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Wladimir I. Lenin 19051003 Der Semstwokongress

Wladimir I. Lenin: Der Semstwokongress

[Proletarij", Nr. 19, 20. September/5. Oktober 1905. Nach Sämtliche Werke, Band 8, Wien-Berlin 1931, S. 331-337]

Am Montag, den 12./25. September, wurde in Moskau der Kongress der Funktionäre der Semstwos und der Stadtverwaltungen eröffnet, der die Frage des Verhaltens zur Duma behandelt und endgültig entschieden hat. Dieser Kongress bezeichnet gleich den vorhergegangenen Semstwokongressen einen neuen Schritt auf dem Wege der politischen Entwicklung und politischen Organisierung der Bourgeoisie Russlands. Deshalb muss jeder klassenbewusste Arbeiter diese Bildung einer bürgerlichen konstitutionellen Partei aufmerksam verfolgen. Die politische Entwicklung des Proletariats als Klasse ging immer und überall Hand in Hand mit der politischen Entwicklung der Bourgeoisie als Klasse.

Doch außer dieser allgemeinen Bedeutung des Semstwokongresses kommt ihm auch noch eine gewaltige Bedeutung für die außerordentlich brennende Tagesfrage unseres Verhaltens zur Duma zu. Kompromiss der Bourgeoisie mit dem Zarismus oder entschiedener Kampf jener gegen diesen? – darin eben besteht das Wesen dieser Frage, die bekanntlich auch in der Sozialdemokratie taktische Meinungsverschiedenheiten hervorruft.

Wir erinnern uns vor allem daran, dass die Semstwo-Männer auf ihrem vorhergegangenen Kongress die Bulyginsche Duma entschieden verurteilt und den bekannten Verfassungsentwurf der Oswoboschdjenije-Leute (Monarchie und Zweikammersystem) angenommen haben. Die Frage des Dumaboykotts wurde anfangs von der Mehrheit positiv entschieden, alsdann jedoch neuerlich zur Debatte gestellt und bis zum nächsten Kongress vertagt, der unverzüglich nach der Veröffentlichung des Gesetzes über die Reichsduma hätte einberufen werden sollen; es wurde sogar von seiner telegraphischen Einberufung gesprochen. In Wirklichkeit wurde der Kongress gar nicht so bald einberufen. Wie wir in Nr. 14. des „Proletarij" vermerkten1, waren anfangs Gerüchte über seine Absagung durch die Semstwo-Männer im Umlauf. Dann wurden die Verhandlungen des Herrn Golowin mit Durnowo bekannt, die wir in der vorigen Nummer des „Proletarij" beschrieben und bewertet haben und die mit der Genehmigung des Kongresses durch die Polizei endeten. Der Kongress fand mithin unter ganz anderen Voraussetzungen statt als der vorangegangene: damals verbot die Polizei ihn, drohte, ihn auseinanderzutreiben, stellte ein Protokoll auf und setzte nach dem Kongress eine Untersuchung durch den Strafsenat fest; jetzt haben sich die Semstwo-Männer und die Polizei vorher besprochen und verständigt.

Um dem Leser die ganze Bedeutung dieses Unterschiedes zwischen „damals" und „heute" augenfälliger zu machen, erinnern wir an die Erklärung der letzten Nummer des „Oswoboschdjenije". Herr „Independent" („Unabhängiger", unabhängig wahrscheinlich von der Polizei?) schrieb in Nr. 76, in völliger Übereinstimmung mit dem Verfasser des Leitartikels derselben Nummer, folgendes:

Von irgendwelchen Kompromissen darf nicht einmal die Rede sein. So wie früher hat man die Freiheit zu erobern, nicht aber sie zu erbetteln … Man darf, und das ist im höchsten Grade wichtig, keine Minute lang weder auf die früheren Kampfmethoden noch auf die bereits eroberten Positionen verzichten. Wenn auch hier die Möglichkeit von Kompromissen vorliegt, muss sie sofort und entschlossen beseitigt werden. Alles was bis heute zur Organisierung der freiheitlichen Kräfte getan wurde, muss auch fernerhin getan werden … Die Tätigkeit der Kongresse, Verbände und Versammlungen muss in demselben Geist und in derselben Richtung wie früher fortgesetzt werden."2

Klarer kann man sich nicht ausdrücken. Das Organ der Semstwo- oder „konstitutionell-demokratischen" Partei spricht sich nach dem 6./19. August entschieden unbedingt gegen den Verzicht auf die früheren Kampfmethoden aus. Doch gerade darin besteht ja das Wesen der verlogenen Position der liberalen Bourgeoisie, dass sie neben dem Wunsch nach Freiheit den nicht weniger heißen Wunsch nach einem Kompromiss mit dem Zarismus hegt. Deshalb sagt sie das eine und tut das andere. Um „nicht auf die früheren Kampfmethoden zu verzichten", wäre es nötig, die Duma zu boykottieren.

Nachdem man auf den Boykott verzichtet hatte, musste man logischerweise unvermeidlich auf einige „frühere Kampfmethoden" verzichten. Das „Oswoboschdjenije" begann gerade dann die Kompromisse zu verurteilen, als Golowin den Kompromiss mit Durnowo schloss. Das „Oswoboschdjenije" schrie: „Keine Minute lang verzichten", gerade dann, als der Semstwokongress auf die frühere Freiheit seiner Tagungen verzichtete. Aus Anlass des „Geschenks" der Duma, dieses angeblichen Anfangs der Freiheit, haben sich die Semstwo-Männer damit einverstanden erklärt, weniger frei zu beraten.

Tatsache ist: 1. das Programm des Kongresses wurde von Herrn Durnowo, d.h. der Polizei, beschnitten; 2. der Vorsitzende verpflichtete sich, im Falle der Behandlung einer Frage, die nicht auf dem von der Polizei gütigst erlaubten Programm steht, den Kongress zu schließen; 3. der Kongress war damit einverstanden, in Anwesenheit eines Polizisten zu tagen, eines Delegierten Durnowos (des Chefs der Kanzlei), der die Vollmacht hatte, im Falle der Verletzung der von Herrn Golowin mit Herrn Durnowo vereinbarten „Bedingungen" den Kongress zu schließen; 4. auf dem Kongresse waren von der Polizei, ebenfalls unter Androhung der Auflösung, „aufrührerische Zwischenrufe" untersagt (Telegramm des Spezialkorrespondenten der konservativen Zeitung „Temps", der hinzufügt, alle diese Bedingungen seien korrekt beachtet worden).

Es versteht sich von selbst, dass wir, da wir unsere Kenntnisse aus ausländischen Zeitungen schöpfen, nicht für die unbedingte Richtigkeit und Vollständigkeit dieser Nachrichten bürgen können. Doch es besteht kein Grund, daran zu zweifeln, dass sie im Großen und Ganzen richtig sind. Mehr noch, Herr Golowin (der seine Verhandlungen mit Durnowo natürlich nicht für die Öffentlichkeit bestimmte!) hat der Polizei in Bezug auf die treu-untertänige Aufführung der Semstwo-Männer gewiss noch größere Versprechungen gemacht.

Die Tatsache ist unanfechtbar. Die Worte des „Oswoboschdjenije" gehen mit den Taten der Oswoboschdjenije-Leute von Grund auf auseinander. Die Schriftsteller des „Oswoboschdjenije" machen schöne Phrasen gegen die Polizei, während seine Praktiker ihre Angelegenheiten mit der Polizei auf gütliche Weise ins Reine bringen. Der Beginn der Semstwokampagne für die Dumawahlen fiel mit dem Beginn des Kompromisses der Semstwo-Bourgeoisie mit dem Absolutismus zusammen.

Die ausländischen Korrespondenten vermerken einstimmig den friedlichen Charakter dieses Kongresses der Semstwo-Männer im Vergleiche mit dem vorhergegangenen. Für den Boykott der Duma sprach sich nur ein – anderen Nachrichten zufolge zwei – Redner aus. Die Mehrheit trat für die Beteiligung ein (wir schrieben bereits in Nr. 12 des „Proletarij", noch vor dem Erscheinen des Gesetzes über die Duma, dass die Ansicht des rechten Flügels der Semstwo-Männer in dieser Frage bereits feststehe). Die Mehrheit fand, dass die Nichtbeteiligung an den Wahlen ein „Zeichen der Furchtsamkeit" wäre, eine Ansicht, die, wie wir wissen, von Parvus und der neuen „Iskra" völlig geteilt wird. Im Kompromiss mit der Polizei hat sich dafür die Tapferkeit unserer Semstwo-Männer gezeigt…

Der Kongress nahm eine Resolution an, in der anstelle der Verurteilung der Duma nur gesagt wird (wir wissen nur nicht, ob furchtsam oder tapfer), dass „die Duma keine Volksvertretung im genauen Sinne des Wortes ist". Die russischen Bürger werden eingeladen, sich auf der Grundlage der von den Semstwokongressen früher angenommenen Programme zu vereinigen und auf dem Boden der Duma zu kämpfen. Über den Kampf außerhalb der Duma und unabhängig von der Duma steht in der Resolution kein Wort; das heißt, um es mit den Worten des von der Polizei „unabhängigen" Oswoboschdjenije-Mannes auszudrücken: „Keine Minute lang auf die früheren Kampfesmethoden verzichten" …

Ihre frühere, unangebrachte „revolutionäre" Glut mäßigend, ließen sich die Semstwo-Männer die „positive" Arbeit im Zusammenhang mit der Duma angelegen sein. Sie arbeiteten ein ausführliches politisches Programm aus (seinen vollen Wortlaut besitzen wir noch nicht); sie versuchten, ihren Rückzug von der Demokratie mit der Wiederholung der Hauptpunkte des gemäßigten Konstitutionalismus zu verhüllen; sie behandelten eingehend die Frage der Wahlkampagne, der Organisierung eines zentralen und lokalen Wahlkomitees, der Aufstellung der Kandidatenlisten und anderes mehr.

Ist es nach alledem wirklich noch nicht klar, wohin der Liberalismus der Großgrundbesitzer und Händler die Semstwo-Männer und die Oswoboschdjenije-Leute treibt?

Dahin, dass sie beginnen, eine Kampflosung der Demokratie nach der anderen, alles, was die Rechte des revolutionären Volkes sicherstellt, was den Kampf für die Freiheit fördert und ausbreitet, über Bord zu werfen (in der Resolution kein Wort zu sagen vom Kampfe außerhalb der Duma usw.)! Dass sie beginnen, alle jene Forderungen der Demokratie zu festigen, die nur der Bourgeoisie allein Macht verschaffen (vor allem Sitze in der Duma)! Dass sie weniger Agitation im Volke und mehr Geschäftigkeit in der Duma entwickeln!

Wie treffend sagte der „Liberale" und gestrige Anbeter des Absolutismus William Stead (siehe seinen Brief vom 26. September in den „Times")3, dass der äußere Friede einen inneren Frieden, den Frieden zwischen dem Zaren und der liberalen Bourgeoisie erforderte, der durch das Gesetz vom 6./19. Aug. verkündet wurde! Die Semstwo-Männer beweisen durch ihre Haltung, dass sie auf den Frieden eingehen, obgleich sie natürlich bei weitem nicht sofort und bei weitem nicht in allem Frieden schließen werden.

Herr Michael Stachowitsch, ein Freund und Mitarbeiter Schipows“ – schrieb der Korrespondent des „Temps" am 14./27. September – „rechnet auf die Gründung einer Partei des Zentrums, die für den Absolutismus und für eine beratende Duma ist; er behauptet, viele Mitglieder der extremen Parteien“ (!! welche Beschimpfung an die Adresse der Oswoboschdjenije-Leute! Die Red. d. „Proletarij") „seien bereit, sich dieser Partei anzuschließen."4

Die Behauptung des Herrn Stachowitsch wird nicht nur durch die Worte vieler legaler Zeitungen, sondern noch mehr durch die Taten der Herren Semstwo-Männer bestätigt. Herr M. Stachowitsch war auf dem Kongress anwesend, teilt der Korrespondent der „Times" am 13./26. September mit.

Er glaubt fest an den Sieg der gemäßigten Elemente; und in der Tat fehlen fast gänzlich die üblichen erbitterten Beschuldigungen (fiery denunciations) gegen die Regierung, mit Ausnahme zufälliger (!!) Hinweise auf die kaukasischen Schrecken; wie wenn er seine Voraussage (forecast) bestätigte (rather confirms)." „Die Stimmung des Kongresses – telegraphiert derselbe Korrespondent der konservativen englischen Zeitung – steht in erstaunlichem Gegensatz zu der Stimmung, die auf dem Juli-Kongress herrschte, als eine große Zahl der Delegierten für den Boykott der Duma eintrat."

Wird sich die „Iskra" wirklich auch jetzt noch nicht von ihrer irrtümlichen Meinung lossagen, dass jene, die für den Boykott eintraten, das passive Fernhalten wollten, während die für die Beteiligung eintretenden Stachowitsche einen ernsthaften Kampf wollen? Wird sie am Ende jetzt noch, zusammen mit Parvus, für ein Kompromiss mit den Oswoboschdjenije-Leuten und für ihre Unterstützung eintreten, nachdem sie offensichtlich begonnen haben, sich mit den Durnowos zu verständigen?

P. S. Die Gerechtigkeit gebietet zu sagen, dass stets neue und neue Angaben über die Nichtübereinstimmung der in Russland befindlichen Neu-Iskristen mit der neuen „Iskra" eintreffen. Wir erhielten soeben ein Flugblatt der (menschewistischen) Petersburger Gruppe: „Reichsduma oder konstituierende Versammlung".5 Neben der Kritik an der Duma begegnen wir hier der Losung „Nieder mit der Duma!". Die Vertreter der Arbeiter werden aufgefordert, den Liberalen zu sagen, „dass sie die Reichsduma nicht anerkennen sollen", „dass sie verpflichtet sind, auf ihr Recht (im Flugblatt nicht deutlich gedruckt) der Wahl in die Duma zu verzichten", dass sie den Arbeitern helfen sollen, „sich zum Kampfe gegen die Schwarzen Hunderte und die Reichsduma zu bewaffnen". Auf diese Weise haben die Petersburger Menschewiki die Losung des aktiven Boykotts angenommen. Wie im berühmten Fall des „Planes für die Semstwokampagne" geht die „Iskra" mit ihren russischen Anhängern auseinander. Nur in einer Hinsicht nähern sich die Petersburger Menschewiki der „Iskra": sie fordern die Arbeiter auf, sogleich „in den Fabriken, Werkstätten, Betriebsabteilungen Vertreter" zu wählen, „so wie sie die Kommission Schidlowski gewählt haben" … „Mögen unsere Vertreter, nachdem sie sich versammelt haben, ebenso gegen die Reichsduma kämpfen, wie unsere in die Kommission Schidlowski Gewählten gegen diese schlaue Falle des Absolutismus kämpfen." Diese Losung gleicht sehr der iskristischen Losung der „revolutionären Selbstverwaltung", obwohl die Genossen von der Petersburger Gruppe dieses ungeschickt pathetische Wort natürlich nicht gebrauchen. Wir zweifeln nicht, dass die Petersburger Arbeiter die Unrichtigkeit dieser Losung und die Fehlerhaftigkeit des Vergleiches mit der Kommission Schidlowski einsehen werden. Damals boykottierten die Arbeiter die Kommission, jetzt boykottiert die Duma die Arbeiter.

Die revolutionäre Selbstverwaltung unter Beibehaltung der Macht des Zaren kann nur ein kleines Stückchen Revolution sein (Beschluss der Smolensker Stadtduma usw.). Sie zur Hauptlosung des revolutionären Proletariats zu machen, bedeutet, Verwirrung zu stiften und den Oswoboschdjenije-Leuten in die Hände zu arbeiten. Indem wir die Organisation der revolutionären Kräfte des Proletariats und der Bauernschaft entwickeln, ausbauen, festigen und ausbreiten, dürfen wir diese Organisation des Krieges, diese Organisation des Aufstandes nicht mit der Selbstverwaltung verwechseln. Sowohl nach ihrer Bestimmung als auch nach der Art ihrer Entstehung und nach ihrem Charakter ist die Organisation des bewaffneten Aufstandes, die Organisation der revolutionären Armee der Organisation der revolutionären Selbstverwaltung keineswegs ähnlich. Je eifriger sich die liberalen Bourgeois, die Oswoboschdjenije-Leute, bemühen, die konsequenten revolutionär-demokratischen Losungen zu beschneiden, abzustumpfen und zu stutzen, desto deutlicher und direkter müssen wir sie aufstellen: Einberufung der vom ganzen Volke gewählten konstituierenden Versammlung durch die provisorische revolutionäre Regierung, Organisierung des bewaffneten Aufstandes und der revolutionären Armee zum Sturze der zaristischen Gewalt.

1 Die Mitteilung, dass der Semstwo-Kongress nicht stattfinden wird, war in der „Frankfurter Zeitung" vom 21. August veröffentlicht. Eine Notiz hierüber war in Nr. 14 des „Proletarij" vom 16./29. August unter den „Letzten Nachrichten" mit der Überschrift „Die ,liberalen' Semstwo-Männer weichen schon zurück?" enthalten. Diese Notiz stammte aller Wahrscheinlichkeit nach von Lenin.

2 Der mit „Independent" gezeichnete Artikel in Nr. 76 des „Oswoboschdjenije" vom 2./15. September 1905 war betitelt: „Die Scheinkonstitution und die Form des weiteren Kampfes."

3 Der in der Londoner „Times" vom 26. September 1905 abgedruckte Brief Williams Steads war vom 21. September datiert und trug die Überschrift: „Russia's new great hope" (Russlands neue große Hoffnung).

4 Die zitierten Worte sind dem „Temps", Nr. 16.170 vom 27. September 1905, entnommen. Der vom 21. September datierte Bericht trug die Überschrift: „La Situation générale en Russie (Lettre de notre correspondent paticulier)" (Die allgemeine Lage in Russland. Brief unseres Sonderberichterstatters).

5 Die Proklamation ist vom August 1905 datiert. Höchstwahrscheinlich wurde sie von W. O. Zederbaum (Georgij), einem hervorragenden Funktionär der menschewistischen Gruppe in Petersburg, im Jahre 1905 geschrieben. Diese Gruppe stand im Herbst 1905 stark unter dem Einfluss Trotzkis, der in Petersburg unter dem Decknamen Pjotr Petrowitsch tätig war.

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