Verhältnisse. Es ist so weit gekommen, dass an verschiedenen Orten die Arbeiter infolge unseres Mangels an Ausdauer und Konspiration von Misstrauen gegen die Intelligenz erfasst werden und sich von ihr zurückziehen: die Intellektuellen, sagen sie, führen durch ihren Leichtsinn das Auffliegen der Zirkel herbei!

Dass diese Handwerklerei schließlich von allen denkenden Sozialdemokraten als Krankheit empfunden wird, – das weiß jeder, der die Bewegung auch nur einigermaßen kennt. Damit aber der Leser, der die Bewegung nicht kennt, nicht glaubt, dass wir künstlich ein besonderes Stadium oder eine besondere Krankheit der Bewegung „konstruieren", wollen wir uns auf einen bereits erwähnten Zeugen berufen. Man verzeihe uns das lange Zitat.

Wenn der allmähliche Übergang zu einer umfassenderen praktischen Tätigkeit“ – schreibt B-w in Nr. 6 des „Rabotscheje Djelo" –, „ein Übergang, der in direkter Abhängigkeit steht von der allgemeinen Übergangszeit, die die russische Arbeiterbewegung durchmacht, ein charakteristisches Merkmal ist so gibt es noch ein anderes, nicht weniger interessantes Merkmal im allgemeinen Mechanismus der russischen Arbeiterrevolution. Wir meinen damit den allgemeinen Mangel an aktionsfähigen revolutionären KräftenA, der sich nicht nur in Petersburg, sondern in ganz Russland bemerkbar macht. Mit der allgemeinen Belebung der Arbeiterbewegung, mit der allgemeinen Entwicklung der Arbeitermasse, mit den immer häufiger werdenden Streiks, mit dem immer offener auftretenden Massenkampf der Arbeiter, der die Verfolgungen von Seiten der Regierung, die Verhaftungen, Verbannungen und Ausweisungen verstärkt, tritt dieser Mangel an qualitativ hochentwickelten revolutionären Kräften immer schärfer hervor und bleibt zweifellos nicht ohne Einfluss auf die Tiefe und den allgemeinen Charakter der Bewegung. Viele Streiks werden ohne starke und unmittelbare Einwirkung der revolutionären Organisationen durchgeführt … es macht sich ein Mangel an Agitationsflugblättern und an illegaler Literatur bemerkbar: die Arbeiterzirkel bleiben ohne Agitatoren… Gleichzeitig tritt ein ständiger Mangel an Geldmitteln auf. Mit einem Worte, das Wachstum der Arbeiterbewegung überflügelt das Wachstum und die Entwicklung der revolutionären Organisationen. Der vorhandene Bestand an aktiven Revolutionären erweist sich als zu unbedeutend, um in ihren Händen den Einfluss auf die gesamte in Bewegung geratene Arbeitermasse zu konzentrieren, um der ganzen Bewegung auch nur einen Schatten von Harmonie und Organisiertheit zu verleihen… Die einzelnen Zirkel, die einzelnen Revolutionäre sind nicht gesammelt, nicht vereinigt, stellen nicht eine einheitliche, starke und disziplinierte Organisation dar mit planmäßig entwickelten Teilen …"

Und nachdem der Verfasser weiter feststellt, dass das sofortige Auftauchen neuer Zirkel an Stelle der zerschlagenen „nur die Lebensfähigkeit der Bewegung beweist, … aber nicht das Vorhandensein einer genügenden Zahl von vollkommen geeigneten revolutionären Führern", kommt er zu folgender Schlussfolgerung:

Der Mangel an praktischer Schulung der Petersburger Revolutionäre zeigt sich auch in den Ergebnissen ihrer Arbeit. Die letzten Prozesse, besonders der Gruppen ,Selbstbefreiung' und ,Kampf der Arbeit gegen das Kapital', haben klar gezeigt, dass ein junger Agitator, der die Arbeitsbedingungen und folglich auch die Agitation in einem bestimmten Betrieb nicht in allen Einzelheiten kennt, der die Prinzipien der Konspiration nicht kennt und sich nur die allgemeinen Ansichten der Sozialdemokraten angeeignet hat" (hat er sie sich wirklich angeeignet?), „vielleicht 4, 5, 6 Monate arbeiten kann. Dann erfolgt seine Verhaftung, die oft die Zertrümmerung der gesamten Organisation oder zum mindesten eines Teiles zur Folge hat. Es fragt sich nun, ob eine erfolgreiche und fruchtbare Tätigkeit einer Gruppe möglich ist, deren Existenz nur auf Monate berechnet ist? Offensichtlich können die Mängel der bestehenden Organisationen nicht ganz der Übergangszeit zur Last gelegt werden … Offensichtlich spielt hier die quantitative und vor allem die qualitative Zusammensetzung der in Aktion befindlichen Organisationen eine nicht geringe Rolle, und die erste Aufgabe unserer Sozialdemokraten … muss die wirkliche Vereinigung der Organisationen bei strenger Auswahl der Mitglieder sein".

b) Handwerklerei und Ökonomismus

Wir müssen jetzt auf die Frage eingehen, die sich wohl schon jeder Leser gestellt hat. Kann man diese Handwerklerei, diese Krankheit des Wachstums, die der gesamten Bewegung eigen ist, in Zusammenhang bringen mit dem Ökonomismus, als einer der Richtungen in der russischen Sozialdemokratie? Wir meinen, ja. Uns allen, auch denen, die von Anfang an fest auf dem Standpunkt des revolutionären Marxismus gestanden haben, mangelt es an praktischer Vorbereitung, an Verständnis für die organisatorische Arbeit. Und diesen Mangel an Vorbereitung an und für sich könnte natürlich niemand den Praktikern vorwerfen. Aber außer dem Mangel an Schulung gehört zum Begriff der „Handwerklerei" noch etwas anderes: der beschränkte Umfang der revolutionären Arbeit im Allgemeinen, das mangelnde Verständnis dafür, dass auf dieser eng (begrenzten Arbeit keine gute revolutionäre Organisation aufgebaut werden kann, schließlich – und das ist die Hauptsache – die Versuche, diese Beschränktheit zu rechtfertigen und zu einer besonderen „Theorie" zu erheben, d. h. die Anbetung der Spontaneität auch auf diesem Gebiet. Sobald solche Versuche zutage getreten waren, wurde es klar, dass die Handwerklerei mit dem Ökonomismus verknüpft ist, und dass wir uns von der engen Begrenzung unserer organisatorischen Tätigkeit nicht frei machen werden, wenn wir uns vom Ökonomismus im Allgemeinen nicht frei machen (d. h. von der engen Auffassung der Theorie des Marxismus, der Rolle der Sozialdemokratie und ihrer politischen Aufgaben). Diese Versuche aber traten nach zwei Richtungen hin zutage. Die einen sagten: die Arbeitermasse selber hat noch keine so umfassenden und revolutionären politischen Aufgaben gestellt, wie sie ihr von den Revolutionären „aufgezwungen" werden, sie muss noch für die nächsten politischen Forderungen kämpfen, den „ökonomischen Kampf gegen die Unternehmer und die Regierung" führenB diesem der Massenbewegung „zugänglichen" Kampf entspricht aber naturgemäß auch eine selbst der am wenigsten geschulten Jugend „zugängliche" Organisation). Andere, denen die Theorie des „nach und nach" fern lag, sagten: „die politische Revolution" kann und muss durchgeführt werden, dazu ist es aber absolut nicht notwendig, eine starke Organisation der Revolutionäre zu schaffen, die das Proletariat zu hartem und zähem Kampf erziehen; dazu genügt es, dass wir alle den uns „zugänglichen" und gut bekannten Knüppel in die Hand nehmen. Um ohne Allegorien zu sprechen, – dass wir den Generalstreik durchführenC; oder dass wir den „trägen" Gang der Arbeiterbewegung mit Hilfe des „exzitierenden Terrors" anzufeuern suchen.D Diese beiden Richtungen, die Opportunisten und die „Revolutionisten", kapitulieren vor der herrschenden Handwerklerei, sie glauben nicht an die Möglichkeit, sich von ihr zu befreien, sie verstehen unsere erste und dringendste praktische Aufgabe nicht: eine Organisation der Revolutionäre zu schaffen, die fähig wäre, Energie, Zähigkeit und Kontinuierlichkeit im politischen Kampf zu sichern.

Wir haben soeben die Worte von B–w angeführt: „Das Wachstum der Arbeiterbewegung überflügelt das Wachstum und die Entwicklung der revolutionären Organisationen". Diese „wertvolle Mitteilung eines nahen Beobachters" (Äußerung der Redaktion des „Rabotscheje Djelo" über den Artikel von B–w) ist für uns von doppeltem Wert. Sie zeigt, dass wir recht hatten, als wir die Hauptursache der gegenwärtigen Krise in der russischen Sozialdemokratie in dem Umstand sahen, dass die Führer (die „Ideologen", die Revolutionäre, die Sozialdemokraten) hinter dem spontanen Aufschwung der Massen zurückgeblieben sind. Sie zeigt, dass eben all diese Ausführungen der Verfasser des ökonomistischen Briefes (in Nr. 12 der „Iskra"), B. Kritschewskis und Martynows, über die Gefahr der Unterschäzung der Bedeutung des spontanen Elementes, des grauen Tageskampfes, der Taktik als Prozess usw., eine Verherrlichung und Verteidigung der Handwerklerei sind. Diese Leute, die das Wort „Theoretiker" nicht ohne verächtliche Grimasse aussprechen können, die ihren Kniefall vor der mangelnden Vorbereitung, der mangelnden Durchbildung „Lebensinstinkt" nennen, offenbaren, dass sie für unsere dringendsten praktischen Aufgaben kein Verständnis haben. Leuten, die zurückgeblieben sind, ruft man zu: haltet Schritt! eilt nicht voraus! Leuten, die an Mangel an Energie und Initiative in der Organisationsarbeit, an Mangel an „Plänen" für eine umfassende und mutige Organisation leiden, spricht man von der „Taktik als Prozess"! Unsere Hauptsünde besteht in der Herabsetzung unserer politischen und organisatorischen Aufgaben auf das Niveau der nächsten, „greifbaren", „konkreten" Interessen des wirtschaftlichen Tageskampfes, – aber man singt uns immer wieder die alte Leier: dem ökonomischen Kampf selbst muss ein politischer Charakter verliehen werden! Noch einmal: das ist buchstäblich ein ebensolcher „Lebensinstinkt", wie ihn der Held eines Volksepos kundtat, der beim Anblick eines Trauerzuges ausrief: „Schleppt ohne End'!"

Man erinnere sich, mit welch unvergleichlichem Hochmut diese Neunmalweisen Plechanow zu belehren suchten: Die politischen Aufgaben im wirklichen, praktischen Sinne des Wortes, d. h. im Sinne des zweckmäßigen und erfolgreichen praktischen Kampfes um die politischen Forderungen, sind den Arbeiterzirkeln überhaupt (sic!) nicht „zugänglich" (Antwort der Redaktion des „Rabotscheje Djelo", S. 24). Es gibt verschiedene Arten von Zirkeln, ihr Herren! Dem Zirkel der „Handwerkler" sind natürlich die politischen Aufgaben nicht zugänglich, solange diese Handwerkler ihre Handwerklerei nicht erkannt und sich von ihr nicht befreit haben. Wenn aber diese Handwerkler außerdem noch in ihre Handwerklerei verliebt sind, wenn sie das Wort „praktisch" unbedingt gesperrt schreiben und der Meinung sind, dass das Praktische die Herabsetzung ihrer Aufgaben auf das Niveau der Auffassungsfähigkeit der rückständigsten Schichten der Masse erfordert, – dann sind diese Handwerkler natürlich hoffnungslos, und die politischen Aufgaben sind ihnen tatsächlich überhaupt unzugänglich. Aber dem Zirkel der Koryphäen, wie z. B. Alexejew und Myschkin, Chalturin und Scheljabow, sind politische Aufgaben im wirklichsten, im praktischsten Sinne dieses Wortes zugänglich, sie sind ihnen gerade darum und insoweit zugänglich, als ihre glühende Predigt in der spontan erwachenden Masse einen Widerhall findet, als ihre sprühende Energie von der Energie der revolutionären Klasse aufgegriffen und unterstützt wird. Plechanow hatte tausendmal Recht, als er nicht nur hinwies auf diese revolutionäre Klasse, nicht nur die Unvermeidlichkeit, die Notwendigkeit ihres spontanen Erwachens nachwies, sondern auch die „Arbeiterzirkel" vor eine hohe und große politische Aufgabe stellte. Ihr aber beruft euch auf die seither entstandene Massenbewegung, um diese Aufgabe herabzusetzen, um die Energie und den Umfang der Tätigkeit der „Arbeiterzirkel" einzuengen. Was ist das, wenn nicht die Verliebtheit des Handwerklers in seine Handwerklerei? Ihr brüstet euch mit eurem praktischen Sinn und seht die jedem russischen Politiker bekannte Tatsache nicht, welche Wunder für die Sache der Revolution die Energie nicht nur eines Zirkels, sondern sogar einer einzelnen Person zu vollbringen imstande ist. Oder glaubt ihr, dass es in unserer Bewegung keine solche Koryphäen geben kann, wie in den siebziger Jahren? Warum denn? Weil wir nicht genügend vorbereitet sind? Aber wir bereiten uns vor, werden uns vorbereiten und werden vorbereitet sein! Allerdings hat sich bei uns unglücklicherweise in dem stellenden Wasser des „ökonomischen Kampfes gegen die Unternehmer und die Regierung" Fäulnis gebildet, es sind Leute aufgetaucht, die vor der Spontaneität ihr Knie beugen und sie anbeten, während sie ehrfurchtsvoll (nach einem Ausdrucke Plechanows) den „Hintern" des russischen Proletariats betrachten. Aber wir werden es verstehen, diese Fäulnis zu überwinden. Eben jetzt kann der russische Revolutionär, der sich von einer wahrhaft revolutionären Theorie leiten lässt und sich auf eine wahrhaft revolutionäre und spontan erwachende Klasse stützt, sich endlich – endlich! – in seiner ganzen Größe aufrichten und seine Heldenkräfte entfalten. Dafür ist es nur notwendig, dass jeder Versuch, unsere politischen Aufgaben und den Umfang unserer Organisationsarbeit zu verkleinern, in der Masse der Praktiker, in der noch größeren Masse der Leute, die schon seit der Schulbank von praktischer Arbeit träumen, auf Hohn und Verachtung stößt. Und das werden wir erreichen, des seid gewiss, ihr Herren!

Im Artikel „Womit beginnen?" schrieb ich gegen das „Rabotscheje Djelo":

Man kann in 24 Stunden die Taktik der Agitation in Bezug auf irgendeine besondere Frage ändern, z. B. die Taktik der Durchführung irgendeines Details der Parteiorganisation; aber in 24 Stunden, ja meinetwegen sogar in 24 Monaten seine Anschauungen zu ändern darüber, ob eine Kampforganisation und eine politische Agitation in den Massen überhaupt, ob sie immer und unbedingt notwendig seien, – das können nur Leute ohne jedes feste Prinzip.“

Rabotscheje Djelo" antwortet:

Dieser einzige, auf einen faktischen Charakter Anspruch erhebende Vorwurf der ,Iskra' ist vollkommen unbegründet. Die Leser des ,Rabotscheje wissen sehr gut, dass wir von Anfang an, ohne das Erscheinen der „Iskra“ abzuwarten, nicht nur zur politischen Agitation aufgerufen haben…"

wobei gesagt war, dass nicht nur die Arbeiter-Zirkel, sondern „auch die Massenbewegung der Arbeiter sich nicht den Sturz des Absolutismus zur ersten politischen Aufgabe machen könne", sondern nur den Kampf um die nächsten politischen Forderungen, und dass „die nächsten politischen Forderungen den Massen nach einem oder, im äußersten Falle, nach mehreren Streiks zugänglich werden")

sondern auch den in Russland tätigen Genossen durch unsere Schriften einzige sozialdemokratische politische Agitationsmaterial des Auslandes zugänglich machten" …

wobei ihr in diesem einzigen Material nicht nur am weitestgehenden die politische Agitation ausschließlich auf dem Boden es ökonomischen Kampfes angewandt habt, sondern schließlich auch zu der Behauptung gelangt seid, diese eng begrenzte Agitation sei „das weitest anwendbare Mittel". Und ihr merkt nicht, ihr Herren, dass es gerade eure Argumentation ist, die die Notwendigkeit des Erscheinens der „Iskra" – in Anbetracht eines solchen einzigen Materials – und die Notwendigkeit des Kampfes der „Iskra" gegen das „Rabotscheje Djelo" beweist?)

Andererseits hat unsere Verlagstätigkeit die taktische Einheit der Partei sächlich vorbereitet" …

Die Einheit der Überzeugung, dass die Taktik der Prozess des Wachstums der Parteiaufgaben ist, die zusammen mit der Partei gewachsen? Eine wertvolle Einheit!)

und damit die Möglichkeit einer ,Kampforganisation', zu deren Schaffung er Auslandsbund überhaupt alles der Auslandsorganisation Zugängliche getan hat" (Rabotscheje Djelo" Nr. 10, S. 15).

Ein vergeblicher Versuch, euch herauszureden! Dass ihr alles euch Zugängliche getan habt, daran habe ich nie gezweifelt. Ich behauptete und behaupte, dass die Grenzen des euch „Zugänglichen" beschränkt sind durch die Kurzsichtigkeit eurer Auffassung. Es ist lächerlich, von einer „Kampforganisation" zum Kampfe um die „nächsten politischen Forderungen" oder zum „ökonomischen Kampf gegen die Unternehmer und die Regierung" zu sprechen2.

Wenn aber der Leser die Perlen der „ökonomistischen" Verliebtheit in die Handwerklerei sehen will, so muss er sich von dem eklektischen und schwankenden „Rabotscheje Djelo" der konsequenten und entschlossenen „Rabotschaja Mysl" zuwenden.

Jetzt einige Worte über die sogenannte revolutionäre Intelligenz“ – schrieb R. M. in der .Sonderbeilage', S. 13 –, „sie hat zwar verschiedentlich ihre absolute Bereitschaft gezeigt, ,dem Zarismus eine entscheidende Schlacht zu liefern'. Das ganze Übel besteht nur darin, dass unsere revolutionäre Intelligenz, die von der politischen Polizei rücksichtslos verfolgt wird, den Kampf gegen diese politische Polizei für den politischen Kampf gegen den Absolutismus hält. Darum bleibt für sie bis heute noch die Frage ungeklärt, ,woher die Kräfte nehmen für den Kampf gegen den Absolutismus'?"

Ist diese wunderbare Geringschätzung des Kampfes gegen die Polizei durch einen Verehrer (Verehrer im schlechten Sinne) der spontanen Bewegung nicht köstlich? Unsere konspirative Unbeholfenheit ist er bereit, dadurch zu rechtfertigen, dass – angesichts der vorhandenen spontanen Massenbewegung – der Kampf gegen die politische Polizei für uns eigentlich gar nicht wichtig sei!! Diese ungeheuerliche Schlussfolgerung werden nur ganz wenige unterschreiben: so brennend steht jetzt für alle die Frage der Mängel unserer revolutionären Organisationen. Aber wenn zum Beispiel Martynow sie nicht unterschreiben wird, so nur, weil er es nicht versteht oder weil er nicht den Mut hat, seine Behauptungen zu Ende zu denken. In der Tat, verlangt denn eine solche „Aufgabe", wie die Aufstellung konkreter, greifbare Resultate verheißender Forderungen durch die Masse, die Gründung einer festen, zentralisierten Kampforganisation der Revolutionäre? Wird denn diese „Aufgäbe" nicht auch von einer Masse erfüllt, die gar nicht „gegen die politische Polizei kämpft?" Mehr als das: wäre diese Aufgabe erfüllbar, wenn nicht neben den wenigen Führern auch (und zwar in übergroßer Mehrheit) Arbeiter an sie herangingen, die gar nicht fähig sind, „gegen die politische Polizei zu kämpfen"? Solche Arbeiter, Durchschnittsmenschen aus der Masse, sind fähig, eine ungeheure Energie und großen Opfermut in einem Streik, im Straßenkampf gegen Polizei und Militär an den Tag zu legen, sie sind fähig (und nur sie allein können es), den Ausgang unserer ganzen Bewegung zu entscheiden, – aber gerade der Kampf gegen die politische Polizei erfordert besondere Eigenschaften, erfordert Berufsrevolutionäre. Und wir müssen nicht nur dafür sorgen, dass die Masse konkrete Forderungen aufstellt, sondern auch dafür, dass die Masse der Arbeiter in immer größerer Zahl solche Berufsrevolutionäre aus ihrer Mitte hervorbringt. Wir sind so zur Frage der Wechselbeziehung zwischen der Organisation der Berufsrevolutionäre und der reinen Arbeiterbewegung gelangt. Diese Frage, die in der Literatur einen geringen Widerhall gefunden hat, hat uns „Politiker" in unseren Gesprächen und Diskussionen mit mehr oder weniger zum Ökonomismus neigenden Genossen viel beschäftigt. Es lohnt, auf sie besonders einzugehen. Zunächst aber wollen wir unsere Behauptung, dass zwischen dem Ökonomismus und der Handwerklerei ein Zusammenhang besteht, durch ein weiteres Zitat beleuchten.

Die Gruppe der ,Befreiung der Arbeit' – schrieb Herr N. N. in seiner Antwort' – fordert den offenen Kampf gegen die Regierung, ohne zu überlegen, wo die materiellen Kräfte für diesen Kampf vorhanden sind, und ohne zu zeigen, welches seine Wege sind."

Und die letzten Worte unterstreichend, macht der Verfasser zum Wort „Wege" folgende Bemerkung:

Diesen Umstand können wir nicht durch konspirative Ziele erklären, da im Programm nicht von einer Verschwörung, sondern von einer Massenbewegung die Rede ist. Die Masse aber kann nicht geheime Wege gehen. Ist etwa ein geheimer Streik möglich? Ist eine geheime Demonstration oder Petition möglich?" („Vademecum", S. 59).

Der Verfasser ist auch bis hart an die Frage dieser „materiellen Kraft" (der Veranstalter von Streiks und Demonstrationen) und der „Wege" des Kampfes herangetreten, aber er erwies sich dabei doch in starker Verlegenheit, denn er „beugt das Knie" vor der Massenbewegung, d. h. er betrachtet sie als etwas, was uns von unserer revolutionären Aktivität befreit, und nicht als etwas, was unsere revolutionäre Aktivität aufmuntern und anspornen soll. Ein geheimer Streik ist für die Teilnehmer und alle mit ihm unmittelbar in Berührung stehenden Personen unmöglich. Aber für die Masse der russischen Arbeiter kann dieser Streik ein „Geheimnis" bleiben (und meistens bleibt er das auch), denn die Regierung wird dafür sorgen, dass jede Beziehung zu den Streikenden unterbunden, jede Verbreitung von Mitteilungen über den Streik unmöglich gemacht wird. Hier ist schon ein spezieller „Kampf gegen die politische Polizei" notwendig, ein Kampf, der nie von einer so breiten Masse, wie sie an Streiks teilnimmt, aktiv geführt werden kann. Dieser Kampf muss „nach allen Regeln der Kunst" von Leuten organisiert werden, die berufsmäßig eine revolutionäre Tätigkeit ausüben. Die Organisierung dieses Kampfes ist nicht weniger notwendig geworden, weil die Masse spontan in die Bewegung hineingezogen wird. Im Gegenteil, dadurch wird die Organisation noch notwendiger, denn wir Sozialisten würden unsere direkten Pflichten der Masse gegenüber nicht erfüllen, wenn wir es nicht verstünden, die Polizei daran zu hindern, aus jedem Streik und jeder Manifestation ein Geheimnis zu machen (und manchmal sie nicht selber geheim vorbereiteten). Wir sind aber imstande, das zu verstehen, weil die spontan erwachende Masse auch aus ihrer Mitte in immer größerer und größerer Zahl „Berufsrevolutionäre" hervorbringen wird (wenn es uns nicht einfallen wird, die Arbeiter in jeder Weise dazu auffordern, auf der Stelle zu treten).

c) Organisation der Arbeiter und Organisation der Revolutionäre

Wenn der Begriff des politischen Kampfes sich für einen Sozialdemokraten deckt mit dem Begriff des „ökonomischen Kampfes gegen die Unternehmer und die Regierung", so ist natürlich zu erwarten, dass der Begriff der „Organisation der Revolutionäre" sich für ihn mehr oder weniger decken wird mit dem Begriff: „Organisation der Arbeiter". Und das geschieht tatsächlich, so dass es sich erweist, dass wir verschiedene Sprachen sprechen, wenn wir über Organisation reden. Ich erinnere mich zum Beispiel, als wäre es heute gewesen, an das Gespräch mit einem ziemlich konsequenten Ökonomisten, den ich früher nicht gekannt hatte3. Das Gespräch kam auf die Broschüre: „Wer wird die politische Revolution vollbringen?", und wir waren uns sehr bald darüber einig, dass ihr Hauptfehler die Vernachlässigung der Frage der Organisation sei. Wir bildeten uns schon ein, miteinander vollkommen einig zu sein, aber … das Gespräch geht weiter, und es stellt sich heraus, dass wir von verschiedenen Dingen sprechen. Während der Genosse den Verfasser beschuldigte, die Streikkassen, Unterstützungskassen usw. vernachlässigt zu haben, hatte ich die Organisation der Revolutionäre im Auge, die notwendig ist, um die politische Revolution zu „vollbringen". Und kaum war diese Meinungsverschiedenheit zutage getreten, da war, soweit ich mich erinnern kann, in keiner einzigen prinzipiellen Frage mehr eine Verständigung mit diesem Ökonomisten zu erzielen!

Worin bestand der Ursprung unserer Meinungsverschiedenheiten? Nun, gerade darin, dass die Ökonomisten ständig vom Sozialdemokratismus in den Trade-Unionismus verfallen, und zwar sowohl in organisatorischen wie in politischen Fragen. Der politische Kampf der Sozialdemokratie ist viel umfassender und komplizierter als der ökonomische Kampf der Arbeiter gegen die Unternehmer und die Regierung. Genau so (und infolgedessen) muss die Organisation der revolutionären sozialdemokratischen Partei unvermeidlich anderer Art sein als die Organisation der Arbeiter für einen solchen Kampf. Die Organisation der Arbeiter muss erstens eine gewerkschaftliche sein; zweitens muss sie möglichst umfassend sein; drittens muss sie möglichst wenig konspirativ sein (ich spreche natürlich hier und weiter unten nur vom absolutistischen Russland). Die Organisation der Revolutionäre dagegen muss vor allem und hauptsächlich Leute erfassen, deren Beruf die revolutionäre Tätigkeit ist (darum spreche ich auch von der Organisation der Revolutionäre, wobei ich die revolutionären Sozialdemokraten im Auge habe). Vor diesem allgemeinen Merkmal der Mitglieder einer solchen Organisation muss jeder Unterschied zwischen Arbeitern und Intellektuellen vollkommen verschwinden, ganz zu schweigen vom Unterschied der Berufe der einen und der anderen. Diese Organisation darf keine sehr breite und muss eine möglichst konspirative sein. Gehen wir auf diesen dreifachen Unterschied näher ein.

In Ländern mit politischer Freiheit ist der Unterschied zwischen der gewerkschaftlichen und der politischen Organisation vollkommen klar, wie auch der Unterschied zwischen den Trade Unions und der Sozialdemokratie klar ist. Die Beziehungen der letzteren zu den ersteren gestalten sich natürlich in den verschiedenen Ländern verschieden – je nach den historischen, rechtlichen und sonstigen Bedingungen –, sie können mehr oder weniger eng, kompliziert usw. sein (von unserem Standpunkt aus müssen sie möglichst eng und möglichst unkompliziert sein), aber von einer Identität der Organisation der Gewerkschaften und der Organisation der Sozialdemokratischen Partei kann in freien Ländern nicht die Rede sein. In Russland aber wird auf den ersten Blick durch den Druck des Absolutismus jeder Unterschied zwischen der sozialdemokratischen Organisation und dem Arbeiterverband verwischt, da alle Arbeiterverbände und alle Zirkel verboten sind, und da die wichtigste Erscheinung und das wichtigste Werkzeug des wirtschaftlichen Kampfes der Arbeiter – der Streik – überhaupt als Kriminalverbrechen (und mitunter sogar als politisches Verbrechen!) gilt. So kommt es, dass unsere Verhältnisse einerseits die Arbeiter, die einen ökonomischen Kampf führen, auf politische Fragen „stoßen" und anderseits die Sozialdemokraten zu einer Verwechslung von Trade-Unionismus und Sozialdemokratismus „stoßen" (auch unsere Kritschewskis, Martynows und Co., die mit besonderem Eifer über dieses „Stoßen" erster Art reden, merken nicht das „Stoßen" zweiter Art). In der Tat, man stelle sich die Leute vor, die zu 99 Prozent vom „ökonomischen Kampf gegen die Unternehmer und die Regierung" absorbiert sind. Die einen von ihnen werden im Verlaufe der ganzen Zeit ihrer Tätigkeit (4 bis 6 Monate) kein einziges Mal auf die Frage der Notwendigkeit einer komplizierteren Organisation der Revolutionäre stoßen; die anderen werden vielleicht auf die verhältnismäßig verbreitete Bernsteinsche Literatur „stoßen", aus der sie die Überzeugung von der großen Wichtigkeit des „fortschreitenden Ganges des grauen Tageskampfes" schöpfen werden. Die dritten schließlich werden sich vielleicht für die verführerische Idee begeistern, der Welt ein neues Vorbild der „engen und organischen Verbindung mit dem proletarischen Kampf", der Verbindung zwischen der gewerkschaftlichen und der sozialdemokratischen Bewegung, zu zeigen. Je später ein Land die Arena des Kapitalismus und folglich auch der Arbeiterbewegung betritt – können solche Leute argumentieren –, um so eher können die Sozialisten an der Gewerkschaftsbewegung teilnehmen und sie unterstützen, um so weniger nicht-sozialdemokratische Gewerkschaften kann und darf es geben. Bis hierher ist diese Betrachtung absolut richtig, das Schlimme ist aber nur, dass man noch weiter geht und von einer vollständigen Verschmelzung des Sozialdemokratismus mit dem Trade-Unionismus träumt. Wir werden bald am Beispiel des Statuts des Petersburger Kampfbundes sehen, wie schädlich solche Träumereien auf unsere Organisationspläne einwirken.

Die Organisationen der Arbeiter für den ökonomischen Kampf müssen gewerkschaftliche Organisationen sein. Jeder sozialdemokratische Arbeiter hat diese Organisationen nach Möglichkeit zu unterstützen und aktiv in ihnen zu arbeiten. Das ist richtig. Es liegt aber absolut nicht in unserem Interesse, zu fordern, dass nur Sozialdemokraten Mitglieder der „Gewerk"vereine sein dürfen: das würde den Umfang unseres Einflusses auf die Massen einschränken. Mag am Gewerkverein jeder Arbeiter teilnehmen, der die Notwendigkeit des Zusammenschlusses zum Kampfe gegen die Unternehmer und die Regierung begriffen hat. Das Ziel der Gewerkvereine selbst wäre gar nicht zu erreichen, wenn sie nicht alle Arbeiter zusammenfassten, denen, sei es auch nur diese eine elementare Stufe der Erkenntnis, zugänglich ist, wenn diese Gewerkvereine nicht sehr breite Organisationen wären. Und je breiter diese Organisationen sind, um so größer wird unser Einfluss auf sie sein, der Einfluss, den nicht nur die „spontane" Entwicklung des ökonomischen Kampfes ausübt, sondern auch die direkte, zielbewusste Einwirkung der sozialistischen Mitglieder des Verbandes auf ihre Kollegen. Aber bei einer breiten Zusammensetzung der Organisation ist eine strenge Konspiration unmöglich (die eine viel größere Schulung erfordert als die Teilnahme am ökonomischen Kampf). Wie ist dieser Widerspruch zwischen der Notwendigkeit einer breiten Zusammensetzung und einer strengen Konspiration zu beheben? Wie ist es zu erreichen, dass die Gewerksorganisationen möglichst wenig konspirativ sind? Dafür kann es, allgemein gesprochen, nur zwei Wege geben: entweder die Legalisierung der Fachverbände (die in verschiedenen Ländern der Legalisierung der sozialistischen und der politischen Vereinigungen voranging) oder die Aufrechterhaltung der Geheimorganisation, die aber so „frei", so wenig festgefügt, so lose4 wäre, wie die Deutschen zu sagen pflegen, dass die Konspiration für die Masse der Mitglieder fast gleich Null wäre.

Die Legalisierung der nicht-sozialistischen und nicht-politischen Arbeiterverbände hat in Russland bereits begonnen, und es kann keinem Zweifel unterliegen, dass jeder Schritt unserer rasch anwachsenden sozialdemokratischen Arbeiterbewegung die Versuche dieser Legalisierung mehren und fördern wird, – die Versuche, die hauptsächlich von den Anhängern der bestehenden Gesellschaftsordnung, zum Teil aber auch von den Arbeitern selber und der liberalen Intelligenz ausgehen. Das Banner der Legalisierung ist bereits von den Wassiljew und Subatow gehisst worden, die Herren Oserow und Worms haben ihre Unterstützung angesagt und sie gewährt, und auch unter den Arbeitern gibt es bereits Anhänger der neuen Richtung. Und wir sind von nun ab gezwungen, dieser Richtung unsere Beachtung zu schenken. In welcher Weise das geschehen soll, – darüber kann es unter Sozialdemokraten wohl kaum zwei Meinungen geben. Wir sind verpflichtet, unentwegt jede Teilnahme der Subatow und Wassiljew, der Gendarmen und Popen an dieser Bewegung zu entlarven und die Arbeiter über die wahren Absichten dieser Herren aufzuklären. Wir sind auch verpflichtet, jede versöhnliche Note der „Harmonieduselei", die in den Reden der liberalen Politiker in öffentlichen Arbeiterversammlungen durchklingen wird, aufzuzeigen, – einerlei ob sie diese Töne anschlagen, weil sie aufrichtig überzeugt sind von der Notwendigkeit einer friedlichen Arbeitsgemeinschaft der Klassen oder weil sie sich bei den Behörden beliebt machen wollen, oder auch nur, weil sie einfach ungeschickt sind. Wir sind schließlich verpflichtet, die Arbeiter vor der Falle zu warnen, die ihnen oft von der Polizei gestellt wird, die sich in diesen öffentlichen Versammlungen und polizeilich genehmigten Vereinen „Leute mit Verstand" heraussucht und den Versuch macht, mit Hilfe der legalen Organisationen ihre Lockspitzel auch in die illegalen Organisationen hineinzubringen.

Aber all das tun, heißt noch keineswegs vergessen, dass die Legalisierung der Arbeiterbewegung letzten Endes für uns, und nicht für die Subatow von Nutzen sein wird. Im Gegenteil, gerade durch unsere Enthüllungskampagne trennen wir den Weizen von der Spreu. Auf die Spreu halben wir bereits hingewiesen. Der Weizen, – das ist das Interesse noch breiterer und der rückständigsten Arbeiterschichten für soziale und politische Fragen, das ist die Befreiung der Revolutionäre von solchen Funktionen, die ihrem Wesen nach legal sind (Verbreitung von legalen Schriften, gegenseitige Hilfe usw.) und deren Entfaltung uns immer mehr Agitationsmaterial liefern muss. In diesem Sinne können und müssen wir den Subatow und den Oserow sagen: Arbeitet nur, ihr Herren, arbeitet nur! Soweit ihr den Arbeitern eine Falle stellt (durch direkte Provokation oder durch „ehrliche" Korruption der Arbeiter mit Hilfe des „Struvismus"), – werden wir schon für eure Entlarvung sorgen. Soweit ihr einen wirklichen Schritt vorwärts tut, – wenn auch nur in der Form eines schüchternen „Zickzacks", aber immerhin einen Schritt vorwärts, – werden wir sagen: bitte sehr! Ein wirklicher Schritt vorwärts kann nur eine tatsächliche, wenn auch nur ganz winzige Erweiterung der Freiheit für die Arbeiter sein. Und eine jede solche Erweiterung wird für uns von Nutzen sein und die Entstehung legaler Vereine beschleunigen, in denen nicht die Lockspitzel Sozialisten fangen, wohl aber die Sozialisten Anhänger gewinnen werden. Mit einem Worte, unsere Sache ist es jetzt, gegen das Unkraut zu kämpfen. Es ist nicht unsere Sache, in Blumentöpfen Weizen zu ziehen. Indem wir das Unkraut entfernen, säubern wir den Boden für den Weizensamen. Während die Afanassij Iwanitsch und Pulcheria Iwanowna ihre Zimmerpflanzen ziehen, müssen wir Schnitter vorbereiten, die imstande wären, heute Unkraut zu jäten und morgen Weizen zu ernten.E

Mit Hilfe der Legalisierung können wir also die Frage der Schaffung einer möglichst wenig konspirativen und möglichst umfassenden Gewerkschaftsorganisation nicht lösen (aber wir wären sehr froh, wenn die Subatow und Oserow uns wenigstens zum Teil die Möglichkeit einer solchen Lösung eröffneten, – dazu aber müssen wir sie möglichst energisch bekämpfen!). Es bleibt also der Weg der geheimen Gewerkschaftsorganisationen, und wir müssen die Arbeiter, die (wie wir genau wissen) diesen Weg bereits beschreiten, in jeder Weise unterstützen. Die Gewerkschaftsorganisationen können nicht nur von größtem Nutzen sein für die Entwicklung und die Festigung des ökonomischen Kampfes, sie können auch zu einem sehr wichtigen Hilfsmittel für die politische Agitation und die revolutionäre Organisation werden. Um dieses Resultat zu erreichen, um die beginnende Gewerkschaftsbewegung in ein für die Sozialdemokratie erwünschtes Fahrwasser zu lenken, muss man sich vor allem im Klaren sein über die Unsinnigkeit des Organisationsplanes, mit dem sich die Petersburger Ökonomisten nun schon seit fast fünf Jahren herumtragen! Dieser Plan ist dargelegt im „Statut der Arbeiterkasse" vom Juli 1897 („Listok Rabotschewo", Nr. 9 u. 10, S. 46 aus „Rabotschaja Mysl", Nr. 1) und im „Statut der Kampfbund-Arbeiterorganisation" vom Oktober 1900 (besonderes Flugblatt, gedruckt in Petersburg und zitiert in Nr. 1 der „Iskra"). Der Hauptfehler dieser beiden Statuten liegt in der detaillierten Beschreibung der breiten Arbeiterorganisation und deren Verwechslung mit der Organisation der Revolutionäre. Betrachten wir das zweite Statut, das besser durchgearbeitet ist. Sein Rumpf besteht aus zweiundfünfzig Paragraphen: in 23 Paragraphen werden der Aufbau, die Ordnung der Geschäftsführung und die Kompetenzgrenzen der „Arbeiterzirkel" dargelegt, die in jedem Betrieb einzurichten sind („nicht mehr als zehn Mann") und die „zentrale (Betriebs-)Gruppen" zu wählen haben. „Die zentrale Gruppe – lautet § 2 – verfolgt alles, was in ihrer Fabrik oder ihrem Betriebe geschieht, und führt eine Chronik dieser Ereignisse." „Die zentrale Gruppe erstattet monatlich Bericht an alle Mitglieder über den Stand der Kasse" (§ 17) usw. Zehn Paragraphen sind der „Bezirksorganisation" gewidmet und neunzehn der äußerst komplizierten Verflechtung des „Komitees der Arbeiterorganisation" mit dem „Komitee des Petersburger Kampfbundes" (gewählt aus jedem Bezirk und von den „Vollzugsgruppen" – „den Propagandistengruppen, den Gruppen zur Aufrechterhaltung der Verbindung mit der Provinz, mit dem Ausland, zur Verwaltung der Lagerräume des Verlages, der Kasse").

Die Sozialdemokratie = „Vollzugsgruppen" für den ökonomischen Kampf der Arbeiter! Man könnte wohl kaum plastischer zeigen, wie die Gedanken des Ökonomisten vom Weg des Sozialdemokratismus abirren und auf den Weg des Trade-Unionismus geraten, wie er absolut keine Vorstellung davon hat, was der Sozialdemokrat vor allem von der Organisation der Revolutionäre zu denken hat, die fähig wären, den gesamten Befreiungskampf des Proletariats zu leiten. Von der „politischen Befreiung der Arbeiterklasse", vom Kampfe gegen die „Zarenwillkür" reden und solche Organisationsstatuten verfassen, heißt keinen Begriff haben von den wirklichen politischen Aufgaben der Sozialdemokratie. Kein einziger der über 50 Paragraphen zeigt auch nur einen Schimmer von Verständnis dafür, dass die breiteste politische Agitation in den Massen notwendig ist, eine Agitation, die alle Seiten des russischen Absolutismus, das ganze Wesen der verschiedenen Gesellschaftsklassen in Russland beleuchtet. Aber nicht nur politische, auch trade-unionistische Ziele lassen sich mit solchen Statuten nicht durchführen, denn sie erfordern eine Organisation nach Berufen, die nicht einmal erwähnt wird.

Am charakteristischsten ist wohl aber die auffallende Schwerfälligkeit dieses ganzen „Systems", das versucht, jede einzelne Fabrik mit dem „Komitee" durch ein beständiges Band einförmiger und geradezu lächerlich kleinlicher Regeln, auf Grund eines dreistufigen Wahlsystems zu verbinden. Eingeschnürt in den engen Gesichtskreis des Ökonomismus verfällt der Gedanke hier in Einzelheiten, die nach Kanzleischimmel riechen. In Wirklichkeit werden natürlich dreiviertel von all diesen Paragraphen nie angewandt werden, dagegen aber wird es durch eine solche „konspirative" Organisation mit einer Zentralgruppe in jedem Betrieb den Gendarmen sehr leicht gemacht, Massenverhaftungen vorzunehmen. Die polnischen Genossen haben bereits eine solche Periode der Bewegung durchgemacht, in der sich alles für eine breit angelegte Gründung von Arbeiterkassen begeisterte, aber sie gaben sehr bald diese Idee auf, da sie sich überzeugen mussten, dass sie nur den Gendarmen eine reiche Ernte ermöglichten. Wenn wir breite Arbeiterorganisationen wünschen, aber keine Massenverhaftungen wollen, wenn uns nichts daran liegt, den Gendarmen Vergnügen zu bereiten, so müssen wir danach streben, diesen Organisationen nur eine ganz lose Form zu geben. Werden sie dann funktionieren können? – Man sehe sich diese Funktionen an: „… Alles verfolgen, was in der Fabrik geschieht, und eine Chronik dieser Ereignisse führen" (§ 2 des Statuts). Muss das tatsächlich eine feste Form erhalten? Kann das nicht noch besser erreicht werden durch Korrespondenzen an die illegalen Zeitungen, ohne jede Bildung von besonderen Gruppen zu diesem Zweck? „… Den Kampf der Arbeiter um die Verbesserung ihrer Lage im Betriebe leiten" (§ 3 des Statuts). Auch hier ist die feste Form überflüssig. Welche Forderungen die Arbeiter aufstellen wollen, kann jeder einigermaßen tüchtige Agitator aus einer einfachen Unterhaltung genau erfahren, um es dann an die enge – und nicht breite – Organisation der Revolutionäre weiterzuleiten, die ihm das entsprechende Flugblatt liefert. „… Eine Kasse organisieren … mit einem Zweikopekenbeitrag pro Rubel" (§9) – und dann monatlich Bericht über die Kasse erstatten (§ 17), die nichtzahlenden Mitglieder ausschließen (§ 10) usw. Das ist für die Polizei geradezu ein Paradies, denn nichts ist leichter, als in diese ganze Konspiration der „Zentralen Betriebskasse" einzudringen, das Geld zu beschlagnahmen und die besten Leute zu verhaften. Wäre es nicht einfacher, Einkopeken- oder Zweikopeken-Marken mit dem Stempel der bekannten (sehr engen und sehr konspirativen) Organisation auszugeben, oder ganz ohne Marken Sammlungen zu veranstalten, über die das illegale Blatt unter einer bestimmten verabredeten Parole Berichte veröffentlicht? Das gleiche Ziel wird erreicht werden, den Gendarmen aber wird es hundertmal schwerer gemacht werden, alle Fäden aufzufinden.

Ich könnte die Analyse des Statuts noch weiter fortsetzen, glaube aber, dass das Gesagte genügt. Ein kleiner festgefügter Kern der zuverlässigsten, erfahrensten und gestähltesten Arbeiter, der in den Hauptbezirken seine Vertrauensleute hat und der nach allen Regeln der strengsten Konspiration mit der Organisation der Revolutionäre verbunden ist, kann unter breitester Mitwirkung der Masse und ohne feste Form sämtliche Funktionen durchaus erfüllen, die der Gewerkschaftsorganisation obliegen, und zwar so erfüllen, wie es für die Sozialdemokratie erwünscht ist. Nur auf diesem Wege kann, allen Gendarmen zum Trotz, eine Festigung und Entfaltung der sozialdemokratischen Gewerkschaftsbewegung erreicht werden.

Man wird mir erwidern: eine Organisation, die so lose5 ist, dass sie überhaupt keine Form hat, dass sie nicht einmal eine eingetragene und registrierte Mitgliedschaft besitzt, kann überhaupt nicht als Organisation bezeichnet werden. Mag sein. Ich bestehe nicht auf den Namen. Aber alles, was notwendig ist, wird diese „Organisation ohne Mitglieder" tun, und sie wird von Anfang an eine feste Verbindung unserer künftigen Gewerkschaften mit dem Sozialismus sichern. Wer aber unter dem Absolutismus eine breite Arbeiterorganisation mit Wahlen, Berichten, allgemeinen Abstimmungen usw. haben will, – der ist einfach ein unverbesserlicher Utopist.

Es ergibt sich hieraus die einfache Moral: wenn wir mit einer starken Organisation der Revolutionäre beginnen, so werden wir die Widerstandsfähigkeit der Bewegung als Ganzes sichern und sowohl die sozialdemokratischen als auch die gewerkschaftlichen Ziele verwirklichen können. Beginnen wir aber mit der der Masse angeblich „zugänglichsten" breiten Arbeiterorganisation (die aber in Wirklichkeit den Gendarmen am zugänglichsten ist und die Revolutionäre der Polizei am zugänglichsten macht), so werden wir weder diese noch jene Ziele verwirklichen, werden uns von der Handwerklerei in unserer Arbeit nie frei machen und durch unsere Zersplitterung, durch unsere ewigen Niederlagen nur dazu beitragen, dass die Gewerkschaften vom Schlage der Subatowschen oder der Oserowschen den Massen am zugänglichsten werden.

Worin sollen nun eigentlich die Funktionen dieser Organisation der Revolutionäre bestehen? Darüber wollen wir gleich ausführlicher sprechen. Betrachten wir aber zunächst noch eine sehr typische Ausführung unseres Terroristen, der sich wiederum (welch trauriges Schicksal!) in nächster Nachbarschaft mit dem Ökonomisten befindet. Im Arbeiterblatt „Swoboda" (Nr. 1) ist ein Artikel unter dem Titel „Die Organisation" veröffentlicht, dessen Verfasser seine Bekannten, die ökonomistischen Arbeiter aus Iwanowo-Wosnessensk, in Schutz nehmen will.

Es ist schlimm“ – schreibt er –, „wenn die Menge stumm, unbewusst ist, wenn die Bewegung nicht von unten kommt. Man sehe: die Studenten verlassen die Universitätsstädte und gehen für die Feiertage oder die Sommerferien nach Hause – und die Arbeiterbewegung steht still. Kann eine solche Arbeiterbewegung, die einen Anstoß von außen braucht, eine wirkliche Kraft darstellen? Keine Spur… Sie hat noch nicht gelernt, auf eigenen Füßen zu stehen, sie wird noch am Gängelband geführt. Und so ist es in allem: die Studenten sind fort – und alles steht still; man hat die begabtesten herausgegriffen, den Rahm abgeschöpft – und die Milch wird sauer; das ,Komitee' ist verhaftet, und bis ein neues zustande kommt, tritt wieder Stillstand ein; und wer weiß, was für ein Komitee zustande kommt, vielleicht wird es dem bisherigen absolut nicht ähnlich sehen: jenes hat so gesagt, dieses wird das Gegenteil sagen. Der Zusammenhang zwischen gestern und heute geht verloren, die Erfahrung der Vergangenheit wird für die Zukunft nicht ausgenutzt. Und all das nur, weil es an Wurzeln in der Tiefe, in der Masse fehlt; nicht hundert Dummköpfe sind am Werk, sondern zehn Kluge. Zehn können immer abgefangen werden, aber wenn die Organisation die Masse erfasst, dann kommt alles aus der Masse, – und kein Diensteifer ist dann imstande, die Sache zu zerstören." (S. 63.)

Die Tatsachen sind richtig geschildert. Das Bild unserer Handwerklerei ist nicht übel. Aber die Schlussfolgerungen sind der „Rabotschaja Mysl" würdig, sowohl hinsichtlich ihrer Unvernunft als auch ihrer politischen Taktlosigkeit. Sie sind der Gipfel der Unvernunft, denn der Verfasser verwechselt die philosophische und die sozialhistorische Frage der „Wurzeln" der Bewegung in der „Tiefe" mit der technisch-organisatorischen Frage eines besseren Kampfes gegen die Gendarmen. Sie sind der Gipfel der politischen Taktlosigkeit, denn anstatt sich von schlechten Führern abzuwenden und an die guten Führer zu appellieren, wendet sich der Verfasser von den Führern überhaupt ab und appelliert an die „Masse". Das ist ebenso ein Versuch, uns in organisatorischer Beziehung wieder zurückzuwerfen, wie in politischer Beziehung der Gedanke, der die politische Agitation durch exzitierenden Terror ersetzen will. Ich empfinde wahrhaftig ein embarras de richesses6, da ich nicht weiß, womit ich die Analyse dieses Durcheinanders, das uns die „Swoboda" auftischt, beginnen soll. Der Anschaulichkeit halber will ich versuchen, mit einem Beispiel zu beginnen. Man nehme die Deutschen. Man wird doch wohl nicht leugnen können, dass ihre Organisation die Masse erfasst, dass alles von der Masse ausgeht, dass die Arbeiterbewegung gelernt hat, auf eigenen Füßen zu stehen? Und wie versteht diese millionenköpfige Masse es trotzdem, ihre „zehn" bewährten politischen Führer zu schätzen, wie geschlossen steht sie hinter ihnen! Im Parlament ist es wiederholt vorgekommen, dass die Abgeordneten feindlicher Parteien die Sozialisten verhöhnten: „Schöne Demokraten seid ihr! Nur in Worten habt ihr eine Bewegung der Arbeiterklasse, in Wirklichkeit aber tritt immer dieselbe Führergesellschaft auf. Derselbe Bebel, derselbe Liebknecht, jahraus, jahrein, von einem Jahrzehnt zum anderen. Eure angeblich gewählten Arbeiterdelegierten sind noch weniger absetzbar als die vom Kaiser eingesetzten Beamten!" Aber die Deutschen hatten nur ein verächtliches Lächeln für diese demagogischen Versuche, die „Masse" gegen die „Führer" auszuspielen, in der Masse schlechte und eitle Instinkte auszulösen, der Bewegung ihre Widerstandsfähigkeit und Festigkeit durch Untergraben des Vertrauens der Masse zu den „zehn Klugen" zu rauben. Das politische Denken der Deutschen ist schon genügend entwickelt, sie haben genug politische Erfahrung gesammelt, um zu verstehen, dass ohne „zehn" talentvolle (Talente aber kommen nicht zu Hunderten zur Welt), bewährte, beruflich durchgebildete und langjährig geschulte Führer, die ausgezeichnet aufeinander eingestellt sind, es in der modernen Gesellschaft keinen zähen Kampf irgendeiner Klasse geben kann. Die Deutschen haben auch in ihrer Mitte Demagogen gesehen, die den „hundert Dummköpfen" schmeichelten, indem sie sie über die „zehn Klugen" stellten, die der „schwieligen Faust" der Masse schmeichelten, sie (wie Most oder Hasselmann) zu unüberlegten „revolutionären" Aktionen anstachelten und Misstrauen gegen die bewährten und standhaften Führer säten. Und nur dank dem unentwegten und unversöhnlichen Kampf gegen alle demagogischen Elemente innerhalb des Sozialismus ist der deutsche Sozialismus so gewachsen und erstarkt, zu einer Zeit, wo die ganze Krise der russischen Sozialdemokratie daraus zu erklären ist, dass die spontan erwachten Massen keine genügend geschulten, durchgebildeten und erfahrenen Führer besitzen, verkünden unsere Neunmalklugen mit dem Scharfsinn des dummen Hans: „Es ist schlimm, wenn die Bewegung nicht von unten kommt!"

Ein Komitee aus Studenten taugt nichts, es ist nicht widerstandsfähig." – Sehr richtig. Aber hieraus muss der Schluss gezogen werden, dass man ein Komitee aus Berufsrevolutionären braucht, einerlei, ob es ein Student oder ein Arbeiter ist, der sich zum Berufsrevolutionär entwickelt. Ihr aber zieht den Schluss, der Arbeiterbewegung dürfe von außen kein Anstoß gegeben werden! In eurer politischen Einfalt merkt ihr nicht einmal, dass ihr damit unseren Ökonomisten und unserer Handwerklerei in die Hände spielt. Worin bestand, mit Verlaub zu fragen, der „Anstoß", den unsere Studenten unseren Arbeitern gegeben haben? Einzig und allein darin, dass der Student dem Arbeiter die Bruchstücke politischen Wissens übermittelte, die er selber besaß, die Brocken sozialistischer Ideen, die ihm zugefallen waren (denn die geistige Hauptnahrung des heutigen Studenten, der legale Marxismus, konnte ja nichts anderes gelben als das Abc, als Brocken). Dieser „Anstoß von außen" war nicht zu stark für unsere Bewegung, sondern im Gegenteil, zu schwach, unerhört, gewissenlos schwach, denn wir schmorten allzu eifrig im eigenen Fett, beteten allzu sklavisch den elementaren „ökonomischen Kampf der Arbeiter gegen die Unternehmer und die Regierung" an. Diesen „Anstoß" werden wir Berufsrevolutionäre in hundertmal stärkerem Maße geben müssen. Aber eben weil ihr ein so widerwärtiges Wort wählt, wie „Anstoß von außen", das unbedingt im Arbeiter (wenigstens im Arbeiter, der ebenso unentwickelt ist, wie ihr es seid) Misstrauen weckt gegen alle, die ihm politisches Wissen und revolutionäre Erfahrung von außen beibringen; das instinktiv den Wunsch hervorruft, allen diesen Leuten einen Widerstand entgegenzusetzen, – eben darum seid ihr Demagogen, die Demagogen aber sind die schlimmsten Feinde der Arbeiterklasse.

Ja, ja! Beeilt euch nicht, ein Geschrei zu erheben über die „unkameradschaftlichen Methoden" meiner Polemik! Ich denke gar nicht daran, die Lauterkeit eurer Absichten anzuzweifeln, ich habe schon gesagt, dass man auch nur aus politischer Naivität zum Demagogen werden kann. Aber ich habe gezeigt, dass ihr zur Demagogie herabgesunken seid. Und ich werde nie aufhören, zu wiederholen, dass die Demagogen die schlimmsten Feinde der Arbeiterklasse sind. Eben darum die schlimmsten, weil sie die niedrigsten Instinkte der Masse anstacheln, weil die rückständigen Arbeiter nicht fähig sind, diese Feinde richtig zu erkennen, die – manchmal aufrichtig – als ihre Freunde auftreten. Die schlimmsten, weil in einer Zeit der Zerfahrenheit und der Schwankungen, in einer Zeit, wo sich die Physiognomie unserer Bewegung erst herausbildet, nichts leichter ist, als demagogisch die Menge mitzureißen, die die bittersten Erfahrungen erst später von ihrem Irrtum überzeugen können. Darum muss für den russischen Sozialdemokraten von heute der energische Kampf sowohl gegen die zur Demagogie herabsinkende „Swoboda" als auch gegen das zur Demagogie herabsinkende „Rabotscheje Djelo" die Losung werden (hiervon wird weiter unten noch die Rede sein)F.

Zehn Kluge können leichter abgefangen werden als hundert Dummköpfe." Diese glänzende Wahrheit (für die euch stets hundert Dummköpfe Beifall spenden werden) erscheint nur darum selbstverständlich, weil ihr im Laufe eurer Ausführungen von einer Frage auf eine andere übergesprungen seid. Ihr habt begonnen, vom Abfangen des „Komitees", vom Abfangen der „Organisation" zu sprechen, und seid dann übergesprungen auf die Frage des Abfangens der „Wurzel" der Bewegung „in der Tieffe". Gewiss, unsere Bewegung lässt sich nur darum nicht abfangen, weil sie Tausende und aber Tausende von Wurzeln in der Tiefe hat, aber darum handelt es sich ja gar nicht. Im Sinne der „Wurzeln in der Tiefe" kann man uns auch jetzt nicht „abfangen", trotz unserer Handwerklerei, und dennoch klagen wir alle und müssen wir klagen über das Abfangen der „Organisationen", das jede Kontinuierlichkeit der Bewegung zerstört. Wenn ihr aber die Frage des Abfangens der Organisationen stellt und von ihr nicht abweicht, so will ich euch sagen, dass es viel schwieriger ist, zehn Kluge abzufangen als hundert Dummköpfe. Und ich werde diesen Grundsatz verteidigen, so sehr ihr die Masse gegen meinen „Antidemokratismus" usw. auch aufhetzen möget. Unter den „Klugen" sind, wie ich schon wiederholt betont habe, in organisatorischer Beziehung nur die Berufsrevolutionäre zu verstehen, einerlei, ob Studenten oder Arbeiter zu Berufsrevolutionären werden. Und ich behaupte: 1. dass keine einzige revolutionäre Bewegung ohne eine widerstandsfähige und die Kontinuität wahrende Führerorganisation von Dauer sein kann; 2. dass, je breiter die Masse ist, die spontan in den Kampf hineingezogen wird, die Grundlage der Bewegung bildet und an ihr teilnimmt, um so dringender die Notwendigkeit einer solchen Organisation ist, und um so fester diese Organisation sein muss (denn um so leichter wird es allerhand Demagogen fallen, die rückständigen Schichten der Masse mitzureißen); 3. dass eine solche Organisation hauptsächlich aus Leuten bestehen muss, die sich berufsmäßig mit revolutionärer Tätigkeit befassen; 4. dass es in einem absolutistischen Lande um so schwieriger sein wird, eine solche Organisation „abzufangen", je mehr wir die Mitgliedschaft so weit beschränken, dass nur noch Mitglieder übrigbleiben, die sich berufsmäßig revolutionär betätigen und die in der Kunst des Kampfes gegen die politische Polizei berufsmäßig geschult sind; und dass 5. um so breiter der Kreis der Personen, sowohl aus der Arbeiterklasse wie aus den übrigen Gesellschaftsklassen sein wird, die die Möglichkeit haben werden, an der Bewegung teilzunehmen und sich aktiv in ihr zu betätigen.

Ich schlage unseren Ökonomisten, Terroristen und „ökonomistischen Terroristen"G vor, diese Sätze, von denen ich die beiden letzteren gleich näher behandeln will, zu widerlegen. Die Frage, ob es leichter sei, „zehn Kluge" abzufangen als „hundert Dummköpfe", läuft hinaus auf die oben analysierte Frage, ob eine Massen Organisation möglich ist, wenn strengste Konspiration Not tut. Eine breite Organisation werden wir nie auf die konspirative Höhe bringen können, ohne die von einem zähen und kontinuierlich verlaufenden Kampf gegen die Regierung keine Rede sein kann. Die Konzentrierung aller konspirativen Funktionen in den Händen einer möglichst geringen Zahl von Berufsrevolutionären bedeutet keineswegs, dass die Berufsrevolutionäre „für alle denken werden", dass die Masse keinen tätigen Anteil an der Bewegung nehmen wird. Im Gegenteil, diese Berufsrevolutionäre werden in immer größerer Zahl aus der Masse hervorgehen, denn die Masse wird dann wissen, dass es nicht genügt, wenn sich ein paar Studenten und Arbeiter, die einen ökonomischen Kampf führen, zusammentun, um ein „Komitee" zu bilden, sondern dass es notwendig ist, sich durch jahrelange Arbeit zu einem Berufsrevolutionär emporzuarbeiten; und die Masse nicht nur an Handwerklerei „denken", sondern gerade an solche Durchbildung. Die Zentralisierung der konspirativen Funktionen der Organisation bedeutet keineswegs die Zentrierung aller Funktionen der Bewegung. Die aktive Mitarbeit der breitesten Massen an der illegalen Literatur wird nicht geringer, sondern zehnmal stärker werden, wenn „zehn" Berufsrevolutionäre die konspirativen Funktionen dieser Arbeit zentralisieren. So und nur so werden wir es erreichen, dass das Lesen der illegalen Literatur, die Mitarbeit an ihr, zum Teil auch deren Verbreitung, fast aufhören werden, eine konspirative Angelegenheit zu sein, denn die Polizei wird sehr bald die Unsinnigkeit und Unmöglichkeit einer gerichtlichen und administrativen Verfolgung wegen eines jeden Exemplars der zu Tausenden verbreiteten Schriften einsehen. Und das bezieht sich nicht allein auf die Presse, sondern auch auf alle Funktionen der Bewegung, einschließlich der Demonstrationen. Die aktivste und breiteste Teilnahme der Massen an der Bewegung wird nicht nur keinen Abbruch erleiden, sondern im Gegenteil viel dadurch gewinnen, dass „zehn" bewährte, beruflich nicht schlechter als unsere Polizei geschulte Revolutionäre die ganze konspirative Arbeit, wie z. B. die Herstellung von Flugblättern, die Aufstellung eines annähernden Planes, die Einsetzung einer Anzahl von Leitern für jeden Stadtbezirk, für jedes Fabrikviertel, für jede Lehranstalt usw. zentralisieren werden ich weiß, man wird mir das „Undemokratische" meiner Ansichten vorwerfen, aber ich werde auf diesen absolut unklugen Vorwurf weiter unten eingehen). Die Zentralisierung der konspirativsten Funktionen durch eine Organisation der Revolutionäre wird nicht schwächend, sondern bereichernd wirken auf die Ausdehnung und den Gehalt der Tätigkeit einer ganzen Masse anderer Organisationen, die auf eine breite Masse berechnet und darum möglichst lose und möglichst wenig konspirativ sind: der Gewerkschaftsverbände der Arbeiter, der Arbeiterzirkel für Selbstbildung und der Lesezirkel für illegale Literatur, ferner der sozialistischen und auch der demokratischen Zirkel in allen übrigen Bevölkerungsschichten usw. usw. Solche Zirkel, Verbände und Organisationen sind überall in möglichst großer Zahl und mit den mannigfaltigsten Funktionen erforderlich, aber es ist sinnlos und schädlich, sie mit der Organisation der Revolutionäre zu verwechseln, die Grenzen zwischen ihnen zu verwischen, in der Masse die ohnehin sehr unklar gewordene Erkenntnis zu verdunkeln, dass zur „Bedienung" der Massenbewegung Menschen notwendig sind, die sich voll und ganz der sozialdemokratischen Tätigkeit widmen, und dass diese Menschen sich mit Geduld und Beharrlichkeit zu Berufsrevolutionären emporarbeiten müssen.

Ja, diese Erkenntnis ist unglaublich verdunkelt worden. Unsere Hauptsünde in organisatorischer Beziehung besteht darin, dass wir durch unsere Handwerklerei das Prestige des Revolutionärs in Russland herabgesetzt haben. Weichlich und schwankend in theoretischen Fragen, mit engem Horizont, seine Schlappheit rechtfertigend mit der Spontaneität der Massen, einem Trade Union-Sekretär ähnlicher als einem Volkstribun, unfähig, einen umfassenden und kühnen Plan aufzustellen, der auch den Gegnern Achtung einflößen würde, unerfahren und ungeschickt in der Kunst seines Berufes – im Kampf gegen die politische Polizei – das ist doch wirklich kein Revolutionär, sondern ein kläglicher Handwerkler!

Kein Praktiker möge mir dieses scharfe Wort übelnehmen, denn, soweit es sich um mangelnde Schulung handelt, beziehe ich es vor allem auf mich selber. Ich arbeitete in einem Zirkel7, der sich sehr breite, allumfassende Aufgaben stellte, – und wir alle, die Mitglieder dieses Zirkels, mussten es schmerzlich und qualvoll empfinden, dass wir nur Handwerkler sind in einem historischen Moment, wo man, einen bekannten Ausspruch variierend, sagen könnte: gebt uns eine Organisation von Revolutionären, und wir werden Russland aus den Angeln heben! Und je öfter ich seitdem an dieses glühende Schamgefühl zurückdenken musste, das ich damals empfand, um so mehr Bitternis sammelte sich in mir an gegen jene Pseudo-Sozialdemokraten, die durch ihre Predigten „den Beruf des Revolutionärs schänden", die nicht verstehen, dass es unsere Aufgabe ist, nicht den Revolutionär zum Handwerkler" zu degradieren, sondern die Handwerkler auf das Niveau von Revolutionären emporzuheben.

d) Der Umfang der Organisationsarbeit

Wie wir oben gesehen haben, spricht B–w „von dem Mangel an aktionsfähigen revolutionären Kräften, der sich nicht nur in Petersburg, sondern in ganz Russland bemerkbar macht". Und schwerlich wird irgend jemand diese Tatsache bestreiten wollen. Die Frage ist nur, wie sie zu erklären ist. B–w schreibt:

»Wir wollen nicht auf die Klarlegung der geschichtlichen Ursachen dieser Erscheinung eingehen; wir wollen nur sagen, dass die durch die andauernde politische Reaktion demoraliserte und durch die vollzogenen und sich noch vollziehenden wirtschaftlichen Veränderungen zersplitterte Gesellschaft aus ihrer Mitte eine äußerst geringe Zahl von Leuten hervorbringt, die sich für die revolutionäre Arbeit eignen; dass die Arbeiterklasse durch die Auslese von Revolutionären aus ihrer Mitte zum Teil die Reihen der illegalen Organisation auffüllt, – dass aber die Anzahl dieser Revolutionäre den Erfordernissen der Zeit nicht entspricht. Um so mehr, als der Arbeiter, der 11½ Stunden täglich in der Fabrik arbeitet, infolge seiner Lage hauptsächlich die Funktionen eines Agitators ausüben kann; die Propaganda und Organisation aber, die Verbreitung und Vervielfältigung der illegalen Literatur, die Herstellung von Flugblättern usw. fallen unwillkürlich hauptsächlich einer äußerst geringen Anzahl von intellektuellen Kräften zu" (Rabotscheje Djelo" Nr. 6, S. 38 u. 39). ,

Wir sind in vielen Punkten mit dieser Ansicht B–ws nicht einverstanden, insbesondere nicht mit den von uns unterstrichenen Worten, die besonders klar zeigen, dass B–w, der (wie überhaupt jeder etwas nachdenkliche Praktiker) unter unserer Handwerklerei sehr leidet, so sehr unter dem Druck des Ökonomismus steht, dass er aus der unerträglichen Lage keinen Ausweg zu finden vermag. Nein, die Gesellschaft bringt sehr viele Leute hervor, die sich für die „Sache" eignen, wir verstehen es nur nicht, sie alle auszunützen. Das kritische Übergangsstadium unserer Bewegung kann in der hier erörterten Beziehung charakterisiert werden durch die Worte: Es fehlt an Menschen und zugleich sind Menschen in Massen vorhanden. Sie sind in Massen vorhanden, denn sowohl die Arbeiterklasse als auch immer neue Schichten der Gesellschaft bringen mit jedem Jahr immer mehr und mehr Unzufriedene hervor, die protestieren wollen, die bereit sind, den Kampf gegen den Absolutismus, dessen Unerträglichkeit noch nicht von allen erkannt, aber von immer breiteren Massen immer schärfer empfunden wird, nach Kräften zu unterstützen. Und gleichzeitig fehlt es an Menschen, denn es sind keine Leiter, keine politischen Führer, keine organisatorischen Talente vorhanden, die imstande wären, eine so umfassende und gleichzeitig einheitliche und harmonische Arbeit zu organisieren, dass in ihr jede, auch die unbedeutendste Kraft, ihre Verwendung findet. „Das Wachstum und die Entwicklung der revolutionären Organisationen" bleibt nicht nur hinter dem Wachstum der Arbeiterbewegung zurück, was auch B–w zugibt, sondern auch hinter dem Wachstum der allgemein-demokratischen Bewegung in allen Schichten des Volkes. (Übrigens würde B–w heute wahrscheinlich auch das als Ergänzung zu seiner Schlussfolgerung anerkennen.) Der Umfang der revolutionären Arbeit ist im Vergleich zur breiten spontanen Grundlage der Bewegung zu beschränkt, zu sehr eingeengt durch die armselige Theorie des „ökonomischen Kampfes gegen die Unternehmer und die Regierung". Indessen müssen aber jetzt nicht nur die politischen Agitatoren, sondern auch die sozialdemokratischen Organisatoren „in alle Klassen der Bevölkerung gehen"H. Und schwerlich wird auch nur ein Praktiker bezweifeln wollen, dass die Sozialdemokraten Tausende von kleinen Funktionen ihrer organisatorischen Arbeit unter die einzelnen Vertreter der verschiedensten Klassen verteilen könnten. Die ungenügende Spezialisierung, über die sich Bw so bitter und mit so viel Recht beklagt, ist einer der größten Mängel unserer Technik. Je kleiner die einzelnen „Operationen" der allgemeinen Arbeit sein werden, um so eher kann man Leute finden, die fähig sind, solche Operationen auszuführen (und die meist absolut unfähig sind, Berufsrevolutionäre zu werden), und um so schwieriger wird es für die Polizei sein, alle diese „Detail-Arbeiter" „abzufangen", um so schwieriger wird es für sie sein, aus der Verhaftung eines einzelnen Menschen auf Grund irgendeiner Kleinigkeit einen „Prozess" zu inszenieren, der den Kostenaufwand der Staatskasse für die „Ochrana" aufwiegt. Was aber die Zahl der Leute betrifft, die bereit sind, uns zu unterstützen, so haben wir bereits im vorhergehenden Kapitel auf die ungeheure Veränderung hingewiesen, die in dieser Beziehung seit etwa fünf Jahren vor sich gegangen ist. Um aber anderseits all diese kleinen Bruchteile zu einem Ganzen zusammenzufassen und mit den Funktionen der Bewegung nicht die Bewegung selbst zu zersplittern, um den mit kleinen Funktionen Beauftragten den Glauben an die Notwendigkeit und die Bedeutung seiner Arbeit, ohne den er überhaupt nie arbeiten wirdI, zu geben, – bedarf es eben einer festen Organisation von erprobten Revolutionären. Besteht eine solche Organisation, so wird der Glaube an die Stärke der Partei sich um so mehr festigen und um so weiter verbreiten, je konspirativer diese Organisation sein wird, – und bekanntlich ist es ja im Kriege das wichtigste, nicht nur der eigenen Armee, sondern auch dem Feinde und allen neutralen Elementen den Glauben an seine Stärke einzuflößen; eine wohlwollende Neutralität kann zuweilen entscheidend sein für die Sache. Ist eine solche Organisation vorhanden, die eine feste theoretische Grundlage hat und über ein sozialdemokratisches Organ verfügt, so wird man nicht zu befürchten haben, dass die zahlreichen herangezogenen „abseits stehenden" Elemente die Bewegung von ihrem Weg abbringen werden (im Gegenteil, gerade jetzt, wo die Arbeit handwerksmäßig betrieben wird, beobachten wir, dass viele Sozialdemokraten den Weg des „Credo" gehen und sich nur einbilden, sie seien Sozialdemokraten). Mit einem Worte, die Spezialisierung setzt notgedrungen die Zentralisierung voraus, die sie ihrerseits unbedingt erfordert.

Doch B–w selber, der die ganze Notwendigkeit der Spezialisierung so trefflich dargestellt hat, schätzt sie, unseres Erachtens, im zweiten Teile seiner zitierten Ausführungen nicht genügend hoch ein. Die Zahl der Revolutionäre aus der Arbeiterschicht sei unzureichend, sagt er. Das ist ganz richtig, und wir betonen wiederum, dass die „wertvolle Mitteilung eines nahen Beobachters" unsere Ansicht über die Ursachen der gegenwärtigen Krise in der Sozialdemokratie und folglich auch über die Mittel ihrer Heilung vollkommen bestätigt. Nicht nur die Revolutionäre überhaupt, sondern auch die Revolutionäre aus Arbeiterkreisen bleiben hinter der spontanen Erhebung der Arbeitermassen zurück. Und diese Tatsache bestätigt in anschaulichster Weise, sogar vom „praktischen" Standpunkt aus, nicht nur die Unsinnigkeit, sondern auch den politisch-reaktionären Geist der „Pädagogik", die man uns bei der Erörterung der Frage unserer Pflichten gegenüber den Arbeitern so häufig auftischt. Diese Tatsache beweist, dass es unsere allererste, allerdringendste Pflicht ist, die Schulung von Revolutionären aus Arbeiterkreisen zu unterstützen, die hinsichtlich der Parteitätigkeit auf demselben Niveau stehen, wie die Revolutionäre aus den Kreisen der Intellektuellen (wir betonen die Worte: hinsichtlich der Parteitätigkeit, denn in anderer Hinsicht ist das Erreichen des gleichen Niveaus für die Arbeiter zwar notwendig, aber keineswegs so leicht und nicht so dringend notwendig) , Darum muss die Hauptaufmerksamkeit darauf gerichtet sein, die Arbeiter auf das Niveau von Revolutionären emporzuheben, nicht aber darauf, selbst unbedingt zur „Arbeitermasse" hinabzusteigen, wie es die Ökonomisten wollen, oder zu den „Durchschnittsarbeitern", wie es die „Swoboda" wünscht (die sich in dieser Beziehung auf die zweite Stufe der ökonomistischen „Pädagogik" erhebt).

Ich bin weit davon entfernt, die Notwendigkeit der populären Literatur für Arbeiter und der besonders populären (nur natürlich nicht der Boulevard-Literatur) für besonders rückständige Arbeiter zu leugnen. Aber mich empört dieses ständige Hineinziehen der Pädagogik in die Fragen der Politik und der Organisation, Ihr, die ihr so sehr um die „Durchschnittsarbeiter" besorgt seid, beleidigt ja eigentlich die Arbeiter eher durch euren Wunsch, euch unbedingt zu bücken, bevor ihr von der Arbeiterpolitik oder von der Arbeiterorganisation zu reden beginnt. Redet doch von ernsten Dingen in aufrechter Haltung und überlasst die Pädagogik den Pädagogen und verschont damit die Politiker und Organisatoren! Gibt es denn nicht auch unter den Intellektuellen fortgeschrittene Elemente, „Durchschnittsmenschen" und eine „Masse"? Besteht nicht auch für die Intellektuellen die allgemein anerkannte Notwendigkeit, eine populäre Literatur zu haben, und wird diese Literatur nicht geschrieben? Man stelle sich nur vor, dass in einem Artikel über die Organisation von Studenten oder Gymnasiasten der Verfasser, als wäre es eine Entdeckung, die Behauptung ständig wiederkäuen wollte, dass in erster Linie eine Organisation von „Durchschnittsstudenten" notwendig sei. Ein solcher Verfasser würde sicherlich ausgelacht werden, und das mit Recht. Gebt uns doch, würde man ihm sagen, organisatorische Ideen, wenn ihr solche habt, und wir werden schon selber sehen, wer von uns ein „Durchschnittsmensch" ist, wer höher und wer tiefer steht. Wenn ihr aber keine eigenen Organisationsideen habt, so wird all euer Reden über „Masse" und „Durchschnittsmenschen" einfach langweilig sein. Versteht doch, dass die Fragen der „Politik" und der „Organisation" so ernst sind, dass man von ihnen nicht anders als vollkommen ernsthaft reden soll: man kann und muss die Arbeiter (wie auch die Studenten und Gymnasiasten) dazu schulen, dass man mit ihnen von diesen Fragen reden kann, wenn ihr aber schon einmal begonnen habt, davon zu reden, so gebt wirkliche Antworten, zieht euch nicht zurück auf den „Durchschnittsmenschen" oder die „Masse", versucht nicht, sie mit Witzen oder Phrasen abzuspeisen.J

Der revolutionäre Arbeiter muss ebenfalls, um für seine Tätigkeit vollkommen ausgebildet zu sein, Berufsrevolutionär werden. Darum hat B–w unrecht, wenn er sagt, dass, da der Arbeiter elfeinhalb Stunden in der Fabrik beschäftigt ist, die übrigen revolutionären Funktionen (außer der Agitation) mit ihrem Hauptgewicht unwillkürlich einer äußerst geringen Anzahl intellektueller Kräfte zufallen. Das geschieht gar nicht „unwillkürlich", sondern infolge unserer Rückständigkeit, weil wir es nicht als unsere Pflicht erkennen, jedem hervorragend befähigten Arbeiter zu helfen, zu einem Berufsagitator, Berufsorganisator, Berufspropagandisten usw. zu werden. In dieser Beziehung betreiben wir geradezu schmachvollen Raubbau mit unseren Kräften, wir verstehen es nicht, behutsam umzugehen mit dem, was besonders sorgfältig gepflegt und gehegt werden muss. Man sehe sich die Deutschen an: sie haben hundertmal mehr Kräfte als wir, aber sie verstehen sehr gut, dass wirklich begabte Agitatoren usw. aus den „Durchschnittsarbeitern" keineswegs sehr häufig hervorgehen. Darum sind sie sofort bestrebt, jeden begabten Arbeiter in Verhältnisse zu stellen, die die volle Entwicklung und Betätigung seiner Fähigkeiten ermöglichen: man macht ihn zum Berufsagitator, man veranlasst ihn, das Feld seiner Tätigkeit zu erweitern, es von einer Fabrik auf den ganzen Arbeitszweig, von einem Orte auf das ganze Land auszudehnen. Er erwirbt Erfahrung und Geschicklichkeit in seinem Beruf, er erweitert seinen Gesichtskreis und seine Kenntnisse, er hat Gelegenheit, hervorragende politische Führer aus anderen Gegenden und anderen Parteien nahe kennenzulernen, er bemüht sich, ebenfalls eine solche Höhe zu erreichen und die Kenntnis der Arbeiterkreise und die Frische der sozialistischen Überzeugung in sich zu vereinigen mit der beruflichen Schulung, ohne die das Proletariat den hartnäckigen Kampf gegen die trefflich geschulten Reihen seiner Feinde nicht führen kann. So, und nur so steigen aus den Arbeitermassen die Bebel und Auer empor. Aber was in einem politisch freien Lande zum großen Teile von selbst geschieht, das muss bei uns systematisch von unseren Organisationen vollbracht werden. Ein halbwegs talentvoller und „zu Hoffnungen berechtigender'" Agitator aus der Arbeiterklasse darf nicht elf Stunden in der Fabrik arbeiten. Wir müssen dafür sorgen, dass er aus Parteimitteln unterhalten wird, dass er imstande ist, rechtzeitig zur Illegalität überzugehen und den Ort seiner Tätigkeit oft zu wechseln, denn sonst wird er keine große Erfahrung erlangen, seinen Gesichtskreis nicht erweitern, sich nicht, wenigstens mehrere Jahre hindurch, im Kampfe gegen die Gendarmen halten können. Je breiter und tiefer die spontane Erhebung der Arbeitermassen wird, um so eher bringen sie nicht nur talentvolle Agitatoren hervor, sondern auch talentvolle Organisatoren, Propagandisten und „Praktiker" im guten Sinne des Wortes (von denen es unter unseren, nach russischer Art meist etwas nachlässigen und schwerfälligen Intellektuellen so wenige gibt). Wenn wir erst eine Reihe speziell geschulter und durch eine lange Lehrzeit gegangener Revolutionäre aus der Arbeiterklasse haben werden (und zwar natürlich von Revolutionären „aller Waffengattungen"), – dann wird keine politische Polizei der Welt mit ihnen fertig werden können, denn diese der Revolution vorbehaltlos ergebenen Leute werden auch das vorbehaltlose Vertrauen der breitesten Arbeitermassen genießen. Und es ist unsere direkte Schuld, dass wir die Arbeiter zu wenig auf diesen Weg der berufsrevolutionären Schulung „stoßen", den sie mit den „Intellektuellen" gemein haben, dass wir sie zu oft rückwärts ziehen durch unsere dummen Reden darüber, was der Arbeitermasse, den „Durchschnittsarbeitern" usw. „zugänglich" ist.

In dieser wie auch in anderen Beziehungen steht der beschränkte Umfang der organisatorischen Arbeit in untrennbarer (wenn auch von der großen Mehrheit der „Ökonomisten" und der beginnenden Praktiker nicht erkannten) Verbindung mit der Einengung unserer Theorie und unserer politischen Aufgaben. Die Anbetung der Spontaneität ruft eine gewisse Furcht hervor, auch nur einen Schritt weit von dem abzuweichen, was der Masse „zugänglich" ist, eine Furcht, sich zu hoch über die einfache Arbeit für die nächsten und unmittelbaren Bedürfnisse der Masse zu erheben. Habt keine Angst, ihr Herren! Denkt daran, dass wir in organisatorischer Beziehung so tief stehen, dass schon der bloße Gedanke unsinnig ist, wir könnten uns zu hoch erheben!

e) Die „Verschwörer"-Organisation und der „Demokratismus"

Es gibt unter uns sehr viele Leute, die der „Stimme des Lebens" gegenüber so sensibel sind, dass sie sich gerade davor am allermeisten fürchten und diejenigen, die die hier dargelegten Ansichten teilen, des „Narodowolzentums" beschuldigen, dass sie sie beschuldigen, den „Demokratismus" nicht zu begreifen usw. Auf diese Beschuldigungen, die selbstverständlich auch das „Rabotscheje Djelo" aufgegriffen hat, muss hier näher eingegangen werden.

Dem Schreiber dieser Zeilen ist sehr wohl bekannt, dass die Petersburger Ökonomisten schon die „Rabotschaja Gazeta" des Nardowolzentums beschuldigten (was auch verständlich ist, wenn man sie mit der „Rabotschaja Mysl" vergleicht). Es hat uns darum absolut nicht gewundert, als bald nach der Entstehung der Iskra" ein Genosse uns mitteilte, dass die Sozialdemokraten der Stadt X. die „Iskra" als ein Organ der Narodnaja Wolja bezeichneten. Diese Beschuldigung war für uns natürlich nur schmeichelhaft, denn welcher anständige Sozialdemokrat ist von den Ökonomisten nicht des Narodowolzentums beschuldigt worden?

Diesen Anschuldigungen liegen Missverständnisse zweierlei Art zugrunde. Erstens kennt man bei uns die Geschichte der revolutionären Bewegung so schlecht, dass man jede Idee einer zentralisierten Kampforganisation, die dem Zarismus den entschiedenen Krieg erklärt, als „Narodowolzentum" bezeichnet. Aber die ausgezeichnete Organisation, die die Revolutionäre der siebziger Jahre hatten und die uns allen als Vorbild dienen sollte, ist gar nicht von der Narodnaja Wolja geschaffen worden, sondern von der Semlja i Wolja, die sich in die Parteien Tscherny Peredjel und Narodnaja Wolja gespalten hatte. Es ist also sowohl geschichtlich wie logisch sinnlos, in einer revolutionären Kampforganisation eine Eigentümlichkeit der Narodnaja Wolja zu sehen, denn keine revolutionäre Richtung, wenn sie nur wirklich an einen ernsten Kampf denkt, kann ohne eine solche Organisation auskommen. Der Fehler der Narodnaja Wolja bestand nicht darin, dass sie sich bemühte, alle Unzufriedenen in ihre Organisation hineinzuziehen und diese Organisation auf einen energischen Kampf gegen den Absolutismus einzustellen. Das ist, im Gegenteil, ihr großes historisches Verdienst. Ihr Fehler aber bestand darin, dass sie sich auf eine Theorie stützte, die im Grunde genommen gar keine revolutionäre Theorie war, und dass sie ihre Bewegung nicht innig verknüpfen konnte, oder es nicht verstand, mit dem Klassenkampf in der sich entwickelnden kapitalistischen Gesellschaft. Und nur das absolute Fehlen des Verständnisses für den Marxismus (oder dessen „Auffassung" im Geiste des „Struvismus") konnte zu der Ansicht führen, dass die Entstehung einer spontanen proletarischen Massenbewegung uns der Pflicht enthebe, eine ebenso gute, ja noch viel bessere revolutionäre Organisation zu schaffen, als die „Semlja i Wolja" sie besaß. Im Gegenteil, diese Pflicht wird uns gerade von dieser Bewegung auferlegt, denn der spontane Kampf des Proletariats wird nicht zu einem wirklichen „Klassenkampf" werden, solange dieser Kampf nicht von einer starken Organisation der Revolutionäre geführt sein wird.

Zweitens missverstehen viele – und darunter anscheinend auch B. Kritschewski („Rabotscheje Djelo" Nr. 10, S. 18) – die Polemik gegen die „verschwörerische" Auffassung des politischen Kampfes, die von den Sozialdemokraten stets geführt worden ist. Wir sind immer gegen die Beschränkung des politischen Kampfes auf den Rahmen einer Verschwörung aufgetreten und werden das auch weiterhin tunK, aber das bedeutet natürlich keineswegs, dass wir die Notwendigkeit einer starken revolutionären Organisation leugnen. In der Broschüre zum Beispiel, die in der Fußnote genannt ist, wird neben der Polemik gegen die Identifizierung des politischen Kampfes mit einer Verschwörung eine Organisation (als sozialdemokratisches Ideal) geschildert, die so stark ist, dass sie, „um dem Absolutismus den entscheidenden Schlag zu versetzen", sowohl zum „Aufstand" als auch zu jeder „anderen Angriffsmethode" Zuflucht nehmen kannL. Ihrer Form nach kann eine so feste revolutionäre Organisation in einem absolutistischen Lande auch eine „Verschwörer-Organisation genannt werden, denn das französische Wort „Konspiration" entspricht dem russischen Wort für „Verschwörung", die Konspiration aber ist für eine solche Organisation im höchsten Maße erforderlich. Die Konspiration ist eine so notwendige Vorbedingung für eine solche Organisation, dass alle anderen Bedingungen (die Zahl der Mitglieder, ihre Auslese, ihre Funktionen usw.) mit ihr in Einklang gebracht werden müssen. Es wäre darum höchst naiv, wollten wir uns vor der Beschuldigung fürchten, dass wir Sozialdemokraten eine Verschwörerorganisation schaffen wollen. Diese Beschuldigungen müssen für jeden Feind des Ökonomismus ebenso schmeichelhaft sein, wie die Beschuldigung des -Narodowolzentums".

Man wird uns erwidern: eine so machtvolle und streng geheime Organisation, die alle Fäden der konspirativen Tätigkeit in ihren Händen konzentriert, eine Organisation, die notgedrungen zentralistisch sein muss, kann allzu leicht verfrüht zu einem Angriff übergehen, kann unüberlegt die Bewegung verschärfen, noch bevor dies im Hinblick auf das Anwachsen der politischen Unzufriedenheit, auf das Maß der Gärung und Erbitterung in der Arbeiterklasse usw. möglich und notwendig ist. Darauf antworten wir: abstrakt gesprochen, kann natürlich nicht geleugnet werden, dass eine Kampforganisation zu einem unüberlegten Kampf führen kann, der mit einer Niederlage ausgehen kann, die unter anderen Umständen keineswegs notwendig wäre. Aber es ist unmöglich, sich in einer solchen Frage auf abstrakte Erwägungen zu beschränken, denn jeder Kampf schließt die abstrakte Möglichkeit der Niederlage in sich ein, und es gibt kein anderes Mittel, diese Möglichkeit zu verringern, als die organisierte Vorbereitung des Kampfes. Wenn wir die Frage aber auf den konkreten Boden der gegenwärtigen russischen Verhältnisse stellen, so werden wir den positiven Schluss ziehen müssen, dass eine starke revolutionäre Organisation unbedingt notwendig ist, gerade um der Bewegung Widerstandsfähigkeit zu verleihen und um sie vor der Möglichkeit unüberlegter Angriffe zu bewahren. Gerade jetzt, wo eine solche Organisation fehlt, und wo die spontane revolutionäre Bewegung rasch anwächst, zeigen sich bereits zwei entgegengesetzte Extreme (die sich, wie üblich, berühren): bald ein ganz unhaltbarer Ökonomismus und eine Propaganda der Mäßigung, bald ein ebenso unhaltbarer „exzitierender Terror", der bestrebt ist, „in der Bewegung, die sich entwickelt und festigt, aber dem Anfang noch näher steht als dem Ende, künstlich die Symptome des Endes hervorzurufen" (V. Sassulitsch in der „Sarja" Nr. 2/3, S. 3538), und das Beispiel des „Rabotscheje Djelo" zeigt, dass es bereits Sozialdemokraten gibt, die vor beiden Extremen kapitulieren. Eine solche Erscheinung ist, von allen übrigen Ursachen abgesehen, auch darum nicht verwunderlich, weil der „ökonomische Kampf gegen die Unternehmer und die Regierung" den Revolutionär nie befriedigen wird, und entgegengesetzte Extreme stets bald hier bald dort auftauchen werden. Nur eine zentralisierte Kampforganisation, die die sozialdemokratische Politik konsequent durchführt und sozusagen alle revolutionären Instinkte und Bestrebungen befriedigt, ist imstande, die Bewegung vor einem unüberlegten Angriff zu bewahren und einen Angriff vorzubereiten, der Erfolg verspricht.

Man wird uns weiter entgegnen, dass die dargelegte Ansicht über die Organisation dem „demokratischen Prinzip" widerspreche. Wie die vorhergehende Anschuldigung spezifisch russischen Ursprungs ist, so trägt diese – einen spezifisch ausländischen Charakter. Und nur eine Auslandsorganisation (der „Auslandsbund russischer Sozialdemokraten") konnte ihrer Redaktion unter anderen Instruktionen auch folgende erteilen:

Das Organisationsprinzip. Im Interesse einer erfolgreichen Entwicklung und Vereinigung der Sozialdemokratie muss das breite demokratische Prinzip ihrer Parteiorganisation betont, entwickelt und verteidigt werden, was besonders notwendig ist angesichts der in den Reihen unserer Partei zutage getretenen antidemokratischen Tendenzen" („Zwei Konferenzen, S. 18).

In welcher Weise das „Rabotscheje Djelo" gegen die „antidemokratischen Tendenzen" der „Iskra" kämpft, werden wir im nächsten Kapitel sehen. Jetzt aber wollen wir uns das „Prinzip" näher ansehen, das von den Ökonomisten aufgestellt wird. Jeder wird wohl zugeben, dass das „breite demokratische Prinzip" die beiden folgenden notwendigen Vorbedingungen in sich schließt: erstens, die volle Öffentlichkeit und zweitens, die Wählbarkeit aller Funktionäre. Ohne Öffentlichkeit wäre es lächerlich, von Demokratismus zu reden, und zwar ohne eine Öffentlichkeit, die sich nicht nur auf die Mitglieder der Organisation beschränkt. Als demokratisch können wir die Organisation der deutschen sozialistischen Partei bezeichnen, denn in ihr geschieht alles offen, die Sitzungen des Parteitages mit inbegriffen; aber niemand wird eine Organisation als demokratisch bezeichnen, die sich allen Nichtmitgliedern gegenüber in den Schleier des Geheimnisses hüllt. Es fragt sich, welchen Sinn also die Aufstellung des „breiten demokratischen Prinzips" hat, wenn die Grundbedingung dieses Prinzips für eine Geheimorganisation unerfüllbar ist? Das „breite Prinzip" erweist sich einfach als eine wohlklingende, aber hohle Phrase. Mehr als das. Diese Phrase zeugt von einem absoluten Mangel an Verständnis für die dringenden organisatorischen Aufgaben des Augenblickes. Alle wissen, wie gering bei uns das Verständnis für konspiratives Arbeiten bei der „breiten" Masse der Revolutionäre ist. Wir haben gesehen, wie bitter sich B–w darüber beklagt, der vollkommen richtig eine „strenge Auslese der Mitglieder" verlangt, („Rabotscheje Djelo", Nr. 6, S. 42). Und nun kommen Leute, die sich mit ihrem „Lebensinstinkt" brüsten und die bei einer solchen Sachlage nicht die Notwendigkeit strengster Konspiration und strengster (folglich also auch engerer) Auswahl der Mitglieder betonen, sondern das „breite demokratische Prinzip"! Das heißt, mit der Stange im Nebel herumfahren.

Nicht besser steht es auch mit dem zweiten Merkmal des Demokratismus – der Wählbarkeit. In Ländern mit politischer Freiheit ist diese Bedingung eine Selbstverständlichkeit. „Zur Partei gehörig wird jede Person betrachtet, die sich zu den Grundsätzen des Parteiprogramms bekennt und die Partei nach Kräften unterstützt" – so lautete der erste Paragraph des Organisationsstatuts der deutschen sozialdemokratischen Partei. Und da die ganze politische Arena vor aller Augen ebenso offen daliegt, wie die Bühne eines Theaters vor den Zuschauern, so ist diese Anerkennung oder Nichtanerkennung, die Unterstützung oder Bekämpfung allen und jedem sowohl aus Zeitungen als auch aus Volksversammlungen bekannt. Alle wissen, dass ein bestimmter Politiker in bestimmter Weise begonnen, dass er eine bestimmte Entwicklung durchgemacht hat, dass er sich in einem schwierigen Augenblick des Lebens so oder so verhalten hat, dass er sich überhaupt durch bestimmte Eigenschaften auszeichnet, – und darum können natürlich alle Parteimitglieder einen solchen Mann mit voller Sachkenntnis für ein bestimmtes Parteiamt wählen oder nicht wählen. Die (im buchstäblichen Sinne des Wortes) allgemeine Kontrolle über jeden Schritt eines Parteiführers in seiner politischen Arbeit schafft einen automatisch wirkenden Mechanismus, der das zeitigt, was in der Biologie mit der Erhaltung der Anpassungsfähigsten bezeichnet wird. Die „natürliche Auslese" durch die volle Öffentlichkeit, durch die Wählbarkeit und die allgemeine Kontrolle gibt die Sicherheit, dass jeder Führer schließlich auf dem richtigen Platz steht, dass er die seinen Kräften und Fähigkeiten am meisten entsprechende Arbeit übernimmt, an sich selbst alle Folgen seiner Fehler fühlt und vor aller Augen seine Fähigkeiten beweist, Fehler einzusehen und zu vermeiden.

Nun versuche man einmal, dieses Bild in den Rahmen unseres Absolutismus zu stellen! Ist es bei uns denkbar, dass jeder, „der die Grundsätze des Parteiprogramms anerkennt und die Partei nach Kräften unterstützt", jeden Schritt eines konspirativ arbeitenden Revolutionärs kontrolliert? Dass aus der Zahl der konspirativ arbeitenden Revolutionäre alle den oder jenen wählen, während doch der Revolutionär im Interesse der Arbeit verpflichtet ist, vor neun Zehnteln dieser „allen" zu verbergen, wer er ist? Man überlege sich nur ein wenig die wirkliche Bedeutung dieser großen Worte des „Rabotscheje Djelo" und man wird sehen,, dass der „breite Demokratismus" der Parteiorganisation unter der Herrschaft des Absolutismus, wo die Gendarmen es sind, die die Auslese bewerkstelligen, nur eine leere und schädliche Spielerei ist. Es ist eine leere Spielerei, denn in Wirklichkeit hat nie irgendeine revolutionäre Organisation den breiten Demokratismus durchgeführt, und sie kann ihn auch beim besten Willen nicht durchführen. Es ist eine schädliche Spielerei, denn die Versuche, das „breite demokratische Prinzip" wirklich durchzuführen, erleichtern nur der Polizei ihre Verfolgungen und verewigen die herrschende Handwerklerei, lenken die Aufmerksamkeit der Praktiker nicht auf die ernste und dringende Aufgabe, sich zu Berufsrevolutionären auszubilden, sondern auf die Abfassung ausführlicher „papierner" Statuten über Wahlsysteme. Nur im Auslande9, wo sich oft Leute zusammenfinden, denen die Möglichkeit genommen ist, eine wirkliche und lebendige Arbeit zu leisten, konnte hie und da und insbesondere innerhalb verschiedener kleiner Gruppen ein solches „Spiel mit dem Demokratismus" getrieben werden.

Um dem Leser die ganze Unanständigkeit der vom „Rabotscheje Djelo" mit Vorliebe angewandten Methode zu zeigen – der Methode, in der revolutionären Arbeit ein so schönes „Prinzip", wie den Demokratismus, aufzustellen –, wollen wir uns wieder auf einen Zeugen berufen. Dieser Zeuge – J. Serebrjakow, der Redakteur der Londoner Zeitschrift „Nakanunje" – hegt eine große Schwäche für das „Rabotscheje Djelo" und einen starken Hass gegen Plechanow und dessen Anhänger; in den Artikeln über die Spaltung des „Auslandsbundes der russischen Sozialdemokraten" hat sich das „Nakanunje" entschieden auf die Seite des Rabotscheje Djelo" gestefit und einen ganzen Schwall von Schmähworten gegen Plechanow losgelassen.10 Um so wertvoller ist für uns dieser Zeuge in dieser Frage. In Nr. 7 des „Nakanunje" (Juli 1899) im Artikel „Zum Aufruf der Gruppe der Selbstbefreiung der Arbeiter" wies Serebrjakow darauf hin, dass es „unanständig" sei, die Fragen „der Selbstüberhebung, der Vorherrschaft, des sogenannten Areopag, in einer ernsten revolutionären Bewegung" aufzurollen, wobei er u. a. schrieb:

Myschkin, Rogatschew, Scheljabow, Michailow, Perowskaja, Figner u. a. haben sich nie als Führer betrachtet und sind auch nie von irgend jemandem gewählt oder ernannt worden, obgleich sie in Wirklichkeit Führer waren, denn sowohl in der Periode der Propaganda als auch in der Periode des Kampfes gegen die Regierung haben sie die größte Last der Arbeit auf sich genommen, sind sie an die gefährlichsten Stellen gegangen, und ihre Tätigkeit war die produktivste. Ihre Führerschaft war nicht das Ergebnis ihrer Wünsche, sondern des Vertrauens, das die sie umgebenden Genossen in ihren Verstand, ihre Energie und ihre Ergebenheit setzten. Sich aber vor irgend einem Areopag zu fürchten (wenn man ihn aber nicht fürchtet, warum dann von ihm schreiben?), der die Bewegung eigenmächtig leiten könnte, das ist doch zu naiv. Wer würde denn auf ihn hören?“

Wir fragen den Leser, wodurch sich der „Areopag" von den „antidemokratischen Tendenzen" unterscheidet? Ist es denn nicht klar, dass das „schöne" Organisationsprinzip des „Rabotscheje Djelo" ebenso naiv wie unanständig ist: (naiv, weil auf den „Areopag" oder auf die Leute mit „antidemokratischen Tendenzen" einfach niemand hören würde, wenn die sie umgebenden Genossen nicht das „Vertrauen in ihren Verstand, ihre Energie und Ergebenheit setzen" könnten. Unanständig ist es als demagogischer Ausfall, der auf die Eitelkeit der einen und auf die Unkenntnis der anderen über den wahren Zustand unserer Bewegung und auf die ungenügende Ausbildung und die Unwissenheit der dritten auf dem Gebiete der Geschichte der revolutionären Bewegung spekuliert. Das einzige ernste Organisationsprinzip für unsere Bewegung muss sein: strengste Konspiration, strengste Auslese der Mitglieder, Ausbildung von Berufsrevolutionären. Sind diese gegeben, so ist noch etwas mehr gesichert als der „Demokratismus", und zwar das volle kameradschaftliche Vertrauen der Revolutionäre untereinander. Und dieses Mehr11 ist für uns unbedingt notwendig, denn bei uns in Russland kann gar keine Rede davon sein, es durch eine allgemeine demokratische Kontrolle zu ersetzen. Und es wäre ein großer Fehler, wollte man glauben, dass die Unmöglichkeit einer wirklich „demokratischen" Kontrolle die Mitglieder der revolutionären Organisation unkontrollierbar macht: sie haben keine Zeit, an einen Spielzeugdemokratismus zu denken (des Demokratismus innerhalb des engen Kerns von Genossen, die vollkommenes Vertrauen zueinander haben), aber ihre Verantwortlichkeit empfinden sie sehr lebhaft, und sie wissen dabei aus Erfahrung, dass eine aus wirklichen Revolutionären bestehende Organisation vor keinem Mittel zurückschrecken wird, wenn es gilt, sich von einem untauglichen Mitglied zu befreien. Und außerdem gibt es ja bei uns eine ziemlich entwickelte, bereits eine ganze Geschichte hinter sich habende öffentliche Meinung der russischen (und der internationalen) revolutionären Kreise, die mit schonungsloser Härte jede Verletzung der kameradschaftlichen Pflichten straft (der „Demokratismus" aber, der wirkliche, nicht nur der Spielzeugdemokratismus, gehört ja zu diesem Begriff der Kameradschaftlichkeit, wie ein Teil zum Ganzen!). Man ziehe das alles in Betracht, und man wird begreifen, welch muffiger Geruch des im Auslande beliebten Generalspielens aus diesen Reden und Resolutionen über die „antidemokratischen Tendenzen" aufsteigt!

Es muss noch bemerkt werden, dass die andere Quelle solcher Reden, nämlich die Naivität, auch durch die Verworrenheit der Vorstellungen über das Wesen der Demokratie genährt wird Im Buche der Eheleute Webb über die englischen Trade Urions gibt es ein interessantes Kapitel unter dem Titel: „Die primitive Demokratie". Die Verfasser erzählen darin, wie die englischen Arbeiter in der ersten Periode des Bestehens ihrer Gewerkschaften es als notwendiges Merkmal der Demokratie betrachteten, dass in Sachen der Verwaltung der Gewerkschaftsverbände alles von allen getan wurde: nicht nur alle Fragen wurden durch Abstimmung aller Mitglieder entschieden, sondern auch die Ämter wurden von allen Mitgliedern der Reihe nach verwaltet. Es bedurfte einer langen geschichtlichen Erfahrung, bis die Arbeiter das Sinnlose einer solchen Vorstellung von der Demokratie und die Notwendigkeit von Vertretungskörperschaften einerseits und von Berufsfunktionären anderseits begriffen hatten. Es bedurfte einiger Fälle von Zusammenbrüchen der Gewerkschaftskassen, um den Arbeitern klarzumachen, dass die Frage des Verhältnisses zwischen den eingezahlten Beträgen und den ausgezahlten Unterstützungen nicht nur durch demokratische Abstimmung entschieden werden kann, sondern auch das Urteil eines Fachmannes in Versicherungsfragen erfordert. Man nehme ferner das Buch Kautskys über den Parlamentarismus und die Volksgesetzgebung12, und man wird sehen, dass die Schlussfolgerungen des marxistischen Theoretikers übereinstimmen mit den Lehren der langjährigen Praxis der Arbeiter, die sich „spontan" zusammengeschlossen hatten. Kautsky wendet sich entschieden gegen die primitive Auffassung der Demokratie durch Rittinghausen, er verspottet die Leute, die bereit sind, im Namen der Demokratie zu fordern, dass die „Volkszeitungen direkt vom Volke redigiert werden", er weist die Notwendigkeit von Berufs-Journalisten, Berufs-Parlamentariern usw. für die sozialdemokratische Führung des proletarischen Klassenkampfes nach, greift den „Sozialismus der Anarchisten und Literaten" an, die in ihrer „Effekthascherei" die direkte Volksgesetzgebung verherrlichen und ihre sehr bedingte Anwendbarkeit in der modernen Gesellschaft nicht begreifen.

Wer in unserer Bewegung praktisch gearbeitet hat, der weiß, wie stark unter der Masse der studierenden Jugend und der Arbeiter die „primitive" Auffassung der Demokratie verbreitet ist. Kein Wunder, dass diese Auffassung sowohl in die Statuten als auch in die Literatur eindringt. Die Ökonomisten Bernsteinschen Schlages haben in ihrem Statut geschrieben: Paragraph 10: „Alle Angelegenheiten, die die Interessen der gesamten Organisation berühren, werden durch die Mehrheit der Stimmen aller Mitglieder entschieden." Die Ökonomisten, die dem Terror huldigen, schwätzen ihnen nach: „Es ist notwendig, dass die Komiteebeschlüsse durch alle Zirkel gehen, um erst dann zu wirklichen Beschlüssen zu werden" („Swoboda" Nr. 1, S. 67). Man beachte, dass diese Forderung der breiten Anwendung des Referendums aufgestellt wird noch neben der Forderung des Aufbaues der gesamten Organisation auf dem Wahlprinzip! Wir sind natürlich weit davon entfernt, dafür die Praktiker zu verurteilen, die zu wenig Gelegenheit hatten, die Theorie und Praxis wirklich demokratischer Organisationen kennen zu lernen, wenn aber das „Rabotscheje Djelo", das auf eine führende Rolle Anspruch erhebt, sich unter solchen Umständen auf eine Resolution über das breite demokratische Prinzip beschränkt, wie soll man das anders bezeichnen, denn als einfache „Effekthascherei"?

f) Die örtliche und die allgemein-russische Arbeit

Wenn die Einwände gegen den hier auseinandergesetzten Organisationsplan hinsichtlich seines mangelnden Demokratismus und seines verschwörerischen Charakters vollkommen unbegründet sind, so bleibt noch eine Frage übrig, die oft gesteht wird und eine eingehende Betrachtung verdient. Das ist die Frage der Wechselbeziehung zwischen der örtlichen und der allgemein-russischen Arbeit. Es wird die Befürchtung ausgesprochen, dass die Gründung einer zentralisierten Organisation zu einer Verschiebung des Schwerpunktes von der örtlichen Arbeit auf die allgemein-russische führen könnte; dass sie der Bewegung schaden könnte, weil sie unsere Verbindung mit der Arbeitermasse und die Widerstandsfähigkeit der lokalen Agitation überhaupt schwächen müsste. Wir antworten darauf, dass unsere Bewegung in den letzten Jahren gerade darunter leidet, dass unsere Führer an den einzelnen Orten zu sehr von der örtlichen Arbeit erfüllt sind; dass es darum unbedingt notwendig ist, den Schwerpunkt ein wenig auf die allgemein-russische Arbeit zu verschieben; dass eine solche Verschiebung unsere Verbindung mit den Massen und die Widerstandsfähigkeit unserer örtlichen Agitation nicht schwächen, sondern stärken wird. Betrachten wir die Frage der zentralen und der lokalen Zeitungen und bitten wir den Leser, nicht zu vergessen, dass das Zeitungswesen uns nur als Beispiel dient, das die unermesslich viel umfassendere und vielseitigere revolutionäre Arbeit überhaupt illustriert.

In der ersten Periode der Massenbewegung (1896 bis 1898) wird von den örtlichen Führern der Versuch gemacht, eine allgemeinrussische Zeitung herauszugeben – die „Rabotschaja Gazeta"; in der darauffolgenden Periode (1898 bis 1900) macht die Bewegung einen ungeheuren Schritt vorwärts, aber die Aufmerksamkeit der Führer ist vollkommen in Anspruch genommen durch die lokalen Zeitungen. Wenn man alle diese lokalen Zeitungen zusammenzählt, so ergibt es sich, dass auf einen Monat rund eine Nummer der Zeitung kommtM. Ist das nicht eine anschauliche Illustrierung unserer Handwerklerei? Zeigt das nicht mit aller Klarheit, wie unsere revolutionäre Organisation hinter dem spontanen Aufschwung der Bewegung zurückgeblieben ist? Wenn die gleiche Anzahl von Zeitungsnummern nicht von zersplitterten lokalen Gruppen herausgegeben worden wäre, sondern von einer einheitlichen Organisation, so würden wir nicht nur viel Kraft gespart haben, sondern unsere Arbeit wäre auch unvergleichlich viel kontinuierlicher und widerstandsfähiger gewesen. Diese einfache Erwägung wird zu oft sowohl von den Praktikern außer acht gelassen, die fast ausschließlich an lokalen Zeitungen aktiv arbeiten (leider ist es in den meisten Fällen auch heute noch so), als auch von den Publizisten, die in dieser Frage eine erstaunliche Donquichotterie an den Tag legen. Der Praktiker pflegt sich gewöhnlich mit der Erwägung zu begnügen, dass es für die lokalen Führer zu „schwierig" seiN, eine Zeitung im allgemein-russischen Maßstab herauszugeben, und dass lokale Zeitungen besser seien als gar keine. Dieses letzte Argument ist natürlich vollkommen richtig, und wir erkennen nicht weniger als irgendein Praktiker die ungeheure Bedeutung und den ungeheuren Nutzen der lokalen Zeitungen überhaupt an. Aber doch nicht darum handelt es sich, sondern es entsteht die Frage, ob man sich nicht befreien kann von der Zersplitterung und der Handwerklerei, die so anschaulich zum Ausdruck kommen in den dreißig Nummern der lokalen Zeitungen, die im Verlauf von zweieinhalb Jahren in ganz Russland erschienen sind. Man darf sich also nicht auf zwar unbestrittene, aber zu allgemeine Behauptungen über den Nutzen lokaler Zeitungen im Allgemeinen beschränken, sondern man muss auch den Mut haben, ihre negativen Seiten, die die Erfahrung der zweieinhalb Jahre klar gezeigt hat, offen anzuerkennen. Diese Erfahrung zeugt davon, dass lokale Zeitungen in unseren Verhältnissen meistenteils nicht prinzipienfest sind, dass sie politisch keine Bedeutung haben, dass sie in Bezug auf die Verausgabung der revolutionären Kräfte übermäßig kostspielig und in technischer Beziehung vollkommen unzulänglich sind (ich spreche natürlich nicht von der Technik des Drucks, sondern von ihrem seltenen und unregelmäßigen Erscheinen). Alle genannten Mängel sind keine zufälligen, sie sind das unvermeidliche Resultat der Zersplitterung, aus der sich einerseits das Überwiegen der lokalen Zeitungen in der genannten Periode erklärt, und die anderseits durch dieses Überwiegen gefördert wird. Eine einzelne lokale Organisation ist absolut nicht imstande, die Prinzipienfestigkeit ihrer Zeitung zu sichern und sie auf die Höhe eines politischen Organs zu bringen, sie ist nicht imstande, genügend Material für die Beleuchtung unseres gesamten politischen Lebens zu sammeln und auszunutzen. Das Argument aber, mit dem die Notwendigkeit zahlreicher lokaler Zeitungen in freien Ländern verteidigt zu werden pflegt – die Billigkeit des Drucks mit Hilfe von ortsansässigen Arbeitern und die raschere und erschöpfendere Information der Ortsbevölkerung – dieses Argument kehrt sich bei uns, wie die Erfahrung zeigt, gegen die lokalen Zeitungen. Es erweist sich, dass sie, im Sinne der Verausgabung der revolutionären Kräfte, übermäßig kostspielig sind und dass sie besonders selten erscheinen aus dem einfachen Grunde, weil für eine illegale Zeitung, wie klein sie auch sein mag, ein riesengroßer konspirativer Apparat notwendig ist, der einen fabrikmäßigen Großbetrieb erfordert, denn in der Werkstatt eines Handwerkers ist ein solcher Apparat nicht herzustellen. Die Primitivität des konspirativen Apparates führt fast immer dazu (jeder Praktiker kennt eine Menge solcher Beispiele), dass die Polizei das Erscheinen und die Verbreitung von ein oder zwei Nummern ausnützt, um Massenverhaftungen vorzunehmen, durch die der Apparat so weit zerschlagen wird, dass man mit allem von vorne anfangen muss. Ein guter konspirativer Apparat erfordert eine gute berufliche Schulung der Revolutionäre und eine konsequent durchgeführte Arbeitsteilung, diese beiden Forderungen aber übersteigen die Kraft einer einzelnen Ortsorganisation, wie stark sie im gegebenen Moment auch sein mag. Ganz abgesehen von den allgemeinen Interessen unserer gesamten Bewegung (die prinzipiell-konsequente sozialistische und politische Erziehung der Arbeiter), wird auch den speziell lokalen Interessen viel besser Rechnung getragen durch nicht-lokale Zeitungen: das erscheint nur auf den ersten Blick paradox, in Wirklichkeit aber wird es durch die Erfahrung von zweieinhalb Jahren unwiderlegbar bewiesen. Jeder wird zugeben, dass, wenn alle lokalen Kräfte, die dreißig Zeitungsnummern herausgebracht haben, an einer Zeitung gearbeitet hätten, von dieser sechzig, wenn nicht hundert Nummern hätten erscheinen können, so dass alle Eigenheiten der Bewegung rein lokalen Charakters eine viel bessere Beleuchtung gefunden hätten. Natürlich ist das keine leichte Aufgabe, doch müssen wir ihre Notwendigkeit anerkennen, jeder lokale Zirkel muss über sie nachdenken und aktiv an ihr arbeiten, ohne einen Anstoß von außen abzuwarten, ohne sich durch die Zugänglichkeit, die Nähe des Lokalorgans beirren zu lassen, die, wie unsere revolutionäre Erfahrung zeigt, im hohen Maße illusorisch ist.

Einen schlechten Dienst erweisen der praktischen Arbeit auch jene Publizisten, die sich einbilden, den Praktikern besonders nahe zu stehen, die Publizisten, die dieses Illusorische nicht sehen und uns mit erstaunlich billigen und erstaunlich hohlen Behauptungen abfertigen wollen: notwendig sind lokale Zeitungen, notwendig sind Bezirkszeitungen, notwendig sind allgemein-russische Zeitungen. Natürlich ist das alles, allgemein gesprochen, notwendig, aber, wenn man an eine konkrete organisatorische Frage herangeht, so muss man doch auch an die gegebenen Verhältnisse im betreffenden Moment denken. Ist es denn nicht wirklich Donquichotterie, wenn die „Swoboda" (Nr. 1, S. 68), speziell „auf die Frage der Zeitung eingehend", schreibt: „Wir sind der Meinung, dass in jedem halbwegs bedeutenden Arbeiterzentrum eine eigene Arbeiterzeitung vorhanden sein muss. Nicht eine von irgendwo hergebrachte, sondern gerade eine eigene." Wenn dieser Publizist über die Bedeutung seiner Worte nicht nachdenken will, so mag es wenigstens der Leser für ihn tun: wie viele solcher „halbwegs bedeutenden Arbeiterzentren" gibt es in Russland, und welche Verewigung unserer Handwerklerei wäre es, wenn tatsächlich jede Lokalorganisation ihre eigene Zeitung herausgeben wollte! Wie sehr würde diese Zersplitterung die Aufgabe unserer Gendarmen erleichtern, alle örtlichen Führer – und zwar ohne jede „halbwegs bedeutende" Schwierigkeit – schon zu Beginn ihrer Tätigkeit, ohne ihnen erst die Möglichkeit zu geben, wirkliche Revolutionäre zu werden – abzufangen! In einer allgemein-russischen Zeitung – fährt der Verfasser weiter fort – wären die Schilderungen der Machenschaften der Fabrikbesitzer und der „Einzelheiten des Fabriklebens in verschiedenen, nicht in den eigenen Städten" uninteressant, während es „einem aus Orel stammenden Arbeiter nicht langweilig wird, von Oreler Angelegenheiten zu lesen. Er weiß dann immer, wer ,angegriffen', wer ,ausgeschimpft' wird, und sein Herz ist freudig bewegt" (S. 69). Ja, ja, das Herz des Oreler Bürgers ist freudig bewegt, aber zu „bewegt" ist auch der Gedanke unseres Publizisten. Ist diese Verteidigung der Brockensammlerei taktisch richtig? – darüber sollte man nachdenken. Wir stehen hinter niemanden zurück in der Anerkennung der Notwendigkeit und Wichtigkeit der Fabriksenthüllungen, doch darf nicht vergessen werden, dass wir schon so weit gekommen sind, dass es den Petersburgern langweilig geworden ist, die Petersburger Korrespondenzen der Petersburger Zeitung „Rabotschaja Mysl" zu lesen. Für die Fabrikenthüllungen an den einzelnen Orten hatten wir immer Flugblätter, und diese werden auch in Zukunft bleiben müssen, aber den Typus der Zeitung müssen wir auf ein höheres Niveau bringen und sie nicht zu einem Fabrik-Flugblatt degradieren. Für eine „Zeitung" brauchen wir Enthüllungen nicht so sehr der „Kleinigkeiten", wie der großen, typischen Mängel des Fabriklebens, Enthüllungen, die an besonders klaren Beispielen gemacht werden und die darum imstande sind, alle Arbeiter und alle Führer der Bewegung zu interessieren, die geeignet sind, das Wissen der Arbeiter tatsächlich zu bereichern, ihren Gesichtskreis zu erweitern und in einem neuen Bezirke, in einer neuen Berufsschicht von Arbeitern das Interesse für die revolutionäre Bewegung zu wecken.

Ferner können in der lokalen Zeitung alle Machenschaften der Fabrikverwaltung oder anderer Behörden sofort am Orte der Tat aufgegriffen werden. Wie lange dauert es aber, bis die Nachricht in die allgemeine, weit entfernte Zeitung kommt – bis dahin hat man am Orte längst vergessen, was geschehen ist: ,Wann war das doch – ich weiß es nicht mehr!'" (Ebenda.)

Eben – man weiß es nicht mehr! Die im Verlaufe von zweieinhalb Jahren erschienenen dreißig Nummern verteilen sich, wie wir aus derselben Quelle erfahren, auf sechs Städte. Dann kommt also durchschnittlich auf eine Stadt eine Nummer der Zeitung in einem halben Jahre! Und selbst wenn unser leichtsinniger Publizist in seiner Annahme die Produktivität der örtlichen Arbeit verdreifacht (was zweifellos, durchschnittlich genommen, falsch wäre, denn im Rahmen der Handwerklerei ist eine bedeutende Erweiterung der Produktivität unmöglich), so erhalten wir trotzdem nur eine Nummer in zwei Monaten, d. h. etwas, was einer „Ergreifung am Orte der Tat" absolut nicht ähnlich sieht. Dagegen genügt es, wenn sich zehn Ortsorganisationen zusammentun und ihre Delegierten mit aktiven Funktionen für die Herausgabe einer allgemeinen Zeitung betrauen, – und dann wäre es möglich, in ganz Russland nicht Kleinigkeiten aufzugreifen, sondern tatsächlich schlimme und typische Missstände einmal in zwei Wochen zu enthüllen. Daran wird niemand zweifeln, der die Lage in unseren Organisationen kennt. An die Ergreifung des Feindes am Orte der Tat – wenn man diese Worte ernst meint und nicht nur im Sinne einer schönen Phrase – kann eine illegale Zeitung überhaupt nicht denken: das eignet sich nur für ein Flugblatt, denn die Grenzfrist für eine solche Ergreifung übersteigt meist nicht ein oder zwei Tage (man denke zum Beispiel an einen gewöhnlichen kurzfristigen Streik oder an eine Schlägerei in der Fabrik oder an eine Demonstration usw.).

Der Arbeiter lebt nicht nur in der Fabrik, sondern auch in der Stadt" – fährt unser Verfasser fort, indem er mit einer strengen Konsequenz, die Boris Kritschewski selbst Ehre machen würde, vom Besonderen zum Allgemeinen übergeht. Und er weist hin auf Fragen der Stadtdumas, der städtischen Krankenhäuser und Schulen und verlangt, dass die Arbeiterzeitung keine städtische Angelegenheit mit Schweigen übergehe. – Die Forderung ist an und für sich sehr schön, aber sie illustriert besonders anschaulich die inhaltlose Abstraktheit, auf die man sich zu oft bei Erörterungen über Lokalzeitungen beschränkt. Erstens, wenn tatsächlich „in jedem halbwegs bedeutenden Arbeiterzentrum" Zeitungen mit einer so ausführlichen Stadtchronik, wie die „Swoboda" es wünscht, erscheinen würden, so würde das in unseren russischen Verhältnissen unvermeidlich zu einer wahren Brockensammlerei entarten, es würde zur Schwächung des Verständnisses für die Wichtigkeit des allgemein-russischen revolutionären Ansturmes gegen den Absolutismus führen, und die sehr lebensfähigen und eher sich verborgen haltenden oder unterdrückten als mit der Wurzel entfernten Keime jener Richtung stärken, die schon berühmt geworden ist durch den berühmten Ausspruch über die Revolutionäre, die zu viel über das nicht vorhandene Parlament und zu wenig über die vorhandenen Stadt-Dumas sprechen13. Wir sagen „unvermeidlich" und betonen damit, dass die „Swoboda" bewusst das nicht will, dass sie vielmehr das Gegenteil verlangt. Aber gute Absichten allein genügen nicht. Um die Beleuchtung der städtischen Angelegenheiten in die gehörige Perspektive zu unserer Gesamtarbeit zu bringen, ist es zunächst notwendig, dass diese Perspektive vollkommen ausgearbeitet und festgelegt wird, und zwar nicht nur mit Hilfe von Behauptungen, sondern an Hand von zahlreichen Beispielen, dass sie bereits die Festigkeit einer Tradition gewinnt. Soweit sind wir noch lange nicht, das ist aber gerade zuerst erforderlich, ehe es erlaubt sein wird, an eine breite lokale Presse zu denken.

Zweitens ist es notwendig, um wirklich gut und interessant über die städtischen Angelegenheiten zu berichten, sie genau und nicht nur aus Büchern zu kennen. Aber Sozialdemokraten, die ein solches Wissen besitzen, gibt es in ganz Russland fast gar nicht. Um in der Zeitung (und nicht in einer populären Broschüre) von städtischen und staatlichen Angelegenheiten zu sprechen, muss man ein frisches, vielseitiges, von einem tüchtigen Menschen gesammeltes und bearbeitetes Material besitzen. Für das Sammeln und Bearbeiten eines solchen Materials aber genügt die „primitive Demokratie" eines primitiven Zirkels nicht, in dem alle alles tun und sich mit dem Spiel des Referendums vergnügen. Hierzu ist ein Stab von fachmännisch gebildeten Schriftstellern, von fachmännisch gebildeten Korrespondenten, eine Armee von sozialdemokratischen Reportern notwendig, die überall Verbindungen anknüpfen, die es verstehen, in alle „Staatsgeheimnisse" einzudringen (mit denen der russische Beamte so wichtig tut und die er so leicht ausplaudert), hinter alle Kulissen zu schauen, – eine Armee von Leuten, die „dienstlich" verpflichtet sind, überall zu sein und alles zu wissen. Und wir, die Partei des Kampfes gegen jede wirtschaftliche, politische, soziale, nationale Unterdrückung, können und müssen eine solche Armee von alleswissenden Leuten sammeln, ausbilden, mobilisieren und in die vordersten Kampfreihen schicken, – aber das muss doch erst getan werden! Bei uns aber ist nicht nur in den meisten Gegenden noch kein Schritt in dieser Richtung getan worden, sondern es besteht auch fast nirgends die Erkenntnis der Notwendigkeit eines solchen Schrittes. Man suche in unserer sozialdemokratischen Presse lebendige und interessante Artikel, Korrespondenzen und Enthüllungen unserer diplomatischen, militärischen, kirchlichen, städtischen, finanziellen usw. usw. Angelegenheiten; man wird fast nichts oder sehr wenig finden.O Darum „regt es mich immer sehr auf, wenn jemand kommt und schöne' und herrliche Dinge sagt" von der Notwendigkeit, „in jedem halbwegs bedeutenden Arbeiterzentrum" eine Zeitung herauszugeben, in der die Missstände in der Fabrik, in der Stadt, im Staat enthüllt werden!

Das Überwiegen der lokalen Presse über die zentrale ist ein Anzeichen entweder für die Armut oder für den Luxus. Für die Armut – wenn die Bewegung noch nicht genügend Kräfte für einen Großbetrieb besitzt, wenn sie noch in der Handwerklerei steckt und in den „Kleinigkeiten des Fabriklebens" fast ertrinkt. Für den Luxus – wenn die Bewegung die Aufgaben der allseitigen Enthüllungen und der allseitigen Agitation bereits vollkommen bewältigt hat, so dass neben dem Zentralorgan zahlreiche Lokalzeitungen notwendig werden. Es mag jeder für sich entscheiden, wovon das Überwiegen der Lokalzeitungen bei uns im gegenwärtigen Moment zeugt. Ich aber will mich auf die genaue Formulierung meiner Schlussfolgerungen beschränken, um keinen Anlass zu Missverständnissen zu geben. Bis jetzt denkt die Mehrheit unserer örtlichen Organisationen fast ausschließlich an örtliche Zeitungen und arbeitet aktiv fast nur an ihnen. Das ist eine anormale Lage. Es müsste umgekehrt sein: die Mehrheit der örtlichen Organisationen müsste hauptsächlich an ein allgemein-russisches Organ denken und hauptsächlich für dieses arbeiten. Solange das nicht geschieht, werden wir keine einzige Zeitung herausgeben können, die halbwegs imstande wäre, der Bewegung wirklich mit einer allseitigen Agitation in der Presse zu dienen. Wenn das aber geschieht, dann wird ein normales Verhältnis zwischen dem notwendigen Zentralorgan und den notwendigen lokalen Organen von selber hergestellt werden.

Es kann auf den ersten Blick scheinen, dass die Schlussfolgerung, es sei notwendig, den Schwerpunkt von der lokalen Arbeit auf die allgemein-russische Arbeit zu verschieben, nicht anzuwenden ist auf den speziell wirtschaftlichen Kampf: die unmittelbaren Feinde der Arbeiter sind hier die einzelnen Unternehmer oder Gruppen von Unternehmern, die nicht zusammengefasst sind in einer Organisation, die auch nur annähernd erinnert an die rein militärische, streng zentralisierte, bis in alle Einzelheiten von einem einheitlichen Willen geleitete Organisation der russischen Regierung, unseres unmittelbaren Feindes im politischen Kampf.

Aber das ist nicht so. Der ökonomische Kampf – wir haben schon oft darauf hingewiesen – ist ein gewerkschaftlicher Kampf, und darum erfordert er die Vereinigung der Arbeiter nach Berufen, und nicht nur nach dem Orte ihrer Arbeit. Und diese gewerkschaftliche Vereinigung wird um so dringender notwendig, je rascher die Vereinigung unserer Unternehmer zu allerhand Gesellschaften und Syndikaten vorwärtsschreitet. Unsere Zersplitterung und unsere Handwerklerei verhindern direkt diese Vereinigung, für die eine einheitliche allgemein-russische Organisation der Revolutionäre notwendig ist, die fähig wäre, im allgemein-russischen Maßstabe die Leitung der Gewerkschaftsverbände der Arbeiter zu übernehmen. Wir haben schon weiter oben von dem Organisationstypus gesprochen, der für diesen Zweck wünschenswert ist, und jetzt wollen wir noch einige Worte im Zusammenhang mit der Frage unserer Presse sagen.

Dass in jeder sozialdemokratischen Zeitung eine Rubrik für den gewerkschaftlichen (wirtschaftlichen) Kampf sein muss, – das wird kaum jemand bezweifeln. Aber das Anwachsen der Gewerkschaftsbewegung zwingt, auch über eine Gewerkschaftspresse nachzudenken. Wir glauben aber, dass von Gewerkschaftsleitungen in Russland, mit wenigen Ausnahmen, vorläufig noch keine Rede sein kann: das wäre ein Luxus, und uns fehlt fast überall noch das tägliche Brot. Die den Bedingungen der illegalen Arbeit entsprechende und schon jetzt notwendige Form der Gewerkschaftspresse müssten bei uns die Gewerkschaftsbroschüren sein. In ihnen müsste das legaleP und illegale Material über die Arbeitsbedingungen in dem betreffenden Gewerbe, über den Unterschied zwischen den verschiedenen Gegenden Russlands in dieser Hinsicht, über die Hauptforderungen der Arbeiter des betreffenden Berufs, über die Mängel der Gesetzgebung, über die besonders bemerkenswerten Fälle des wirtschaftlichen Kampfes der Arbeiter dieses Arbeitszweiges, über die Anfänge, den gegenwärtigen Stand und die Nöte ihrer gewerkschaftlichen Organisation usw. – gesammelt und systematisch gruppiert werden. Solche Broschüren würden erstens unsere sozialdemokratische Presse befreien von der Masse solcher gewerkschaftlichen Einzelheiten, die speziell nur die Arbeiter eines bestimmten Zweiges interessieren; zweitens würden sie die Resultate unserer Erfahrungen im Gewerkschaftskampf festhalten, sie würden das gesammelte Material, das jetzt buchstäblich in der Menge von Flugblättern und fragmentarischen Korrespondenzen untergeht, sammeln und verallgemeinern; drittens könnten sie als Leitfaden für Agitatoren dienen, denn die Arbeitsbedingungen ändern sich verhältnismäßig langsam, die Grundforderungen der Arbeiter eines bestimmten Arbeitszweiges sind außerordentlich stabil (man vgl. die Forderungen der Weber des Moskauer Bezirks im Jahre 1885 und des Petersburger Bezirks im Jahre 1896), und die Zusammenfassung dieser Forderungen und Nöte könnte Jahre hindurch als ausgezeichnetes Lehrbuch für die wirtschaftliche Agitation in rückständigen Gebieten oder unter rückständigen Arbeiterschichten dienen; die Beispiele erfolgreicher Streiks in einem Gebiet, Daten über die höhere Lebenshaltung, über bessere Arbeitsbedingungen an einem Ort würden die Arbeiter an anderen Orten zu neuem und immer neuem Kampf anfeuern; viertens würde die Sozialdemokratie, wenn sie die Initiative zur Verallgemeinerung des Gewerkschaftskampfes auf sich nimmt und auf diese Weise die Verbindung zwischen der russischen Gewerkschaftsbewegung und dem Sozialismus festigt, gleichzeitig dafür sorgen, dass unsere Gewerkschaftsarbeit einen weder zu kleinen noch zu großen Teil der allgemeinen Summe unserer sozialdemokratischen Arbeit beansprucht. Es fällt der Ortsorganisation, wenn sie losgerissen ist von den Organisationen in anderen Städten, sehr schwer, oft ist es ihr sogar fast unmöglich, dabei ein richtiges Verhältnis einzuhalten (das Beispiel der „Rabotschaja Mysl" zeigt, zu welch ungeheuerlicher Übertreibung nach der Richtung des Trade-Unionismus man dabei kommen kann). Die allgemein-russische Organisation der Revolutionäre aber, die streng auf dem Standpunkt des Marxismus steht, die den ganzen politischen Kampf leitet und über einen Stab von Berufsagitatoren verfügt, wird in der Bestimmung dieses richtigen Verhältnisses nie Schwierigkeiten haben.

1 Beweisstück. D. Red.

A Überall von uns gesperrt

BRabotschaja Mysl" und „Rabotscheje Djelo", besonders die „Antwort" an Plechanow.

C Die Broschüre „Wer wird die politische Revolution vollbringen?" – in dem in Russland veröffentlichten Sammelbuch „Proletarskaja Borjba" (Der proletarische Kampf). Die Broschüre ist vom Kiewer Komitee neu verlegt worden.

D „Die Wiedergeburt des Revolutionismus" und „Swoboda".

2 Dieser Absatz ist in der Ausgabe von 1908 vom Verfasser weggelassen worden. D. Red.

3 Der „ziemlich konsequente Ökonomist", mit dem Lenin, wie er erzählt, eine Zusammenkunft und Unterredung hatte, war aller Wahrscheinlichkeit nach A. Martynow. In seinen Erinnerungen an die erste Begegnung mit Lenin gibt A. Martynow eine Schilderung dieser Zusammenkunft, die sich in vielem mit der Erzählung Lenins deckt (siehe S. 253 des vorliegenden Halbbandes) und die Meinungsverschiedenheit zwischen Lenin und Martynow gerade in der organisatorischen Frage betont. „Ich erinnere mich an meine erste Begegnung mit Lenin im Jahre 1901 erzählt Martynow –, ich war damals Redakteur des ,Rabotscheje Djelo', während Lenin die ,Iskra' aufzubauen begann. Lochow (Olchin) {Redakteur der „Rabotschaja Mysl". D. Red.} vermittelte mir eine Zusammenkunft mit Lenin und Martow in einem kleinen Genfer Restaurant. Wir unterhielten uns über das Programm, über die politischen Aufgaben der Partei und über die politische Taktik, und anscheinend bestanden keine Meinungsverschiedenheiten zwischen uns. Da wendet sich Lenin am Schluss unserer Unterhaltung mit der Frage an mich: ,Nun, und wie stellen Sie sich zu meinem Organisationsplan?' Sofort wurde ich kratzbürstig: ,In diesem Punkt bin ich mit Ihnen absolut nicht einverstanden. Ihr Organisationsplan erinnert mich an die Organisation der mazedonischen Freischärler. Sie schlagen vor, in der Partei eine militärische Disziplin einzuführen; weder bei uns in Russland noch in Westeuropa haben die Sozialdemokraten jemals etwas derartiges gesehen.' Lenin kniff die Augen zusammen, lächelte und antwortete mir: ,Sie sind nur in diesem Punkt mit mir nicht einverstanden, und dieser Punkt enthält gerade die Hauptsache, also haben wir weiter nichts mehr miteinander zu reden.' So gingen wir auseinander … für viele Jahre." („Der große Führer des Proletariats", 1924, S. 8 u. 9. Russisch.)

Die Begegnung Lenins mit Martynow konnte nur im Jahre 1901 stattgefunden haben (wie es auch Martynow verzeichnet), nicht früher, da der Organisationsplan Lenins den sozialdemokratischen Kreisen erst nach den Artikeln Lenins in Nr. 1 und 4 der „Iskra" (Dezember 1900, Mai 1901) bekannt wurde.

Martynow erzählt, die Zusammenkunft mit Lenin habe in Genf stattgefunden. Das erweckt gewisse Zweifel, da die Redaktion nichts davon weiß, dass Lenin im Jahre 1901 in Genf gewesen ist.

Ein anderer bekannter Ökonomist – K. M. Tachtarew (Wetrinski, Tar), der Lenin Ende 1900 traf und in seinen Erinnerungen von dieser Begegnung erzählt, konnte nicht die Person sein, von der Lenin in „Was tun?" spricht, da sich erstens das Datum der Zusammenkunft auf eine frühere Zeit bezieht, und zwar auf eine Zeit noch vor dem Erscheinen der „Iskra", und da zweitens bei der Zusammenkunft mit Tachtarew nicht der Organisationsplan Lenins und die politischen Aufgaben der Arbeiterklasse den Gesprächsstoff bildete, sondern die Frage, ob Plechanow die „Rabotschaja Mysl" redigieren sollte. (K. M. Tachtarew, „Die Arbeiterbewegung in Petersburg 1893 bis 1901. Anhang: Erinnerungen an Wladimir Iljitsch Uljanow-Lenin und an die Spaltung der Partei", 1924. Russisch.

4 Das Wort „lose" von Lenin in deutscher Sprache gebraucht. D. Red.

E Der Kampf der „Iskra" gegen das Unkraut hat den Zorn des „Rabotscheje Djelo" hervorgerufen: „Für die ,Iskra' sind nicht so sehr diese großen Frühjahrsereignisse ein Zeichen der Zeit, wie vielmehr die kläglichen Versuche der Subatowschen Agenten, die Arbeiterbewegung zu ,legalisieren'. Sie übersieht, dass eben diese Tatsachen sich gegen sie wenden; gerade sie zeugen davon, dass die Arbeiterbewegung bedrohliche Dimensionen in den Augen der Regierung angenommen hat" („Zwei Konferenzen", S. 27). Schuld an allem habe der „Dogmatismus" dieser „weltfremden" Orthodoxen. Sie wollen hartnäckig den meterhohen Weizen nicht sehen und bekämpfen das zollhohe Unkraut! Ist das nicht ein „entartetes Gefühl für die Perspektive der russischen Arbeiterbewegung?" (ebenda, S. 27). (Diese Anmerkung fehlte in der Ausgabe von 1908. D. Red.)

5 Das Wort „lose" von Lenin in deutscher Sprache gebraucht. Die Red.

6 Verlegenheit aus Überfluss. D. Red.

F Hier sei nur bemerkt, dass alles, was wir über den „Anstoß von außen" wie auch über alle weiteren Ausführungen der „Swoboda" zur Organisationsfrage gesagt haben, sich voll und ganz auch auf sämtliche Ökonomisten, die vom „Rabotscheje Djelo" mit inbegriffen, bezieht, denn zum Teil predigten und verteidigten sie in aktiver Weise dieselben Auffassungen über Organisationsfragen, zum anderen Teil standen sie solchen Auffassungen nahe.

G Diese Bezeichnung passt vielleicht auf die „Swoboda" mehr als die vorhergehende, denn in der „Wiedergeburt des Revolutionismus" wird der Terrorismus in Schutz genommen, im Artikel aber, von dem hier die Rede ist, der Ökonomismus. Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach! – könnte man überhaupt von der „Swoboda" sagen. Die besten An- und Vorsätze, und im Resultat ein Durcheinander und Chaos, hauptsächlich, weil die „Swoboda", die für die Stetigkeit der Organisation eintritt, von der Stetigkeit des revolutionären Denkens und der sozialdemokratischen Theorie nichts wissen will. Danach streben, den Berufsrevolutionär zu neuem Leben zu erwecken („Wiedergeburt des Revolutionismus") und dazu erstens den exzitierenden Terror und zweitens die „Organisation der Durchschnittsarbeiter" („Swoboda" Nr. 1, S. 66 u. folg.) vorschlagen, die „einen möglichst geringen Anstoß von außen bekommen", – das heißt wahrlich, zur Beheizung des eigenen Hauses das Holz verwenden, aus dem dieses Haus gebaut ist.

7 Als „Zirkel" wird hier der von Lenin gegründete Petersburger „Kampfbund" zur Befreiung der Arbeiterklasse, und insbesondere seine zentrale Gruppe bezeichnet, in der Lenin (zusammen mit J. Martow, G. Krschischanowski u. a.) im Jahre 1895 bis zu seiner Verhaftung arbeitete, die in der Nacht des 21. (9.) Dezember erfolgte. Die Verbindung mit dem „Kampfbund" unterhielt Lenin auch während seiner Gefängnishaft.

H In Militärkreisen z. B. macht sich in letzter Zeit zweifellos eine Belebung des demokratischen Geistes bemerkbar, zum Teil infolge der sich häufenden Fälle von Straßenkämpfen gegen solche „Feinde", wie es die Arbeiter und Studenten sind. Und sobald es die vorhandenen Kräfte erlauben, müssen wir unbedingt auf die Propaganda und die Agitation unter den Soldaten und Offizieren, auf die Gründung von „Militärorganisationen", die unserer Partei angehören, die größte Aufmerksamkeit lenken.

I Ich erinnere mich, wie mir ein Genosse erzählte, dass ein Fabrikinspektor, der der Sozialdemokratie helfen wollte und ihr auch wirklich half, sich bitter darüber beklagte, dass er nicht wisse, ob seine „Information" das revolutionäre Zentrum tatsächlich erreiche, inwieweit seine Hilfe notwendig sei und in welchem Maße die Möglichkeit bestehe, seine kleinen Dienste auszunützen. Jeder Praktiker kennt natürlich mehr solcher Fälle, in denen uns infolge unserer Handwerklerei Verbündete verloren gingen. Solche im einzelnen „Kleinen", in ihrer Summe aber unschätzbaren Dienste könnten und würden uns die Angestellten und Beamten nicht nur der Fabriken, sondern auch der Post, der Eisenbahn, der Zollbehörde, der Adelsinstitutionen, der Kirchen und jeder anderen Behörde erweisen, selbst die Polizeibeamten und Leute aus Hofkreisen! Wenn wir eine wirkliche Partei, eine wirkliche revolutionäre Kampforganisation schon hätten, dann würde die Frage all dieser „Helfer" nicht so akut sein, dann würden wir uns nicht beeilen, sie stets in das Innerste der Illegalität hineinzuziehen, sondern wir würden sie im Gegenteil besonders hüten oder sogar speziell Leute für solche Funktionen schulen, da ja viele Studenten der Partei als „Helfer" in amtlichen Stellungen viel mehr nützen könnten denn als „kurzfristige" Revolutionäre. Aber – ich wiederhole es nochmals – nur eine bereits vollkommen gefestigte Organisation, die nicht unter dem Mangel an aktiven Kräften leidet, ist berechtigt, diese Taktik anzuwenden.

J „Swoboda" Nr. 1, Artikel „Organisation", S. 66: „Mit schwerem Schritt vorwärtsschreitend, wird die Arbeitermasse alle Forderungen festigen, die im Namen der russischen Arbeit aufgestellt werden" – Arbeit unbedingt gesperrt geschrieben! Und derselbe Verfasser ruft aus: „Ich stehe den Intellektuellen absolut nicht feindlich gegenüber, aber …" (das ist dasselbe aber, das Schtschedrin in die Worte übersetzt: Die Ohren können nicht über die Stirn hinauswachsen!) … „aber es regt mich immer schrecklich auf, wenn ein Mensch kommt, und eine Menge herrlicher Dinge sagt und verlangt, dass sie wegen ihrer (oder seiner?) Schönheit und anderer Vorzüge angenommen werden" (S. 62). Ja, auch mich „regt das immer schrecklich auf"…

K Man vergleiche „Die Aufgaben der russischen Sozialdemokraten", S. 21. Polemik gegen P. L. Lawrow.

LDie Aufgaben der russischen Sozialdemokraten", S. 23. Hier übrigens noch eine Illustration der Tatsache, dass das „Rabotscheje Djelo" entweder nicht versteht, was es sagt, oder seine Ansichten „nach der Windrichtung" ändert. In Nr. 1 des Rabotscheje Djelo" liest man gesperrt gedruckt: „Der dargelegte Inhalt der Broschüre stimmt vollkommen überein mit dem Redaktionsprogramm des „Rabotscheje Djelo" (S 142) Wirklich? Mit den „Aufgaben" stimmt die Ansicht überein, dass man der Massenbewegung nicht als erste Aufgabe den Sturz des Absolutismus stellen kann?, stimmt die Theorie des „ökonomischen Kampfes gegen die Unternehmer und die Regierung" überein?, stimmt die Stadien-Theorie überein? Wir überlassen es dem Leser, darüber zu urteilen, ob von Prinzipientreue die Rede sein kann bei einem Organ, das den Begriff „Übereinstimmung" so originell auffasst.

8 Das Zitat ist einer bibliographischen Notiz von V. Sassulitsch („Sarja" Nr. 2/3, Dezember 1901) entnommen, die zwei Publikationen der „revolutionär-sozialistischen" Gruppe „Swoboda" gewidmet ist: Der Broschüre „Die Wiedergeburt des Revolutionismus in Russland", und der Zeitschrift „Swoboda".

9 Lenin meint hier natürlich die revolutionäre Emigration. Die Red.

10 In der Zeitschrift „Nakanunje" sind in der Form von Briefen an die Redaktion zwei Artikel J. Lasarews über diese Frage veröffentlicht worden: „Die Spaltung in der russischen sozialdemokratischen Partei" (Nr. 15 und 16, April und Mai 1900) und „Aus Anlass einer Spaltung" (Nr. 17/18, Juni 1900). Der erste Artikel ist vom 20. März, der zweite vom 20. und 26. Mai datiert. In dem Kampf, den die Gruppe „Befreiung der Arbeit" mit Plechanow an der Spitze gegen den zum Ökonomismus abgeschwenkten „Auslandsbund der russischen Sozialdemokraten" führte, stellte sich die Zeitschrift „Nakanunje" auf die Seite der Ökonomisten. Die Veröffentlichung des Plechanowschen „Vademecums", das eine scharfe Kritik der „Jungen" enthielt, bezeichnete J. Lasarew im „Nakanunje" als die „Ausstoßung von aufrichtigen, aktiven und gewissenhaften Genossen aus der sozialdemokratischen Kirche", und er entrüstete sich darüber, dass die Gruppe „Befreiung der Arbeit" die Zensur über den freien Gedanken, „über das freie Wort" verhängte.

11 Das Wort „Mehr" ist in der Ausgabe von 1908 weggelassen. Die Red.

12 Der Titel des Kautskyschen Buches lautet: „Der Parlamentarismus, die Volksgesetzgebung und die Sozialdemokratie", Stuttgart, Dietz. 1893. Zu der Zeit, als Lenin an seiner Broschüre „Was tun?" arbeitete, gab es noch keine russische Übersetzung dieses Buches.

M Siehe den „Bericht an den Pariser Kongress" (S. 14): „Seit jener Zeit (1897) bis zum Frühjahr 1900 sind an verschiedenen Orten dreißig Nummern verschiedener Zeitungen erschienen im Durchschnitt erschien monatlich mehr als eine Nummer. {Der volle Titel des Berichtes lautete: „Bericht über die russische sozialdemokratische Bewegung an den Internationalen Sozialistenkongress in Paris 1900". Der Bericht, der im Auftrag des „Auslandsbundes der russischen Sozialdemokraten" von der Redaktion des „Rabotscheje Djelo" erstattet wurde, ist vom „Auslandsbund" im Jahre 1901 in Genf als Broschüre herausgegeben worden, die auch den Bericht des jüdischen „Bund' („Geschichte der jüdischen Arbeiterbewegung in Russland und Polen") an den Kongress enthielt. Die Verfasser des Berichts waren B. Kritschewski und W. Kossowski.}

N Diese Schwierigkeit ist nur eine scheinbare. In Wirklichkeit besteht kein einziger örtlicher Zirkel, der nicht die Möglichkeit hätte, die eine oder die andere Funktion der allgemein-russischen Arbeit aktiv auszuführen. „Sage nicht: ich kann nicht, sondern sage: ich will nicht."

13 Lenin meint folgende gegen den revolutionären Marxismus im allgemeinen und insbesondere gegen das Programm der Gruppe „Befreiung der Arbeit" gerichtete Stelle aus dem Artikel des äußerst gemäßigten Ökonomisten R. M.: „Unsere Wirklichkeit" (Sonderbeilage zur „Rabotschaja Mysl", September 1899): „Was uns in diesen Programmen in Staunen versetzt, ist die Tatsache, dass sie stets die Vorzüge der Tätigkeit der Arbeiter in dem (bei uns nicht vorhandenen) Parlament in den Vordergrund stellen und dabei (dank ihrem revolutionären Nihilismus) die Wichtigkeit der Teilnahme der Arbeiter an den bei uns vorhandenen gesetzgebenden Versammlungen der Fabrikbesitzer, die sich mit der Arbeitergesetzgebung befassen, an den Ämtern für Fabrikangelegenheiten, die zur Hälfte aus Beamten und zur Hälfte aus eben denselben Fabrikbesitzern zusammengesetzt sind, völlig ignorieren…, oder z. B. die Teilnahme der Arbeiter an der städtischen Selbstverwaltung, die jetzt, wo die Regierung plant, allen Wohnungsinhabern das Wahlrecht zu gewähren, für die Arbeiter eine gewisse reale Bedeutung gewinnt."

Die Anschauungen R. M.s werden von Lenin einer Kritik unterzogen in dem Artikel „Eine rückschrittliche Richtung in der russischen Sozialdemokratie".

O Aus diesem Grunde wird unser Standpunkt sogar durch das Beispiel außerordentlich guter Lokalorgane nur bestätigt. Z. B. der „Juschny Rabotschiist eine ausgezeichnete Zeitung, der man Mangel an Prinzipienfestigkeit nicht vorwerfen kann. Aber das, was sie der örtlichen Bewegung geben wollte ist nicht erreicht worden, infolge ihres seltenen Erscheinens und des häufigen Auffliegens. Das was in diesem Moment für die Partei das Dringendste ist, – die prinzipielle Erörterung der Grundfragen der Bewegung und die allseitige politische Agitation, ging über die Kraft einer lokalen Zeitung. Was aber besonders gut an ihr war, z.B. die Artikel über den Kongress der Bergwerksbesitzer, über die Arbeitslosigkeit usw., stellte kein streng lokales Material dar, sondern es interessierte ganz Russland und nicht nur den Süden. Solche Artikel haben wir in unserer ganzen sozialdemokratischen Presse nicht gehabt.

P Das legale Material ist in dieser Beziehung besonders wichtig, und wir verstehen es noch sehr wenig, es systematisch zu sammeln und auszunutzen. Es wird kaum eine Übertreibung sein, zu sagen, dass man auf Grund nur des legalen Materials noch irgendwie eine Gewerkschaftsbroschüre schreiben kann, dass das aber lediglich auf Grund des illegalen Materials nicht möglich ist. Wenn wir von Arbeitern illegales Material über Fragen, wie sie zum Beispiel ,.Rabotschaja Mysl" veröffentlicht hat {Die Gruppe „Rabotschaja Mysl" gab außer den 16 Nummern der Zeitung gleichen Namens einige Broschüren heraus, die die materielle Lage der Arbeiter in den einzelnen Fabriken schilderten. Bekannt sind die Broschüren „Die Pahlsche Fabrik" (geschrieben von W. P. Nogin) und „Die Maxwell-Fabrik".}, sammeln, so vergeuden wir umsonst viel Kraft von Revolutionären (die in diesem Falle leicht durch legal tätige Personen ersetzt werden könnten), und trotzdem bekommen wir nie ein gutes Material, denn die Arbeiter, die meist nur eine Abteilung der großen Fabrik und fast immer nur die wirtschaftlichen Resultate kennen, nicht aber die allgemeinen Bedingungen und Normen ihrer Arbeit, haben nicht die Möglichkeit, solche Kenntnisse zu erwerben, wie sie die Fabrikangestellten, Inspektoren, Ärzte usw. besitzen und die in kleinen Zeitungskorrespondenzen und in speziellen Industrie-, Sanitäts-, Semstwo- und anderen Schriften in Massen verstreut sind.

Ich erinnere mich noch meiner „ersten Erfahrung", die ich nie wiederholen würde. Viele Wochen hindurch beschäftigte ich mich damit, einen Arbeiter, der mich häufig besuchte, eifrig nach allen möglichen Einrichtungen der großen Fabrik auszufragen, in der er arbeitete. Es ist mir zwar, wenn auch mit ungeheurer Schwierigkeit, gelungen, eine Beschreibung (nur der einen Fabrik!) irgendwie zusammenzustellen, aber der Arbeiter sagte mir immer lächelnd am Schluss, indem er sich den Schweiß von der Stirne wischte: „Es fällt mir leichter, Überstunden zu machen, als Ihre Fragen zu beantworten!" {Der „Arbeiter", den Lenin erwähnt, war anscheinend I. W. Babuschkin (1873–1906, siehe den von Lenin im Jahre 1910 geschriebenen Nekrolog), ein hervorragendes Mitglied des Petersburger „Kampfbundes", der zur Zeit des Aufenthalts Lenins in Petersburg im Semjanikow-Werk (Newaer Mechanische Werke) arbeitete. Babuschkin erzählt in seinen Erinnerungen, die in London im Jahre 1902 im Auftrage Lenins geschrieben, jedoch erst im Jahre 1925 (im Verlag des Istpart [Kommission zum Studium der Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion und der russischen Revolution. Die Red.] veröffentlicht worden sind, von einem Zirkel, dem er im Jahre 1894 angehörte und den Lenin leitete, der dort Vorlesungen über politische Ökonomie hielt. „Diese Vorlesungen – sagt Babuschkin – erzogen uns gleichzeitig zur selbständigen Arbeit, zur Beschaffung von Material. Wir erhielten vom Lektor Zettel mit ausgearbeiteten Fragen, die von uns sorgfältige Kenntnis und Beobachtung des Lebens in den Fabriken und Betrieben erforderten." Weiter erzählt Babuschkin, wie schwierig es war, die von Lenin benötigten Informationen über das Fabrikleben zu sammeln.}

Je energischer wir den revolutionären Kampf führen werden, um so mehr wird die Regierung gezwungen sein, einen Teil der „gewerkschaftlichen" Arbeit zu legalisieren, wodurch sie uns einen Teil unserer Last abnehmen wird.

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