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Wladimir I. Lenin 19050914 Die Theorie der Selbstentstehung

Wladimir I. Lenin: Die Theorie der Selbstentstehung1

[Proletarij", Nr. 16, 1./14 September 1905. Nach Sämtliche Werke, Band 8, 1931, S. 259-265]

Die ,Iskra' hat gezeigt, dass sich die konstituierende Versammlung auf dem Weg der Selbstentstehung, ohne Mitwirkung irgendeiner Regierung, also auch nicht der provisorischen, bilden kann. Von jetzt ab kann diese entsetzliche Frage als erschöpft gelten, und der ganze Streit, der sich an sie knüpfte, muss aufhören."

So schreibt der Bund in Nr. 247 der „Pоslednije Iswestija", datiert vom 19. August/1. September2. Wenn dies keine Ironie ist, so kann man sich eine bessere „Entwicklung" der iskristischen Ansichten nicht vorstellen. Jedenfalls ist die Theorie der „Selbstentstehung" festgelegt, die „entsetzliche Frage" ist erschöpft, der Streit „muss aufhören". Welcher Segen! Wir werden jetzt leben, ohne uns über diese entsetzliche Frage zu streiten, wir werden diese neue, frisch entdeckte, einfache und wie ein Kinderauge klare Theorie der „Selbstentstehung" pflegen. Es ist wahr, diese Selbstentstehungstheorie ist nicht selbständig aus sich heraus entstanden, sondern vor aller Augen, als eine Frucht der Ehe des Bund mit der neuen „Iskra" – aber nicht die Entstehung einer Theorie ist wichtig, sondern ihr Wert!

Wie wenig schlau waren doch diese unglücklichen russischen Sozialdemokraten, die die „entsetzliche Frage" sowohl auf dem 3. Parteitag der SDAPR als auch auf der Konferenz der Neu-Iskristen erörterten: die einen redeten immerfort von der provisorischen Regierung zum Zweck der Entstehung – nicht Selbstentstehung – der konstituierenden Versammlung; die anderen ließen die Möglichkeit zu (Resolution der Konferenz), dass „der entscheidende Sieg der Revolution über den Zarismus" auch „durch den Beschluss irgendeiner Vertretungskörperschaft", unter dem unmittelbaren revolutionären Druck des Volkes, eine konstituierende Versammlung einzuberufen, „zum Ausdruck kommen kann". Und niemand, nicht einmal die gesamte Redaktion der neuen „Iskra" mitsamt Plechanow, die an der Konferenz teilgenommen hat, ist auf den Gedanken gekommen, den jetzt „die ,Iskra' gezeigt" und der Bund resümiert, festgelegt und mit einem ausgezeichneten Wort getauft hat. Wie alle genialen Entdeckungen hat auch die Theorie der Selbstentstehung der konstituierenden Versammlung plötzlich Licht in das Chaos gebracht. Jetzt ist alles klar geworden. Man braucht nicht mehr an eine provisorische revolutionäre Regierung zu denken (man erinnere sich des bedeutsamen Ausspruchs der „Iskra": Euer Mund soll nicht durch die Verbindung der Worte „es lebe" und „die Regierung" entweiht werden!), man braucht den Mitgliedern der Reichsduma nicht mehr die „revolutionäre Verpflichtung" abzunehmen, „die Reichsduma in eine revolutionäre Versammlung zu verwandeln" (Tscherewanin in Nr. 108 der „Iskra"). Die konstituierende Versammlung kann aus sich selbst auf die Welt kommen!! Das wird ihre makellose Geburt durch das Volk selbst sein, das sich durch keinerlei „Mittlerschaft" einer Regierung, weder einer provisorischen noch einer revolutionären, beschmutzt. Das wird eine „unbefleckte" Geburt auf dem reinen Wege der allgemeinen Wahlen sein, ohne jeden „jakobinischen" Kampf um die Macht, ohne jede Entweihung der heiligen Sache durch den Verrat der bürgerlichen Vertretungskörperschaften, ja sogar ohne die plumpen Hebammen, die in dieser unreinen, sündigen, beschmutzten Welt bisher just in dem Augenblicke die Bühne zu betreten pflegten, wenn die alte Gesellschaft mit einer neuen schwanger ging.3

Es lebe die Selbstentstehung! Mögen alle revolutionären Völker Russlands jetzt die „Möglichkeit" dieser Selbstentstehung und damit auch ihre Notwendigkeit für sie selbst, als den rationellsten, leichtesten und einfachsten Weg zur Freiheit, erkennen! Möge zu Ehren des Bund und der neuen „Iskra", dieser selbst entstandenen Eltern der Theorie der Selbstentstehung, sobald wie möglich ein Denkmal errichtet werden!

Aber so sehr wir auch durch das strahlende Licht der neuen wissenschaftlichen Entdeckung geblendet sind, müssen wir dennoch einige mindere Eigenschaften dieser erhabenen Schöpfung ein wenig berühren. So wie in Hamburg der Mond miserabel gemacht wird, so werden auch in der Redaktion der „Poslednije Iswestija" die neuen Theorien nicht gerade sorgfältig fabriziert. Es gibt ein einfaches Rezept, das von jeher bei jenen Menschen beliebt ist, die niemals auch nur einen einzigen selbständigen Gedanken verbrochen haben: Man nehme entgegengesetzte Ansichten, mische sie und teile die Mischung in zwei Hälften! Vom „Proletarij" nehme man die Kritik der Volkswahlen unter der Herrschaft des Absolutismus, von der „Iskra" die Verurteilung der „entsetzlichen Frage", vom „Proletarij" den aktiven Boykott, von der „Iskra" die Unbrauchbarkeit des Aufstandes als Losung … „wie das Bienchen von jedem Blümchen sein Scherflein holt". Und die guten Bundisten putzen sich selbstzufrieden heraus, freuen sich des Endes des Streits über die entsetzliche Frage und sind von sich selbst entzückt: wie sehr sind sie doch der Enge und Einseitigkeit der Ansichten beider streitenden Parteien überlegen!

Aber es hapert bei euch, ihr Genossen aus dem Bund. Andere „Wege der Selbstentstehung", außer den neu-iskristischen, habt ihr nicht gezeigt. Und was diese anbelangt, habt ihr selbst zugeben müssen, dass die Wahlen von Volksvertretern „unter den Verhältnissen des Absolutismus und gegen den Willen der die ganze Staatsmaschine beherrschenden Regierung" nur lächerliche Wahlen sein können. So verlasst uns doch nicht auf halbem Wege, ihr Schöpfer der neuen Theorie, sagt uns, auf welchem „Wege", außer dem neu-iskristischen, ihr euch die „Selbstentstehung" „denkt"?

Der „Proletarij" schrieb gegen die „Iskra", dass unter dem Absolutismus nur die Oswoboschdjenije-Leute Wahlen durchführen können, die sie gern für Volkswahlen ausgeben werden. Der Bund erwidert:

Dieses Argument hält keiner Kritik stand, da es keinem Zweifel unterliegt, dass der Absolutismus niemandem gestatten wird – auch den Oswoboschdjenije-Leuten nicht –, außerhalb der vom Gesetz festgelegten Grenzen Wahlen vorzunehmen."

Wir bemerken dazu mit aller Ehrerbietung: die Semstwo-Männer, die Stadtvertreter und die Mitglieder der „Verbände" haben Wahlen vorgenommen und nehmen sie noch vor. Das ist Tatsache. Der Beweis liegt auf der Hand: ihre zahlreichen Büros.

Der Bund schreibt:

Eine Agitation gegen die Reichsduma, für den bewaffneten Aufstand lässt sich überhaupt (!) nicht durchführen, da der Aufstand, der nur ein Mittel zur Verwirklichung des politischen Umsturzes ist, in diesem Falle" (und nicht „überhaupt"?) „nicht als Agitationslosung dienen kann. Auf die Reichsduma kann und muss mit der Erweiterung und Vertiefung der politischen Agitation für die konstituierende Versammlung auf der Grundlage der allgemeinen usw. Stimmenabgabe geantwortet werden."

Wir antworten darauf: Erstens, wenn die Bundisten ein wenig nachgedacht oder sich einfach über unser Parteiprogramm informiert hätten, so würden sie gesehen haben, dass auch die Konstituante nur ein „Mittel" ist. Es ist unvernünftig, das eine „Mittel" als für eine Losung geeignet, das andere aber „überhaupt" für untauglich zu erklären. Zweitens, haben wir schon längst und viele Male ausführlich klargelegt, dass die Losung der Konstituante allein gar nichts taugt, denn sie ist zu einer Losung der Oswoboschdjenije-Leute, zu einer Losung der bürgerlichen „Kompromissler" geworden (siehe „Proletarij", Nr. 3 und 4). Durchaus natürlich ist es, wenn die liberale monarchistische Bourgeoisie die Frage nach der Art und Weise der Einberufung der Konstituante in den Schatten rückt. Für Vertreter des revolutionären Proletariats aber ist das absolut unzulässig. Für jene passt die Theorie der Selbstentstehung vollkommen. Diese aber wird sie in den Augen aller klassenbewussten Arbeiter nur kompromittieren.

Das letzte Argument des Bund:

Der bewaffnete Aufstand ist notwendig, man muss sich auf ihn vorbereiten, vorbereiten und nochmals vorbereiten. Aber wir haben einstweilen nicht die Kraft, ihn hervorzurufen, deshalb (!) ist es zwecklos, ihn mit der Reichsduma zu verknüpfen."

Wir erwidern: Erstens, die Notwendigkeit des Aufstandes und seiner Vorbereitung anerkennen und gleichzeitig über die Frage der „Kampfgruppen" (die, wie der Bund schreibt, „dem Arsenal des ,Wperjod' entnommen ist") verächtlich die Nase rümpfen, heißt, sich selbst ohrfeigen und beweisen, dass man das, was man geschrieben, nicht durchdacht hat. Zweitens, die provisorische revolutionäre Regierung ist ein Organ des Aufstandes. Diese in der Resolution des 3. Parteitages direkt ausgesprochene These ist im Grunde auch von der neu-iskristischen Konferenz angenommen worden, wenn auch nach unserer Meinung in weniger glücklicher Fassung (die „aus dem siegreichen Volksaufstande hervorgehende" provisorische revolutionäre Regierung: sowohl die Logik als auch die geschichtliche Erfahrung zeigen, dass provisorische revolutionäre Regierungen als Organe des Aufstandes, des gar nicht siegreichen oder des nicht ganz siegreichen Aufstandes, möglich sind; außerdem „geht" die provisorische revolutionäre Regierung aus dem Aufstande nicht nur „hervor", sondern sie leitet ihn auch). Die Bundisten machen keinen Versuch, diese These anzufechten, sie lässt sich auch nicht anfechten. Die Notwendigkeit des Aufstandes und seiner Vorbereitung anerkennen und gleichzeitig die Einstellung des Streites über die „entsetzliche Frage" der provisorischen Regierung fordern, heißt schreiben ohne zu denken. Drittens, die Phrase von der Bildung der Konstituante „ohne Mitwirkung irgendeiner Regierung, sei es auch der provisorischen", ist eine anarchistische Phrase. Sie entspricht durchaus dem Niveau der berühmten iskristischen Phrase über die „Entweihung" des Mundes durch die Wortverbindung „es lebe" und „die Regierung". Sie beweist, dass man die Bedeutung der revolutionären Regierungsmacht als eines der größten und höchsten „Mittel" zur Durchführung des politischen Umsturzes nicht verstanden hat. Der billige „Liberalismus", mit dem hier der Bund, dem Beispiel der „Iskra" folgend, paradiert (überhaupt keine Regierung, nicht einmal eine provisorische!), ist ein anarchistischer Liberalismus, nichts anderes. Organisierung der Konstituante ohne Mitwirkung des Aufstandes ist ein Gedanke, der nur trivialer Spießer würdig ist, wie auch die Genossen vom Bund sehen. Und ein Aufstand ohne Mitwirkung einer provisorischen revolutionären Regierung kann weder das ganze Volk umfassen noch siegreich sein. Wir müssen also leider immer wieder konstatieren, dass die Bundisten der Sache absolut nicht gewachsen sind. Viertens, wenn man sich auf den Aufstand vorbereiten muss, so gehört zu dieser Vorbereitung notwendigerweise auch die Verbreitung und Erläuterung der Losungen: Bewaffneter Volksaufstand, revolutionäre Armee, provisorische revolutionäre Regierung. Auch müssen wir selbst neue Kampfmethoden, ihre Bedingungen, Formen, Gefahren, ihre praktische Durchführung usw. studieren und die Massen darüber aufklären. Fünftens, die These: „Wir haben einstweilen nicht die Kraft, den Aufstand hervorzurufen", ist falsch. Die Geschichte mit dem „Potemkin" hat vielmehr gezeigt, dass wir nicht die Kraft haben, vorzeitige Ausbrüche des sich vorbereitenden Aufstandes zurückzuhalten. Die Matrosen des „Potemkin" waren weniger vorbereitet als die Matrosen anderer Schiffe, und der Aufstand verlief weniger durchschlagend, als es hätte der Fall sein können. Was folgt daraus? Dass es zur Aufgabe der Vorbereitung eines Aufstandes gehört, den im Stadium der Vorbereitung begriffenen oder fast vorbereiteten Aufstand vor verfrühten Ausbrüchen zu bewahren. Dass der elementar anwachsende Aufstand unsere bewusste und planmäßige Arbeit seiner Vorbereitung überholt. Auch haben wir jetzt nicht die Möglichkeit, zersplitterte, vereinzelte, bald hier, bald dort elementar auftretende Ausbrüche des Aufstandes zu verhindern. Um so mehr sind wir verpflichtet, uns mit der Verbreitung und Aufhellung aller politischen Aufgaben und der politischen Vorbedingungen eines erfolgreichen Aufstandes zu beeilen. Um so weniger klug sind folglich Vorschläge, dem Streit über die „entsetzliche Frage" der provisorischen Regierung ein Ende zu machen. Sechstens: ist der Gedanke richtig, dass „es keinen Zweck hat, den Aufstand mit der Reichsduma zu verknüpfen"? Nein, er ist falsch. Es ist unsinnig, den Augenblick des Aufstandes im Voraus, zumal von hier aus, aus dem Auslande bestimmen zu wollen. Von einer „Verknüpfung" in diesem Sinne ist, wie der „Proletarij" schon oft gesagt hat, nicht einmal die Rede. Aber die Agitation für den Aufstand, seine Propagierung, muss mit allen wichtigen und das Volk erregenden politischen Ereignissen „verknüpft" werden. Der ganze Streit dreht sich bei uns jetzt gerade um die Frage, welche Agitationslosung im Mittelpunkt unserer ganzen agitatorischen „Duma"-Kampagne stehen soll. Ist die Duma ein solches Ereignis? Ja, zweifellos. Werden die Arbeiter und Bauern uns fragen: Wie antwortet man am besten auf die Duma? Ganz gewiss werden sie das tun und sie haben es schon getan. Wie soll man diese Fragen beantworten? Nicht mit dem Hinweis auf die Selbstentstehung (das ist nur was zum Lachen), sondern mit der Aufklärung über die Bedingungen, Formen, Voraussetzungen und Aufgaben der Organe des Aufstandes. Je mehr wir mit solcher Aufklärung erreichen, um so wahrscheinlicher werden sich die unvermeidlichen Ausbrüche des Aufstandes leichter und schneller zu einem erfolgreichen, siegreichen Aufstand entwickeln.

1 Die Antwort, die Lenin in diesem (von ihm nicht gezeichneten, aber bestimmt von ihm stammenden) Artikel den Bundisten erteilte, erschien ihm selbst ungenügend. In dem Entwurf des in dem vorliegenden Bande enthaltenen Artikels „Keine Schwindelei! Unsere Kraft liegt im Aussprechen der Wahrheit!" spricht Lenin von seinem Artikel in Nr. 16 des „Proletarij" (also von dem vorliegenden Artikel): „Der Verfasser hat ihm (dem Bund. D. Red.) nicht genügend geantwortet."

2 Die zitierten Zeilen sind dem Leitartikel der „Pоslednije Iswestija" entnommen: „Die Duma der Konterrevolution."

3 „Die Gewalt ist der Geburtshelfer jeder alten Gesellschaft, die mit einer neuen schwanger geht.“ (Karl Marx, Das Kapital, Band 1)

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